Oliver Kluck kommt in die Kantine des Deutschen Theaters geeilt. Er trägt eine elegante Stoffhose, Mantel, Schal. Nur der abgeranzte Stoffbeutel in seiner Hand passt nicht ganz dazu. Die Kantine ist voll, Kluck sucht einen anderen Raum. Er hastet eine Hintertreppe hoch, klopft an die Intendanten-Tür. Die Bibliothek sei frei, heißt es. Ein großer, eleganter Salon. Kluck wirkt darin noch schmaler als sonst.
Der Freitag: Herr Kluck, Sie erzählen in dem Stück
Oliver Kluck:
Ja, und da sind wir schnell in der Welt des männlichen Elends – der Einsamkeit der Männer in der westlichen Kultur. In Berlin-Neukölln stehen die türkischen Männer etwa in Gruppen zusammen. Das erweckt den Eindruck, sie würden nur herumlungern. Bei genauerem Hinsehen aber stellt sich raus: Sie haben eine direktere Art der Kommunikation. Miteinander herum stehen und reden – das geht für den Mann der westlichen Welt gar nicht mehr.
Er hat das verlernt?
Er schreibt lieber Mails, telefoniert statt sich zu treffen. Zugleich sind viele mit ihrer Firma verheiratet. Unternehmen suggerieren ihren Mitarbeitern gern, sie seien eine Familie. Man geht zusammen bowlen oder klettern. Es gibt die Playstation in der Firma – als sei man dort zuhause.
Der private Raum soll verwischt werden.
Der Mensch ist ein Teil des Unternehmens, wie ein Betriebsgegenstand. Der private Raum, die Single-Wohnung, ist dann nur noch die Ladestation für den Werktag.
Mich interessieren die Folgen dieser Beschreibung. Der angestellte Ingenieur in meinem Text pendelt jeden Morgen, stundenlang. Die Firma tut ihm nicht gut, er wird dort wie ein Idiot behandelt. Einmal teilt der Chef ihm mit, dass er nach Rumänien versetzt wird. Er fragt ihn nicht, ob er Familie habe oder andere Bindungen. Da gibt es kein Gespräch mehr, keinen Austausch, nur die Ansage: ‚Wir brauchen dich dort.‘ Meine Ingenieurfigur verkörpert dabei die totale Anti-Revolte, er ist ein Gewohnheitsopportunist.
Fast jeder passt sich an, das ist doch menschlich.
Hauen Sie nie mit der Faust auf den Tisch?
Eher selten. Und Sie?
Gelegentlich. Ein Ereignis aus meiner Jugend war da prägend. Ich war durch den Wendestrudel in eine unmögliche Schulklasse gekommen, in eine Realschule, in der das Faustrecht herrschte und in der man sich wehren musste.
Sie waren ein Außenseiter?
Ich war neugierig, wollte Zusammenhänge verstehen. Die Mitschüler haben dagegen schon mal in der Freistunde ein Auto geklaut. Ich saß ganz vorne, in der Verliererbank, wo die anderen mir von hinten in den Nacken schlagen konnten. Mein einziges Ziel hieß: überleben. Aber einmal habe ich einen Stuhl geworfen, da hat man mich eine Weile in Ruhe gelassen.
Danach ging es weiter?
Ja, und seitdem kann ich Amokläufer verstehen. Sie möchten ihr Umfeld zur Rechenschaft ziehen, nur leider erreichen sie selten die tatsächlichen Verursacher ihrer Misere, also jene, die immer nur über Schulsozialarbeiter reden, statt welche einzustellen. Wenn man – wie ich – aus der Unterschicht kommt, kriegt man die Folgen dessen ungefiltert ab.
Wie hat Sie dieses Milieu geprägt?
