Bombig

Street Art Miss.Tic stellt mit ihrer Street Art das französische Frauenbild infrage: Feministinnen feinden sie dafür an. Eine Begegnung in ihrem Pariser Atelier

Sie erinnert sich noch genau, wie sie sich verwandelte. Wie sie zu Miss.Tic wurde: Sie arbeitete an der Garderobe eines Jazzclubs und wartete, bis die Leute ihre Jacken abholten. Aus Langeweile nahm sie ein Küchenmesser, das herumlag. Sie ritzte eine Schablone aus Pappe. Im Morgengrauen „bombte“ sie das Motiv an eine Wand im Pariser Viertel Les Halles. Das war 1985, ihr erstes Bild, ein Selbstporträt. „Ich ziehe die Rüstung Kunst über, um mit Herz-Wörtern die Spötter zu bombardieren“, sprühte sie daneben. Signiert: Miss.Tic.

„Espresso?“ Die 55-Jährige klingt heiser. Sie hat Ränder unter den Augen, ihr Blick ist mädchenhaft. Doch das Make-up kann die Furchen um Kinn und Mund nicht verstecken. Sie trägt einen Minirock und grellrote Lippen. Miss.Tic setzt sich auf den Plastikhocker im hinteren Raum ihres Ateliers in einem der weniger schicken Viertel von Paris nahe dem Place d’ Italie. 60 Quadratmeter Werkstatt, das ist Luxus, die meisten Künstler ziehen in die Vororte.

Auf dem Boden stapeln sich Leinwände, auf dem schmalen Arbeitstisch sind Skizzen ausgebreitet, an einer Wand kleben ausgerissene Romanseiten von George Sand, Marguerite Duras, Virginie Despentes. Sie identifiziere sich mit diesen aufmüpfigen Frauen, sagt Miss.Tic, die ihren Künstlernamen dem Wort „Mystik“ entlehnt hat.

Miss.Tic ist die bedeutendste französische Street-Art-Künstlerin und weltweit für ihre Schablonenkunst bekannt. Als sie 1985 anfing zu bomben (Sprühdose heißt auf Französisch: bombe), gab es den Begriff Street Art noch gar nicht. Man sprach von „Künstlern, die auf der Straße arbeiten“. Irgendwann sah man in Paris immer häufiger ihre verführerischen und sehr selbstbewussten Frauen, auf den Mauern von Montmartre oder der Bastille. Mit rotzigem Blick und im kleinen Schwarzen mit Turnschuhen wirkten sie charmant und unbequem zugleich, wahnsinnig französisch. Ein Typ Frau, den man sich in Deutschland nur schwer vorstellen kann.

Den Eltern schlug Rassismus entgegen

Anfang der Achtziger begann der Aufstieg der Street Art, zunächst vor allem in den USA. Der New Yorker Maler Basquiat eroberte die großen Galerien. Auch Miss.Tic lebte damals in den USA, hing in Los Angeles und San Francisco mit Tagträumern herum, nahm Drogen: „Ich machte lauter Dummheiten, ich war jung und merkte dann aber: Das ist nicht mein Land.“ Sie spricht heute sehr sachlich darüber. Sie kehrte wieder nach Frankreich zurück. Aber auch hier gehörte sie nicht richtig dazu.

Als Tochter eines Tunesiers und einer Französin wuchs sie im Pariser Einwandererviertel Barbès auf, die Familie lebte zu viert in einem Dienstmädchen-Zimmer. Ihre Mutter war Putzfrau, ihr Vater betrieb ein kleines Restaurant. Eine mariage mixte, eine gemischte Ehe, war mutig in den Sechzigern. Solche Ehen waren die Ausnahme, und den Eltern schlug von beiden Seiten Rassismus entgegen: „Du willst einen Araber heiraten, eine Ratte?“, fragten Verwandte die Mutter ungläubig. In Tunesien sagte man ihrem Vater: „Du hast eine Hure geheiratet.“ Als sie zehn war, kamen ihre Mutter und ihr Bruder bei einem Autounfall ums Leben. Sie selber lag knapp ein Jahr lang im Krankenhaus. Dann zog ihr Vater mit ihr in ein tristes Banlieue. „Mein Vater hat nie von mir verlangt, dass ich Arabisch lerne, er hatte nie diese Fantasmen der arabischen Identität und er wollte nie in sein Land zurückzukehren“, erzählt sie. Er sei ein freier Mann gewesen, und wenn er ihr etwas beigebracht habe, dann, „eine freie Frau zu sein“. Miss.Tic selbst war schon früh eine Außenseiterin und musste lernen, mit den Vorurteilen und Anfeindungen der anderen umzugehen.

