Aus dem Schatten

Depression Wie hat sich ein Jahr nach dem Selbstmord von Robert Enke der Umgang mit der Krankheit verändert? Drei Männer berichten, wie sie im Alltag mit dem Leiden umgehen

Die ersten Takte von LeAnn Rimes Song „The Rose“ erklingen, als die Fußballspieler den schlichten Sarg aus dem Stadion tragen. 40.000 Menschen schauen auf den Rängen schweigend zu, Fernsehkameras übertragen live. Die öffentliche Trauerfeier für Robert Enke wird eine der größten in der Bundesrepublik. Der Torwart von Hannover 96 hatte sich am 10. November 2009 vor einen Zug geworfen. Er war 32 Jahre alt.

Einen Tag nach dem Selbstmord trat die Witwe Teresa Enke in Schwarz gekleidet vor die Presse. Sie redete von depressiven Schüben, der Angst zu versagen und gab der Krankheit, die ihr Mann geheim halten wollte, einen Namen: Depression. „Es ist ein großer Begriff, aber es geht mir auch um Enttabuisierung“, begründete sie ihren Schritt. Sie gründete eine Stiftung, die Depressiven helfen soll, „damit sich keiner mehr schämen muss.“ Ein paar Wochen berichteten die Medien ausführlich, Männer klagten öffentlich über Burnout und Lustlosigkeit. Ein flüchtiger Hype? Oder hat sich tatsächlich etwas verändert? Gehen wir mittlerweile offener mit Menschen um, die mit Depressionen kämpfen?

Männer akzeptieren es jetzt schneller

„Im vergangenen Jahr hat die Stigmatisierung deutlich abgenommen“, sagt der Berliner Psychiater Alexander Schulze, in dessen Praxis depressive Männer zwischen 18 und 75 Jahren kommen. Schulze hat beobachtet, dass gerade höher Qualifizierte, Manager und Unternehmer, ihr Leiden auffällig schnell akzeptieren und sich effektiv behandeln lassen. Bei niedrig Qualifizierten wie etwa den Verkäufern von Warenhausketten herrsche dagegen ein raues Klima: „Wer dort längere Zeit ausfällt, dem wird gekündigt.“

19 Prozent der Deutschen erkranken laut aktuellen Studien im Verlauf ihres Lebens an Depressionen, die durch Veränderungen chemischer Botenstoffe, die das Zusammenspiel von Nervenzellen des Gehirns steuern, entstehen. Männer tauchen noch immer seltener in den Statistiken auf als Frauen. Der Grund: „Frauen schildern bereitwilliger ihre Befindlichkeitsstörungen“, sagt Schulze. So werde bei Frauen häufiger eine Depression diagnostiziert. „Männer klagen eher über physische Probleme wie Rückenschmerzen, Magen- oder Herzbeschwerden und maskieren dahinter eine psychische Erkrankung“, so Schulze.

Die Selbstmordrate ist bei Männern etwa drei Mal so hoch wie bei Frauen – und hinter mehr als zwei Drittel aller männlichen Suizide steckt eine nicht zu Ende behandelte Depression. Winston Churchill nannte seine Krankheit einen „schwarzäugigen Hund“ und vermied es, sich in depressiven Phasen in der Nähe von Bahngleisen aufzuhalten. Die meisten Patienten erkranken nach einschneidenden Erlebnissen, dem Tod einer nahestehenden Person, Kündigung, Trennung vom Partner, Krankheit in der Familie oder Gewalterlebnissen. Auch ein Burnout kann in die Depression führen.

Weder Burnout, noch Stimmungstief

Beides zu vermischen hält Schulze aber für fahrlässig: Das Ausgebranntsein steht für eine Erschöpfung, eine innere Kündigung. Depression aber ist eine fest umrissene Krankheit, geprägt von alles dominierenden Gefühlen der Hoffnungslosigkeit, der Unfähigkeit, etwas zu fühlen, Angst, permanenter Selbstkritik, sexueller Unlust und Antriebsmangel. Jeder kennt das Gefühl, mal schlecht drauf zu sein. Aber eine Depression lässt sich anhand psychopathologischer Kriterien klar diagnostizieren.

Er würde nun sensibler auf Signale seiner Spieler reagieren und sich besser über sie informieren, sagte Martin Kind, der Präsident von Hannover 96, vor Kurzem in einem Interview. Fällt es uns in der Gesellschaft nun wirklich leichter, die Existenz von Depressionen zu akzeptieren? Und hat sich für die Betroffenen etwas verändert? Drei Männer berichten, wie sie im Alltag mit dem Leiden umgehen und wie ihre Umwelt darauf reagiert.