Es gab von Anfang an den Druck, Geld zu verdienen. Meine Eltern haben akademische Bildung nicht besonders gefördert. Selber im Joch der gewöhnlichen Erwerbsarbeit eingespannt, war sich meine Familie nicht zu blöde, mir genau dieses als einzigen Weg in Aussicht zu stellen. Nach der 10. Klasse machte ich eine Berufsausbildung zum Wasserbauwerker, die ich durchgestanden habe, ohne irgendeine Perspektive zu erkennen. Ein Meisterbrief kam nicht in Betracht für jemanden mit zwei linken Händen. Mitgesoffen habe ich bei den Kollegen nicht, fing stattdessen an, Bücher zu lesen und Klarinette zu spielen. Das war für die Kollegen schwer nachzuvollziehbar.
Das klingt selbstmitleidig.
Ich klage nicht, ich beschreibe nur. Dort, wo ich herkomme, aus dem hoffnungslosen Mecklenburg-Vorpommern, ist die Werftindustrie fast der einzige industrielle Produktionszweig. Mittlerweile sollen die Werftarbeiter dort sogar einen Monat im Jahr ohne Bezahlung arbeiten, um sich ‚gegen koreanische Werften behaupten zu können‘. Das ist doch irre, besonders in einem System, in dem die Entlohnung angeblich den geleisteten Aufwand widerspiegeln soll
Sie haben mal geschrieben, Sie hätten sich vom Geld als Maßstab für Leistung verabschiedet.
Eine meiner Figuren sagt das.
In dem Text
Die meisten urbanen jungen Leute leben heute vom Dispokredit. Ich auch. Das Einkommen ist ein gesellschaftlicher Maßstab, der einfach nicht funktioniert. Wenn man in unserem Kulturkreis jemanden kennenlernt, ist aber die erste Frage oft die nach der Profession. Man möchte herausfinden, ob der andere finanziell einigermaßen abgesichert ist.
Der Kontostand als Maßstab.
Ja, ein Jurist oder BWLer gilt als abgesichert, ein Kulturwissenschaftler als Wackelkandidat. Dabei spiegelt sich beim Geld nur bedingt wider, welche Leistung man für etwas aufgewendet hat. Wenn aber immer versprochen wird, dass man für Fleiß und harte Arbeit angemessen bezahlt wird, dann erwarte ich auch, dass das geschieht.
Spielen bei diesen Überlegungen Ihre Erfahrungen aus der Kindheit eine Rolle?
Meine Mutter hat jahrelang für 600 Euro netto Vollzeit als Angestellte an einer Tankstelle gearbeitet, an Wochenenden, nachts und feiertags. Sie können sich vorstellen, was das für das Familienleben bedeutet hat und aus welcher Sicht ich die Debatte um fünf Euro mehr oder weniger Hartz IV erlebe.
Sie zeigen in Ihren Texten, wie uns der Alltag mit zu viel Freiheit überfordert. Zugleich ziehen Sie selbst Freiheit der Sicherheit vor.
Freiheit bedingt Verantwortung. Ich bin gern für mich selber verantwortlich, stehe für meine Belange ein, statt deren Vertretung an irgendeine abstrakte, intransparente Institution zu deligieren.
Die Forderung, beim Theater einem festen Ensemble anzugehören, finden Sie etwa vollkommen lächerlich. Sind Sie der Neoliberale unter den Dramatikern?
Ich bin weder liberal noch alternativ noch konservativ. Als freier Autor bin ich schwerer erpressbar und kann Dinge aussprechen, die jemand, der sein Büro zu teilen hat, vielleicht nicht aussprechen kann. Ich kann einen Brief an den Intendanten schreiben und diesen als Kopie an den Rest des Hauses schicken, ohne dass ich dafür vorgeladen werden kann.
Was verbindet die Generation der heute 30-Jährigen außer ihren unsicheren Verhältnissen?
Man erzählt jungen Menschen, die frisch von der Uni kommen: ‚Wir haben gerade knapp eine Wirtschaftskrise überlebt. Wir können Sie einstellen, aber wir müssen weniger bezahlen als vorher. Das sehen Sie doch ein?‘ Unsere Ordnung versucht die Menschen zu verunsichern, anstatt sie stark zu machen. Dazu kommt ein Umfeld, das geprägt ist von hermetischen Systemen. Man kann sich gegen viele Schweinereien des alltäglichen Lebens überhaupt nicht mehr wehren. Bei der Bahn wird man als Fahrgast etwa behandelt wie ein Idiot.
