Abgründe männlicher Sexualität: Auch nette Kerle haben Klischees verinnerlicht

Film Mit reduzierten dokumentarischen Mitteln lotet Jonas Rothlaender in „Das starke Geschlecht“ Abgründe und Überraschungen männlicher Sexualität aus
Ausgabe 21/2022

Der Mann sitzt vor einem schwarzen Hintergrund. Die Kamera ist direkt auf ihn gerichtet, er befindet sich im Zentrum des Bildes. Das weiche Porträtlicht schmeichelt seinen Gesichtszügen, nichts an seiner Mimik bleibt uns verborgen. Er hält inne, blickt in die Kamera und sagt dann: „Du kannst einer Frau so viele Rosen schenken, wie du willst. Aber wenn du sie nicht richtig fickst, dann wird das nix.“ Formal wie inhaltlich ist Jonas Rothlaenders Dokumentarfilm Das starke Geschlecht damit umrissen: Neun Männer, die der Regisseur über die sozialen Medien oder bei Straßencastings gefunden hat, sitzen vor der Kamera und reden über Sex. Der Regisseur als Interviewer bleibt dabei unsichtbar, hakt nur vereinzelt sanft nach. Die Spannung generiert sich allein aus dem, was die „talking heads“ erzählen. Erstaunlich offen und ehrlich – fast wie in einem cineastischen Beichtstuhl – berichten sie von ihrer Sexualität und allem, was damit zusammenhängt: der Druck, im Bett perfekt performen zu müssen, der Wunsch, Frauen zu befriedigen, und die Angst, dabei zu versagen. Es geht aber auch um männliche Vorbilder, Scham und die Sehnsucht danach, sich völlig fallen lassen zu können.

Was Männlichkeit bedeutet, treibt Rothlaender schon länger um. In seinem ersten langen Dokumentarfilm Familie haben stand 2015 mit seinem eigenen Großvater ein Patriarch im Mittelpunkt, der durch einen völligen Mangel an Empathie und Einsicht in die eigenen Fehler die Familie zerstört. Im Spielfilmdebüt Fado, für den er 2016 beim Max-Ophüls-Festival mit dem Preis für die beste Regie ausgezeichnet wurde, zerstört die Eifersucht eines Mannes die Beziehung. Für Das starke Geschlecht war sein Ausgangspunkt, dass fast jede Frau, die er kennt, sexuelle Belästigung oder gar sexualisierte Gewalt erlebt hat. Daraus folgt: Es muss ebenso viele Täter geben, die tagtäglich übergriffig, wenn auch nicht immer strafrechtlich relevant handeln.

Die im Film vorgetragenen Geschichten von sexuellen Grenzüberschreitungen sind schwer verdaulich, die vorangestellte Triggerwarnung ist ernst zu nehmen. Zum Beispiel sitzt da ein Typ, der seine aggressive Seite fürchtet, aber im Nebensatz behauptet, beim Sex gern mal ein „Nein“ der Frau zu ignorieren – weil er zu wissen glaubt, sie wolle es doch so.

Zugleich wirken einige der Interviewten überfordert von den vermeintlichen Erwartungen der Frauen, zerreiben sich bis zur Verbitterung zwischen den Rollen des heißblütigen Lovers und des einfühlsamen Partners. Rothlaender führt keinen seiner Protagonisten vor, führt uns aber erschreckend vor Augen: Hier sitzen keine Incels oder Maskulinisten oder anderen Frauenhasser. Es sind nette Kerle, die ihr Verhalten durchaus reflektieren. Klischees von Frauen, die es mit Dauer-Erektionen und großen Penissen besorgt bekommen wollen, haben sie trotzdem tief verinnerlicht.

Insgesamt dominiert dieser Schlag Mann den Film – heterosexuell, fast ausnahmslos weiß, zwischen 30 und 40 Jahre alt und eher Single. Mehr Diversität hätte nicht geschadet, denn es sind die davon abweichenden Momente, in denen Das starke Geschlecht überrascht und berührt. Etwa wenn die Sehnsucht nach sexueller Erfüllung auf Augenhöhe oder der Wunsch, sich gegenüber Frauen nicht verstellen zu müssen, artikuliert wird. Hier zeigt sich, wie verunsichert und verletzlich viele der Männer sind und wie schwer es ihnen fällt, sich von gesellschaftlichen Zwängen zu emanzipieren. Die Suche nach einer Identität jenseits der Gendernormen diskutiert die Frauenbewegung seit Jahrzehnten, die Männer stehen hier noch am Anfang. Die Reflexion der eigenen Sexualität, für die Rothlaender eine spannende Diskussionsgrundlage liefert, kann dabei nur ein Auftakt sein. Sie ist ein Aspekt dessen, was es heißt, Väter, Freunde und Partner zu sein, die ihren Platz im Leben suchen.

Info

Das starke Geschlecht Jonas Rothlaender Deutschland 2021, 103 Minuten

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