Fernweh Norbert Leisegang, Sänger von Keimzeit, schreibt seit 30 Jahren Songs über das Wegfahren. Bis 1989 konnte er oft nur imaginär reisen. Das änderte er dann.
Ich starrte schon im Erdkunde-Unterricht auf die große Weltkarte und malte mir aus, wie es wohl wäre, einmal nach Patagonien zu reisen. Bei Freunden guckte ich immer auf den Globus. Da kam ein großes Fernweh auf. Songs entstehen ja oft aus Defiziten, dem, was man nicht darf. Weil es in der Realität unmöglich war, reiste ich eben in Gedanken nach Feuerland oder Singapur.
Tat es wirklich weh, nicht in den Westen zu können?
Ob es schmerzhaft war? Ich war wütend! Darüber, dass man mir als jungem Menschen diese Wege verbot, dass ich aus den Grenzen des östlichen Europa nicht herauskam. Das hat mich ziemlich genervt.
Ja. Ich bin durch Rumänien, Ungarn und Bulgarien ge
es östlichen Europa nicht herauskam. Das hat mich ziemlich genervt.Ja. Ich bin durch Rumänien, Ungarn und Bulgarien getrampt – mit Rucksack und der Gitarre bewaffnet. Ich habe den Balkan bereist, kam sogar bis zur türkischen Grenze. Meist bin ich mit dem Zug nach Prag oder Budapest gefahren und war dann als Anhalter unterwegs. Ich habe viele Osteuropäer getroffen, die so wie ich den Daumen in die Luft gehalten haben.Was trieb Sie in die Fremde?Diese Reisen waren der einzige Weg, von meinem Dorf Lütte in Brandenburg wegzukommen, mich frei zu bewegen. Es hat mir immer gut getan, mich von meiner Heimat zu entfernen, einfach loszufahren. Da bekommt man einen anderen Blick auf sich selber, streift durch verschiedene Länder und Kulturen. Diese Reisen haben meine Haltung zum Leben sehr stark geprägt.Inwiefern?Ich erinnere mich daran, wie ich Mitte der 80er Jahre an dieser Grenze zwischen Ungarn und Rumänien stand. Ich war an dem Tag gerade mal 20 Kilometer voran gekommen. Auf einmal fuhr mir ein Truck entgegen. Die haben einen sonst nie mitgenommen, aber der hielt an. Vorne saß ein Pärchen, hinten im Container hockten 16 weitere Tramper: Slowaken, Tschechen, Ostdeutsche. Ich stieg ein, und es ging dann quer durch Rumänien. Der Fahrer war Ungar, der in München gearbeitet hat. Er lud uns ein, im Truck zu übernachten. Dann hat die rumänische Miliz Lunte gerochen: ‚Tramper raus.‘ Aber unser Fahrer hat sich für uns eingesetzt. ‚Die bleiben bis zur bulgarischen Grenze‘, sagte er. Der Polizist telefonierte herum, und nach ein paar Stunden kam die Erlaubnis. Wir waren ein Team geworden, und ich dachte: ‚Wenn ich irgendwann auch die Chance habe, Leuten zu helfen, tue ich das.‘Nach der Wende konnten Sie dann überall hin.Ich war in Brasilien, San Francisco und in New York – bei den dort im Exil lebenden Russen.Bei den Russen?Ich hatte so vieles über diese russisch-jüdisch-amerikanische Welt gehört. Man braucht nur nach Brighton Beach fahren und dort am Strand sitzen, mit Leuten reden oder Volleyball spielen: schon ist man drin in dieser Community, in der ich mich sofort heimisch fühlte. Immerhin hatte ich jahrelang Russisch gelernt.Sie suchen in der Fremde das Vertraute?Ich treffe im Ausland auch gern Deutsche: Ich bin mal über mehrere Wochen mit einer Hippie-Bus-Gesellschaft durch Kalifornien gereist. Da waren immer ein paar Deutsche dabei. Ich fühlte mich mit ihnen verbunden. Ich brauche jeden Tag ein paar deutsche Worte.Andere wollen sich auf Reisen neu erfinden. Als ich um die Dreißig war, wollte ich das auch. Was habe ich mir für Mühe gegeben, den amerikanischen Slang zu sprechen. Aber die Amis sagten immer nur: ‚Du kommst aus Deutschland, oder?