Marco Witzke, Fluggastkontrolleur, Landshut, 29

Die ersten depressiven Schübe bekam ich mit neun Jahren, als ich mit meinen Eltern vom Osten in den Westen gezogen bin. Mein Vater war arbeitslos, das Stahlwerk Riesa hatte dicht gemacht. Meine Eltern wollten ganz neu anfangen. In der Schule wurde ich dann gehänselt: Der Ossi. Ich war im tiefsten Niederbayern und habe wie unter einer Glasglocke gelebt, alles zog an mir vorbei. Ich war immer traurig und hatte extremes Heimweh. Ich suchte Trost im Essen und nahm stark zu. Auch später, bei der Lehre als Fliesenleger, war ich der Fremde. Ich fühlte in depressiven Phasen absolute Bewegungsstarre, Apathie und war unfähig, mich zu freuen. Dass es etwas Krankhaftes sein könnte, kam mir gar nicht in den Sinn. Auf dem Bau hieß es: Zähne zusammen beißen. Ich verpflichtete mich dann bei der Marine, dort bekam ich wieder extreme Schlafstörungen und eine unbändige Angst. Ich fühlte mich schutzlos. Aber die anderen dachten, ich spiele das nur vor, um dort wegzukommen. Als ich meinem Vater von dem Horror erzählte, sagte er: Männer müssen hart sein. Dann habe ich mir die Handgelenke aufgeritzt, wurde in eine Praxis überwiesen und behandelt. Aber keiner sagte: Depressionen. Es hieß: Leistungsstörungen. Ich bekam das Antidepressivum Prozac. Bei der Bundeswehr wurde ich entlassen, aber ich musste noch meinen Spind ausräumen. Ich wurde von den Kameraden seltsam beäugt. Als hätte ich versagt. Das redete ich mir dann auch selber ein.

2002, während eines Lehrgangs am Flughafen München, lernte ich meine Freundin kennen, deren Eltern gewalttätig waren. Mir ist das alles über den Kopf gewachsen, der Ärger, die Angst vor der Prüfung. Ich schnitt mir noch einmal die Pulsadern auf, meine Freundin hat mich gefunden. Vor den Sanitätern habe ich es als Unfall dargestellt: Ich wollte meinen Job nicht riskieren. Dann habe ich mich immer mehr zurückgezogen, bin nur noch zur Arbeit gegangen und spürte: entweder eine Therapie, oder ich bringe mich um. Die ­Diagnose schließlich: Depression. Einerseits war ich erleichtert, endlich hatte es einen Namen. Andererseits musste ich nun damit leben, psychisch krank zu sein. Ich habe nicht gezögert, es mir vertrauten Kollegen zu sagen. Manche waren reserviert, wahrscheinlich weil sie unsicher waren, was eine Depression überhaupt ist. Andere wunderten sich: Warum gerade der, der so selbstbewusst auftritt? Mein Vater offenbarte mir damals, dass es in der Familie liegt. Seine Mutter hatte mehrmals den Gashahn aufgedreht. In der Familie war das immer ein Tabu. Ich ging dann mit einer Aufklärungs-DVD zu meinen Eltern, und sie haben sich diese sogar angeschaut. Seitdem reden wir offen darüber. Ich bin in einer Dauerbehandlung und habe mein morgendliches Tief nicht mehr. Wie ein Diabetiker Insulin braucht, brauche ich meine Stimmungsstabilisierer.

Der Enke-Tod hat mich geschockt, aber ich spürte, was ihn dazu getrieben hat, sich das Leben zu nehmen. Er hat durch seine Popularität mehr auf das Thema aufmerksam gemacht als das irgendein Fachartikel könnte. Dass sich die Medien noch immer so sehr auf seine Person fixieren, stört mich aber. Wer redet von den vielen Namenlosen, die von ihrer Depression in den Selbstmord gezwungen werden?

René Kriest, Webdesigner, Liederbach im Taunus, 34

Anfang dieses Jahres kam alles auf einen Schlag: Ich trennte mich von meiner Freundin, musste aus unserer Wohnung ausziehen und mir bis Ende März eine neue besorgen, den Umzug organisieren und das Geld dafür aufbringen. Ich vertraute mich einer mütterlichen Bekannten an, sie schickte mich zum Psychiater. Er machte einen IQ-Test: 142. Ich war hochbegabt – und depressiv! Meinen engsten Freunden habe ich sofort davon berichtet, aber das hat meine innere Traurigkeit nicht vertrieben. Die wenigsten konnten sich unter dem Wort Depressionen etwas vorstellen. Eine Erkältung oder Krebs, da hat man zumindest ein Bild. Aber Depression?

Kaum einer hat begriffen, dass ich nicht nur etwas melancholisch, sondern Opfer einer mitunter tödlich verlaufenden Krankheit geworden war. Mir nicht wohlgesonnene „Freunde“ nutzten meine Depressionen, um mich als „geisteskrank“ zu diskreditieren. Ich brach den Kontakt ab. Manche von ihnen wurden später selber depressiv. Im Nachhinein bin ich glücklich, dass mich die wahren Freunde weiterhin als René behandelten und nicht als Depressiven.

