„Wir verlangen unseren Platz an der Sonne“, forderte Staatssekretär Bernhard von Bülow 1897 in seiner Rede im Auswärtigen Amt im Kontext deutscher Kolonialpolitik. Die begann offiziell schon 1884 mit dem „Erwerb“ Deutsch-Südwestafrikas (heutiges Namibia). Auch wenn die deutsche Kolonialgeschichte im Vergleich zu der anderer Imperialmächte mit der erzwungenen Abtretung der „Schutzgebiete“ 1915 früh endete, ist sie nichtsdestotrotz reich an Gewalt, Missbrauch und Massakern – und doch in der heutigen Öffentlichkeit wenig präsent.
Unter dem Arbeitstitel Ein Platz an der Sonne firmierte auch der neue Historienfilm von Regisseur Lars Kraume, der jetzt als Der vermessene Mensch in den Kinos startet. Erzählt wird
s startet. Erzählt wird die Geschichte aus Sicht des fiktiven Alexander Hoffmann (Leonard Scheicher), der Ende des 19. Jahrhunderts in Berlin im Fach Ethnologie promoviert. Die Physiognomik als Methode der „Rassentheorie“ ist da gerade en vogue. Schädel werden vermessen und Gehirngrößen verglichen, um die vermeintliche Überlegenheit des weißen „Herrenvolkes“ datenbasiert zu belegen. Was heute als pseudowissenschaftliche Grundlage von Rassismus gilt, war damals State of the Art in der Wissenschaft.Der junge Doktorand aber zweifelt die daraus gefolgerte Minderwertigkeit aller nicht-weißen Menschen an. Erst recht, nachdem er bei der Deutschen Kolonialausstellung 1894 eine Delegation der Herero und Nama in Berlin trifft. Besonders die Begegnung mit der eloquenten und intelligenten Kezia Kunouje Kambazembi (Girley Charlene Jazama), die als Dolmetscherin mitgereist ist, bestätigt ihn. Rund zehn Jahre später zieht es Hoffmann selbst nach Deutsch-Südwestafrika. Im Schutz der kaiserlichen Truppen, mit dem Vorsatz, die Bevölkerung vor Ort zu erforschen, seine Theorie zu beweisen, und dem heimlichen Wunsch, Kenouje wiederzusehen, erlebt er die Niederschlagung der Aufstände von Herero und Nama mit. Anfangs noch schockiert, gewöhnt er sich allmählich an die Gräuel des Krieges, sammelt brav Kunstgegenstände ein, die die vertriebenen und ermordeten Menschen zurücklassen mussten, und schreckt irgendwann auch nicht mehr davor zurück, Leichen zu schänden. Schließlich stellt ihm sein Professor für das Einsammeln der in Europa so begehrten Schädel eine Stelle als Dozent in Aussicht.Lars Kraume hat schon früher sensibles Geschick für historische Stoffe bewiesen. Ob Der Staat gegen Fritz Bauer oder Das schweigende Klassenzimmer, es gelingt ihm, Historie als spannende Geschichte zu erzählen. Das ist auch bei Der vermessene Mensch nicht anders.Kraume widersteht glücklicherweise der Versuchung, Hoffmann als „White Savior“ zu inszenieren oder eine Liebesgeschichte zu konstruieren. Immer tiefer zieht er seinen Protagonisten und die Zuschauenden stattdessen in den Genozid, den das deutsche Kaiserreich zu Beginn des 20. Jahrhunderts durchführt. Der reale Vernichtungsbefehl von Generalleutnant Lothar von Trotha ordnete 1904 an, auch Unbewaffnete, Frauen und Kinder zu erschießen oder in die Wüste zu treiben, um sie dort verdursten zu lassen. Zwangsarbeit, Hinrichtungen, die Ermordung von Frauen, Müttern und Kindern werden auch im Film in unerträglichen Szenen schonungslos gezeigt. Beaufsichtigt und durchgeführt von mitleidslosen Deutschen, die sich qua ihrer vermeintlich zivilisatorischen Überlegenheit im Recht sehen.Ein Erinnern mit RespektDie Verbrechen der Deutschen in Afrika, der Völkermord an den Herero und Nama oder auch der wenig bekannte Maji-Maji-Krieg im damaligen Deutsch-Ostafrika (1905 – 07) sind erst in den letzten Jahren in die Öffentlichkeit gerückt. Rückgabeforderungen widerrechtlich angeeigneter Kunstobjekte (wie der Benin-Bronzen) oder noch immer in den Kellern der Museen lagernde menschliche Überreste haben dazu beigetragen. Bis zu einer respektvollen Erinnerungskultur oder einem Aussöhnungsabkommen, das den Namen verdient, scheint es aber noch ein weiter Weg zu sein.Außerdem bleiben die Debatten meist auf Kreise wie das Feuilleton und den akademischen Betrieb beschränkt. Geschichtswissenschaftliche Monografien vermögen selten, die breite Masse zu erreichen. Der vermessene Mensch ist der erste deutsche Spielfilm, der sich der Thematik widmet, und leistet so einen wichtigen Beitrag zu dieser Debatte. Es ist und bleibt aber auch ein Film aus Sicht der Täter, zu dem auch Hoffmann wird. Und als handlungstreibende Figur identifizieren wir uns zwangsläufig mit ihm. Kunouje und alle anderen Herero und Nama erhalten keine Stimme. Sie bleiben Opfer, die der Übermacht an Soldaten, Waffen und Grausamkeit nichts entgegensetzen können. Das Dilemma, solche Verbrechen zu zeigen und somit sichtbar zu machen, diese Gewalt dabei aber auch zu reproduzieren und die Betroffenen erneut in ihrem Schmerz auszustellen, löst auch Kraume nicht.Eingebetteter MedieninhaltVieles macht er dennoch richtig. Nach der Weltpremiere auf der Berlinale ist der Regisseur mit seinen Hauptdarsteller*innen Girley Charlene Jazama (die selbst aus Namibia stammt und den Herero angehört) und Leonard Scheicher für eine Kinotour durch Namibia gereist. Der vermessene Mensch wurde an sechs ausgewählten Orten auf traditionellen Gebieten der Ovaherero gezeigt, die Vorführungen und Diskussionen von einer namibischen Psychologin begleitet. Am 14. März folgte ein Screening im Deutschen Bundestag auf Einladung der Grünen Fraktion. Kraume betonte bei der Gelegenheit auf Kritik an der von ihm gewählten Erzählperspektive hin, es sei nicht seine Aufgabe, die Geschichte der Opfer zu erzählen, das wäre kulturelle Aneignung.Andererseits: Ist es die Aufgabe der Betroffenen, die Wunden der eigenen Geschichte aufzureißen, damit die deutsche weiße Mehrheitsgesellschaft ihre Wissenslücken schließt? BPoC stehen nicht in der Pflicht, Rassismus zu erklären oder dafür zu sensibilisieren. Sie tun es meist nur, weil sich niemand sonst verantwortlich fühlt. Daher ein Vorschlag an das deutsche Filmfördersystem: Wie wäre es, eine ausreichend große Summe in die Hände namibischer Filmschaffender zu geben, die damit dann die Geschichten erzählen, die sie immer schon erzählen wollten?Placeholder infobox-1