Ach bitte, das ist doch wohlfeil. Jeder schimpft auf die Bahn.
Sie wollen mir doch nicht erzählen, dass Sie gerne frieren oder irgendwo im Niemandsland ausgesetzt werden wollen? Mit Menschen in der 1. Klasse wird auch anders kommuniziert als mit denen in der 2. Klasse – und das in einer Gesellschaft, in der angeblich alle gleich sind. Bahnchef Grube ruft bei Vater Klum an, um eine Beschwerde persönlich zu klären, so nachzulesen im Bahnjournal. Komisch, bei mir ruft der nie an.
Sie haben früher Beschwerdebriefe geschrieben – während der Armeezeit, während des Studiums.
Das mache ich immer noch. Mittlerweile entwickeln die Briefe sich aber oft zu Essays, die für meine Arbeit ganz nützlich sind.
Schreiben Sie die noch mit Hand?
Nein, als Einschreiben, auf dem Rechner getippt. Ich kämpfe etwa immer noch um mein Ingenieursdiplom. Ich habe Prüfungen geschrieben, nachweisbar eine Leistung erbracht, die nicht anerkannt wird, was die Hochschule nicht begründen möchte. Sie behauptet sogar, sie müsste mir das nicht erklären. Das hat doch etwas Gottgleiches. Bleibt nur noch der Gang vor das Verwaltungsgericht.
So harmlos sieht der Protest des Künstlers aus?
Ich möchte denen ungern meinen nackten Arsch zeigen – und was die Protestkultur angeht: Es sind immer nur wenige, die mehr tun als mitlaufen und zuschauen. 1967 waren es ein paar wenige, bei der Wende war es nicht anders. Heute können Studenten von mir aus gern die Hörsäle besetzen, bis sie von selber anfangen, von Doppelhaushälften zu träumen. Viel interessanter fände ich es aber, wenn sie denen, die ihnen nicht zuhören wollen, zumindest einigen Aufwand verursachen, vielleicht auf universitätseigenen Druckern zahllose Anträge ausfüllen: Anträge auf Arbeitslosengeld, Anträge auf Wohngeld, Anträge auf Eintrag im Kataster, solange, bis die letzte Behörde lahm liegt.
Durch eine Flut von Anträgen?
Ja, und es darf nicht erkennbar sein, ob dahinter eine reale oder eine fiktive Figur steckt.
Dummerweise kann man – etwa durch eine infantile Inszenierung – aus jedem noch so ernst gemeinten Text eine Lächerlichkeit basteln. An Unterhaltung liegt mir aber nicht allzu viel. Von mir aus können wir es gern richtig krachen lassen. Allerdings glaube ich, dass genau jene Kreise, die das Revolutionspotenzial traditionell für sich beanspruchen, gerade nicht dazu geeignet sind. Der allgemeine Traum ist viel harmloser – es ist der Traum von einem tollen Urlaub, von einem neuen Auto. Um diese Träume zu realisieren, muss man arbeiten. Interessant wird es, wenn einige Teile der Bevölkerung keine Lust mehr auf diese Träume haben und lieber von ganz anderen Dingen träumen.
Und dann?
Stellt sich die Frage nach dem Glück in einer ganz anderen Radikalität. Nehmen wir mal Charles Bukowski. In seiner Literatur geht es auf den ersten Blick nur um Getränkemissbrauch und Geschlechtsverkehr. Die Vaterfigur hat das Reihenhaus gekauft, um am Sonntag das Gras mähen zu können. Dazu Bukowski: ‚Mach mal, aber mich interessiert das nicht. Ich gehe nur dreimal die Woche arbeiten, um meine Miete zahlen zu können. Die restliche Zeit schreibe ich Gedichte oder gehe auf die Rennbahn.‘ Aus dem Nicht-Konsumieren-Können eine Unlust am Konsum entwickeln, das könnte ein Ansatz sein.