‘ So ging es mir einfach überall, und ich musste einsehen: Die meisten Menschen auf der Welt nehmen mich als Deutschen wahr. Warum soll ich mich gegen meine Identität wehren?Haben Sie auch mal länger als ein paar Wochen woanders gelebt?Ich war mal ein halbes Jahr in Frankreich, in der Nähe von Lyon, in einem herrlichen Weingebiet. Meine Freundin hat dort ein Praktikum absolviert, und ich habe in der Zeit den Haushalt geführt.Wie sind Sie mit den Franzosen klar gekommen?Mein Bild von ihnen war wohl ziemlich rosa: die Chansons, der Eiffelturm. Aber dort auf dem Land spürte ich auch den alltäglichen Rassismus und die Abgrenzung. Da bekommt man als Deutscher leicht mal die Tür gewiesen. Das ist bei uns aber kaum anders, auch wir Deutsche tun uns schwer damit, uns entgegen zu kommen.Wo erleben Sie das?Ich lerne auf unseren Tourneen verschiedene Regionen und sehr unterschiedliche deutsche Stimmungen kennen, sei es nun in Eisenhüttenstadt oder in Franken. Gewisse Vorurteile gibt es überall: Wenn ich in Osnabrück schwärme, wie schön es in Schwerin ist oder Chemnitz, dann zuckt man dort mit den Schultern. Manche wissen überhaupt nicht, dass es diese Städte überhaupt gibt.Wie ist der Gemütszustand der Brandenburger, ihrer Nachbarn?Die großen Lücken klaffen nicht zwischen Ost und West, sondern zwischen Stadt und Provinz. In den kleineren brandenburgischen Gegenden beobachte ich einen zunehmenden Kulturmangel – sei es an Theater oder Musik. Die Menschen hungern danach. Wenn wir auf einem Marktplatz einen Gassenhauer wie „Betrunken“ loslassen, gehen die Tassen hoch. In Großstädten wie Nürnberg oder Leipzig rümpft man dabei die Nase. Dort wünscht man sich ein anspruchsvolles Konzert.Keimzeit wollte nie eine Ostband sein. Warum?Wir sind eine Brandenburger Truppe. Aber wir haben seit 20 Jahren auch im Westen, in Stuttgart, Hamburg oder München treue Fans. Unser Publikum ist da längst weiter als manche deutsche Debatte, in der man immer das Trennende sucht. Wenn wir in der Schweiz spielen, möchte hinterher niemand etwas vom Osten wissen, sondern sich über die Songs und das Leben austauschen. Reden wir vom Meer.Mich zieht es immer wieder an die Küsten. Ich suche die Insel Hiddensee oder Usedom, mit der Ostsee verbinden mich viele Kindheitserinnerungen. Aber auch, wenn ich am Atlantik oder am Pazifik sitze, fühle ich mich ganz ruhig. Ich schaue dann stundenlang auf das Meer und suche die Einsamkeit.Reisen Sie noch mit Schlafsack? In diesem Sommer musste ich ein bisschen über mich grinsen. Ich habe mir im Internet einen Flug nach Sofia gebucht und ein Hotelzimmer über eine Online-Plattform. Es war die gleiche Strecke und das gleiche Ziel wie früher, doch statt mit Schlafsack reise ich nun mit Rollkoffer. Aber nicht nur ich, auch Bulgarien hat sich sehr verändert. Kaum ein Jugendlicher trampt dort noch.Man kommt auf andere Weise schneller von Ort zu Ort.Man kann sich leicht täuschen: Zwar dauert so ein Flug weniger als zwei Stunden. Aber die Seele braucht länger, um irgendwo anzukommen. Wenn sie gerade heimisch wird, ist man meist schon wieder weg.Wann bekommen Sie Heimweh?Heimweh? Für mich ist das eher ein abstraktes Wort. Ich empfinde es emotional nicht so stark wie Fernweh. Denn ich weiß, dass ich nach ein paar Wochen zurückkehren werde. Etwas anderes wäre es, ins Exil zu gehen und den Rest des Lebens in Brasilien zu verbringen. Aber je mehr ich reise, und je älter ich werde, umso deutlicher spüre ich, was ich an Deutschland habe.Ach. Und das wäre?Einen großen Komfort und Menschen, die emotional meine Sprache sprechen. Natürlich haben unsere Hamburger Kollegen andere Kindheitshelden oder Jugendidole. Wir verstehen uns manchmal nicht, aber wir schätzen uns und sind neugierig, was der andere erlebt hat. Als ich 1998 mit meinem Brandenburger Dialekt dorthin ins Studio kam, merkte ich, die Hamburger finden das ganz drollig, aber sie reden alle Hochdeutsch. Also lernte ich das auch. In meiner Brandenburger Dorfkneipe gucken die mich dann irritiert an und sagen: ‚Wat willste mir denn jetzt erzählen, Freundchen?‘Ist Ihr Fernweh heute verschwunden? Es ist nicht mehr so existenziell. Nur die Sehnsucht ist noch da: Ich möchte endlich nach Patagonien reisen. Auch wenn es dann nicht so ist wie in meinen Träumen.Das Gespräch führte Maxi Leinkauf
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