Schon in der Pubertät war ich oft antriebslos, wachte morgens auf und sah keinen Sinn. Im Abitur war ich Jahrgangsbester, doch mein Jura-Studium habe ich körperlich nicht durchgehalten. Ich bin während der Klausuren eingedämmert oder bekam Angst- und Panikattacken. Mir wurde von anderen gut zugeredet, doch ich isolierte mich. Ich wurde ein Einzelkämpfer. Ein halbes Jahr später brach ich das Studium ab, und es kam ein Brief, ich sollte die Krankenkasse wechseln. Drauf habe ich nicht reagiert. Mir kamen Suizidgedanken. Im Internet bin ich schließlich auf ein Buch des Psychiaters David Burns gestoßen: Feeling good. Es war eine Offenbarung. Man soll sich, wenn man sich im Alltag schlecht fühlt, nicht davon dominieren lassen, sondern sich anderen Dingen zuwenden. Also bin ich täglich eine Stunde mit mir ins Gericht gegangen, habe die Schwermut durch positive Gedanken ersetzt und gelernt, dass ich selber beeinflussen kann, wie ich auf äußere Ereignisse reagiere. Seit meiner Therapie gehe ich wieder auf Leute zu.

Momentan erlebe ich die glücklichste Phase meines Lebens. Seit dem Wintersemester studiere ich Psychologie und beschäftige mich mit Verhaltensmustern. Ich blogge außerdem regelmäßig über meine Krankheit im Netz. Noch vor ein paar Jahren fand ich kaum Gleichgesinnte, aber jetzt bekomme ich viel Resonanz. Immer mehr Männer bekennen sich zu ihrer Depression. Der Freitod von Robert Enke hat da eine Tür geöffnet.

Réne Gensch, Manager, Dessau, 38

Es war absurd. Ich konnte plötzlich keine Excel-Datei mehr in die andere übertragen, es ging körperlich und geistig nicht mehr. Die Konsequenz: Ich kam am nächsten Tag nicht zur Arbeit. Das ist nun ein Jahr her. Ich hatte Selbstmordgedanken. Abends musste ich meiner Familie davon erzählen, der schwerste Gang. Mein Frau war schockiert, sie hätte nie damit gerechnet. Meiner 14-jährigen Tochter habe ich es erst später beigebracht.

Die Ursache meiner Depressionen liegt weit zurück in meiner Kindheit. Der klassische Fall, über den ich nie geredet habe. Seitdem kommen Stimmungsschwankungen wellenweise. Aber sie ließen sich immer gut überspielen. Ich wollte mir nie eine Blöße geben und habe Selbsthilfebücher gelesen wie: Der Erfolg ist in dir. In der Familie wollte ich der Starke sein, den Laden am Laufen halten, noch dazu als Mann. Und auch im Beruf wäre Depression ein Zeichen von Schwäche gewesen. Das passt nicht zu Managern. Ich bin Kollegen aus dem Weg gegangen. Sportfeste oder Weihnachtsfeiern waren tabu. Es war schwer genug, den Tag zu schaffen und zu schauspielern.

Abends sagte ich mir, ich hab nur ein bisschen Stress auf Arbeit. Morgens bin ich joggen gegangen, um die Zeit zu überbrücken. Es wurde immer schlimmer. Nach dem Zusammenbruch ging ich zum Arzt. Dann war klar, ich habe eine Depression. Seitdem bekomme ich Psychopharmaka wie Serotonin und Lithium. Meine Kollegen waren anfangs verwundert, aber nicht ablehnend. Sie sagten, nimm dir die Zeit, die du brauchst. Aber ich habe nur mit Frauen darüber gesprochen, einige männliche Kollegen hatten mal abfällig über jemand anderen geredet: der hat einen an der Klatsche.

Eine Woche nach meinem Absturz kam der Enke-Tod, auf allen Kanälen. Meiner Familie machte das Selbstmordthema Angst. Ich sah die leidende Witwe auf der Titelseite der BILD und bekam ein schlechtes Gewissen meiner Frau gegenüber: Ich hätte es fast selber getan. Seitdem ist das Thema öffentlich präsenter, es gibt mehr Bücher und Fernsehsendungen, es wird offener damit umgegangen. Dass Arbeitgeber davon wissen zeigt auch, dass die Leute darüber reden. Ärzte sind stärker sensibilisiert, das habe ich selber erlebt: Ich wurde sofort zu einem Spezialisten überwiesen.

Mein Leben ist nun lebenswerter geworden. Ich breche zwar manchmal noch in Tränen aus, aber ich muss nicht mehr lügen. Wenn ich den Kollegen sage: Heute ist wieder so ein Tag, dann kann ich mich hinter meinem Rechner verstecken.

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