Am 17. Dezember 2012 wurde Maureen Kearney, Generalsekretärin der Gewerkschaft des großen französischen Nuklearkonzerns Areva, von einem Unbekannten in ihrer Wohnung in Versailles überfallen. Der Angreifer stülpte ihr eine schwarze Mütze über, flüsterte ihr zu, das sei die letzte Warnung und ritzte ihr mit einem Messer ein „A“ auf den Bauch. Danach presste er den Griff des Messers in ihre Vagina und ließ sie an einen Stuhl gefesselt zurück. Erst Stunden später wurde sie in dieser Position von ihrer Putzfrau gefunden und befreit.
Der Fall sorgte in Frankreich für Schlagzeilen. Zum einen, weil Kearney zuvor als Whistlerblowerin viel Wirbel verursacht und mächtige Geschäftsmänner verärgert hatte. Zum an
te. Zum anderen wurde sie nach erfolglosen Ermittlungen im Frühjahr 2013 verdächtigt, den Überfall selbst inszeniert zu haben, um Aufmerksamkeit zu erregen. In einem Prozess wurde sie 2017 deswegen sogar zu einer Geld- und Bewährungsstrafe wegen Vortäuschung einer Straftat verurteilt, 2018 aber dann juristisch rehabilitiert.Mit diesem Überfall beginnt auch Jean-Paul Salomés Die Gewerkschafterin. Der Überfall selbst wird zunächst nicht gezeigt. Wir hören nur Maureens Schilderungen der Tat. Als wir sie das erste Mal sehen, sitzt sie traumatisiert auf der Bettkante. Eine zierliche, zart wirkende Person die zu begreifen versucht, was ihr widerfahren ist.So zierlich wie unerbittlichDanach springt die Handlung zurück in das Jahr 2011. Wir lernen Maureen (Isabelle Huppert) als starke, unbeirrbare Frau kennen. Sie blufft beim Kartenspiel, verhandelt knallhart mit Firmenbossen, behauptet sich in dem männlich dominierten Umfeld. Sie ist gerade in eine sechste Amtszeit gewählt worden und genießt das Vertrauen sowohl der Areva-Chefin Anne Lauvergeon als auch der 50.000 Arbeitnehmer*innen, deren Interessen sie konsequent und kämpferisch vertritt. Als Luc Oursel Lauvergeon ablöst, wird es schwierig für Maureen. Durch einen Whistleblower erhält sie den Hinweis, dass Oursel plant, französische Nuklearexpertise hinter dem Rücken der Regierung an eine chinesische Firma zu verkaufen. Sie ahnt, dass dieser Transfer von Tech-Know-How tausende französische Arbeitsplätze gefährdet und wird selbst zur Whistleblowerin.Die erste Hälfte des Films ist wie ein klassischer Politthriller inszeniert. In rasantem Tempo treibt uns Salomé durch die komplexen Hintergründe, was es schwierig macht, sie im Detail zu verstehen. Das patriarchale Klima, in dem sich Maureen zwischen lauter misogynen Schlipsträgern behaupten muss, wird en passant vermittelt. Auch die heikle Lage, in der sich Frankreichs Atomwirtschaft im Jahr der Katastrophe von Fukushima befindet oder die Kostenexplosion eines neuen Reaktors in Finnland, helfen in ihrer vagen Andeutung nicht dabei, die Gemengelage besser zu durchdringen. Atmosphärisch funktioniert das aber durchaus. Je mehr Aufmerksamkeit Maureen erregt, desto unruhiger und wütender werden ihre Gegenspieler. Wird sie verfolgt? Lässt sie jemand abhören? Wer ruft ständig an und legt wieder auf? Inwiefern ist ihre ehemalige Chefin Lauvergeon involviert? Wieviel weiß Oursel? Salomé inszeniert das wachsende Bedrohungsszenario und lässt auch Raum für die Vermutung, Maureen könnte übertreiben und in ihrer Obsession paranoid geworden sein.Als die Narration wieder beim Überfall auf Maureen angelangt ist, stoppt dieses Tempo abrupt und die politische Affäre rückt in den Hintergrund. Denn schon bald wird Maureen – initiiert durch den ermittelnden Kommissar, dessen Motive unverständlich bleiben – verdächtigt, den Überfall selbst inszeniert zu haben. Statt nun zu einem nicht minder spannenden Justizdrama zu werden, biegt Die Gewerkschafterin von da an in eine völlig andere Richtung ab und gerät gemeinsam mit der Protagonistin in eine Art Schockstarre.Eingebetteter MedieninhaltMaureen kämpft nicht mehr für die Offenlegung von Oursels Absichten, die später Realität werden. Sie zieht sich komplett zurück und fortan geht es nur noch um die Mechanismen, mit denen Opfer sexualisierter Gewalt eingeschüchtert und gedemütigt werden. Beispielweise wenn der Arzt Maureen erneut einbestellt um zu testen, ob es einer anderen Person überhaupt praktisch möglich gewesen sei, ihr im Sitzen einen Messergriff einzuführen, ist das unerträglich demütigend.Es gibt keine perfekten OpferAuch die Art, wie der Kommissar Maureens Mann gegen sie auszuspielen versucht und sie unter Druck setzt, bis sie ihre ursprüngliche Aussage widerruft, ist bedrückend. Aber die Tatsache, dass es eben keine perfekten Opfer gibt, haben schon unzählige Folgen der US-Serie Law & Order: Special Victims Unit durchexerziert. Die Gewerkschafterin schildert diese typische Täter-Opfer-Umkehr zwar realistisch und wird dem Fall Maureen Kearney dadurch vermutlich gerechter als ein aus dramaturgischen Gründen emotionalisiertes Drama. Dem narrativen Rhythmus schadet dieser abrupte Themen- und Genrewechsel aber immens. Zudem widersteht Salomé der Versuchung nicht, fiktive Elemente wie den plötzlichen Tod von Maureens Informant erneut aufzugreifen. Was es mit dessen plötzlichem Tod oder den Intentionen Lauvergeons auf sich haben könnte, verliert sich in vielen losen Enden.Ohne die makellose Leistung von Isabelle Huppert würde der Film in zwei Hälften zerfallen, die nicht zueinander finden wollen. Gekonnt schlüpft sie in die Rolle der zarten wie unerbittlichen Gewerkschafterin wie in ein maßgeschneidertes Businesskostüm. Mit Schlagfertigkeit, Contenance und Würde spielt und schlägt sie sich erhobenen Hauptes durch den Film und bewirkt, dass wir uns bis zum Ende für ihr Schicksal interessieren. Kearney wurde 2018 freigesprochen. Wer sie 2012 überfiel, ist allerdings bis heute ungeklärt.Placeholder infobox-1