Dass sie nicht wie alle anderen war, ließ man sie später auch bei der Jobsuche spüren. Auf Bewerbungen bekam sie selten eine Antwort, geschweige denn ein Vorstellungsgespräch. Jamil, der Name ihres Vaters, passte nicht. Sie legte ihn schnell ab, heiratete einen Franzosen, nahm seinen Namen an. „Sofort nannte man mich ‚Madame‘“. Sie bekam Jobs als Grafikerin für verschiedene Magazine.

Das Spiel mit Geschlechtern

Miss.Tic war 16, als auch ihr Vater starb. Sie brach damals die Schule ab und zog eine Weile mit einem Straßentheater durch die Republik, auf der Suche nach der Bohème, die sie nirgends mehr finden konnte. In dem Dienstmädchenzimmer in Paris, das sie gemietet hatte, las sie Guy Debords Gesellschaft des Spektakels und Baudrillards kritische Schriften über die Konsumgesellschaft, tagsüber jobbte sie als Schuhverkäuferin, nachts als Garderobiere. Den Rest der Zeit malte und schrieb sie. „Ich bin ein Kind des Fernsehens und der Werbung, der Bilder und Worte”, sagt Miss.Tic. Sie wollte beides verbinden.

Creer, c’ est resister, heißt einer ihrer Slogans: Etwas zu schaffen, bedeutet, Widerstand zu leisten. Sie interessierte sich vor allem für die Selbst- und Fremddarstellung der französischen Frau in Magazinen und in der Werbung, sie nahm sich diese Motive und Bilder als Vorlagen und deutete sie um. Dann versah sie ihre Schablonen mit kurzen, raffinierten Wortspielen der französischen Sprache. Die Frau, die sie erschuf, ist eine Projektionsfläche, eine femme à hommes, eine Frau der Männer, aber eben auch eine Rebellin. „Ich spiele mit den Geschlechterklischees“, sagt sie.

Eines Tages stoppte die Modedesignerin Agnès B. vor einer der Häuserwände mit Miss.Tics Frauen darauf. Dann trafen die Street-Art-Künstlerin und die Designerin sich zufällig: „Sie hat mich einfach auf der Straße angesprochen und sagte: ‚Das interessiert mich, komm in meine Galerie.‘“ Die Studenten der Kunsthochschulen, denen sie auf der Straße begegnete, hätten sie hingegen nie akzeptiert, erzählt Miss.Tic: „Die mit ihren Professoren und elitären theoretischen Referenzen.“ Sie kann sich wunderbar aufregen über die soziale Hierarchie in Frankreich – und über die Kinder der Bourgeoisie, die das proletarische Milieu ablehnen.

Ende der achtziger Jahre wurde die Street-Art-Szene immer größer und wichtiger, gerade die Pochoiristes – die Schablonenmaler – machten sich einen Namen. Neben Miss.Tic waren das heute in Kunstkreisen vertraute Namen wie Blek le Rat, Nemo oder Jerôme Mesnager. Blek le Rat etwa sprühte zunächst lebensgroße Ratten oder Bananen, später dann alte Männer oder Tom-Waits-Bilder auf Häuserwände.

Agnès B. stellte 1986 mehrere Schablonen-Künstler unter dem Motto vite fait – bien fait (schnell gemacht – gut gemacht) aus. Die Street Art eroberte die Galerien – und dann auch den Kunstmarkt. Vom Aufstieg des Migrantenkindes aus den Vororten in die bürgerliche Kunstwelt will Miss.Tic aber nichts wissen.

Hat sie sich gefragt, ob sie sich durch den Kommerz vereinnahmen lässt? Sie schüttelt den Kopf, steckt sich eine Zigarette an, bekommt einen Hustenanfall. Es klingt gefährlich, endet aber schließlich doch wieder. Als wäre nichts gewesen, redet sie einfach weiter: „Natürlich haben wir Ja gesagt und sind nicht in Angstzustände verfallen, dass wir nicht mehr glaubwürdig seien“, erklärt sie etwas ruppig. Sie sei schon immer Künstlerin gewesen, „um wahrgenommen zu werden und um davon leben zu können“.