Künstler können flüchten.
Stimmt. Mir geht es beim Arbeiten besser als sonst. Das ist ein großes Glück und es fühlt sich gut an, die eigene Herkunft irgendwann nicht mehr nur als Problem zu erkennen. Gerade der unklare Weg meiner Familie erweist sich nun als Möglichkeit. Ich wollte schreiben, das kann ich jetzt.
Verstehen Ihre Eltern, womit Sie Ihre Zeit verbringen?
Mein Vater interessiert sich nicht besonders für das, was ich tue. Er hat noch nie eine Inszenierung gesehen. Er wollte früher nicht mal meine BAföG-Anträge unterschreiben, hat lieber Schnaps getrunken. Trotzdem bin ich ihm dankbar.
Wofür?
Ich verstehe mehr und mehr, warum er als Vater nur bedingt funktioniert hat. Er hat es selber nicht leicht gehabt, arbeitet als Altenpfleger bald 20 Jahre in einem Beruf, in dem man keine zehn Jahre arbeiten kann. Ich bekomme Applaus, manchmal umarmen mich fremde Leute nach einer Inszenierung. Meinem Vater dankt selten jemand. Den Alten, die in seinem Heim liegen, hat man versprochen, sie werden es, wenn sie nur immer die Schnauze halten, im Alter sehr gut haben. Nun liegen sie in einem Zimmer mit jemandem, den sie nicht kennen und der nachts schnarcht. Morgens um sieben kommt mein Vater rein und macht das Licht an.
Was kann man dem entgegensetzen? Was ist Ihr Traum?
Ich träume von einer gelungenen Geschichte über eines der großen Themen: Würde, Liebe, Bewegung. Je besser ich diese Themen gefasst kriege, desto mehr nähere ich mich meinem Traum an. Ich schreibe nicht, um den Leuten ein nasses Handtuch um die Ohren zu schlagen. Aber ich hoffe, dass sie von etwas Anderem träumen lernen als von Selbstverwirklichung.
Das Gespräch führte
Maxi Leinkauf
Oliver Kluck erregt gern Anstoß. Bevor er Stücke für die Bühne schrieb, verfasste er leidenschaftliche Beschwerdebriefe, unter anderem während seines Bundeswehr-Dienstes. Geboren wurde Kluck 1980 in Bergen auf Rügen. Seine Mutter arbeitete zu DDR-Zeiten in einer Leiterplattenfabrik. Nach der Wende fand sie einen Job an einer Tankstelle. Sein Vater hat nach der Armee, aus der er unehrenhaft entlassen wurde, als Hilfsarbeiter gearbeitet und wurde später Altenpfleger.
Kluck studierte nach einer Lehre als Wasserbauer zunächst in Warnemünde Ingenieurswissenschaften. Das Studium brach er ab und wechselte 2006 an das Deutsche Literaturinstitut Leipzig. Für seinen Text Das Prinzip Meese, eine Mischung aus Dialogfetzen, die sich auf direkte, aggressive Weise mit der Lebenshaltung der eigenen Generation auseinandersetzt, erhielt er 2009 beim Berliner Theatertreffen den Förderpreis Junge Dramatik. 2010 bekam Kluck für sein Stück Warteraum Zukunft, welches das Leben in der mobilen Welt am Beispiel eines jungen Ingenieurs vorführt, den Kleist-Preis. Das Stück kam im Deutschen Theater in Berlin und im Hamburger Schauspielhaus auf die Bühne.
In der Spielzeit 2010/2011 arbeitet Kluck als Außerhausautor am Deutschen Nationaltheater Weimar. Die Kluck-Labore, die dort stattfinden, greifen an vier Abenden aktuelle Themen auf. Der erste Abend untersuchte etwa die neurotischen Bedingungen im Kulturbetrieb Theater und zeigte zugleich die widersprüchlichen Gefühle der Schauspieler im Alltag. Termine: nationaltheater-weimar.de
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