Der Streit um reine Kunst und kommerzielle Interessen ist wohl so alt wie die Kunst selbst. Früher arbeiteten Maler am Hofe der Adligen, später hatten sie Mäzene oder reiche Frauen. Doch gerade in der Street-Art-Szene, die aus einer Subkultur entstand und den kommerzfreien öffentlichen Raum verteidigt, reagiert man auf ökonomische Verwertung besonders empfindlich.

„Mich interessiert diese ganze Diskussion im Grunde nicht, ich finde sie pervers“, sagt Miss.Tic unwirsch. „Wer Kühe hält und Käse herstellt, sagt ja auch nicht: ‚Ich behalte alle meine Käsesorten.‘“ Vergleicht sie sich ernsthaft mit einem Käsehändler? „Ja, auch ich bin eine Arbeiterin, nur heißt mein Metier: Malen und Schreiben.“ Sie kokettiert mit den proletarischen Wurzeln. Ehemalige Fans werfen ihr aber vor, aus Miss.Tic sei „Miss Fric“ geworden: Miss Kohle! Jeder wisse doch, dass die Franzosen eifersüchtig seien und keine Aufsteiger mögen, kontert sie: „Ich bin dafür der beste Beweis.“ Dem Vorwurf, sie sei mehr am materiellen Erfolg als an subversiven Botschaften interessiert, weicht sie aus.

Miss.Tic hat Designerhandtaschen für Lamarthe gestaltet, ein Mietwagen-Verleih darf ihre Motive für eine Werbekampagne nutzen. Für viele Street-Art-Künstler ist das nichts anderes als der Ausverkauf ihrer Ideale.

„Mademoiselle“, ruft sie genervt und gestikuliert: „Wenn ich eine Handtasche mache, bin ich für einige Monate abgesichert.“ Zudem sei es doch ein sehr gutes Zeichen, wenn sich der Kreativchef eines großen Unternehmens für ihr Frauenbild interessiere. Das bedeute, „er öffnet sich“. Eine einflussreiche Bloggerin von Cosmopolitan.fr sieht das anders: „Ihr glaubt womöglich, ich sei naiv, aber ich finde, dass Künstler, die auf der Straße arbeiten, sich auf ihr Terrain begrenzen sollten. Handtaschen? Mietwagen? Miss.Tic darf sich amüsieren, kein Genre schließt das andere aus. Doch ich sehe ihre poetisch angehauchten Pochoirs lieber auf Mauern als auf teuren Konsumprodukten.“

Eher dekorativ als provokativ

Auch von politischer Seite wird Miss.Tic immer wieder attackiert. Fadela Amara, Vorkämpferin für die Rechte von Migrantinnen und Gründerin der Organisation Ni putes, ni soumises – Weder Hure noch Heilige – hält ihre Werke für pornografisch. Sie ist nicht die Einzige. Miss.Tic zieht einen Stapel Briefmarken aus dem Regal, die sie gerade produziert hat. In der Provence hat sich eine feministische Initiative gebildet, die verhindern möchte, dass man sie bei der Post kaufen kann. Die Marken seien „sexistisch und vulgär“. Wie sieht sie sich selber? Als Feministin?

Miss.Tic schüttelt den Kopf, sie könne wenig anfangen mit dem französischen Gleichstellungsgesetz oder Frauenquoten. Frauen seien selber schuld, wenn sie Kinder kriegten und danach im Job auf der Stelle träten: „Wer Kinder erziehen will, ist weg vom Fenster!“ Sie hat sich früh dagegen entschieden. Aber gerade Französinnen gelten doch als Musterbeispiel für emanzipierte Frauen, die alles vereinen? Für Miss.Tic ist das ein Klischee. „Die französische Künstlerszene ist machistisch“, aber auch in anderen Bereichen seien die Männer dominant. „Nicht, dass wir uns falsch verstehen: Ich liebe Männer.“ Ist sie nun progressiv oder reaktionär?

Der aufstrebende Pariser Street Artist Cedric Honet sieht in Miss.Tic eine Künstlerin, die mal innovativ war und nun „has been“ sei. „Sie will ihre Karriere institutionalisieren und bleibt eingeschlossen in ihrem Universum der Achtziger. Das, was sie macht, ist heute eher dekorativ als provokativ“, schreibt er auf Nachfrage in einer E-Mail. Miss.Tic nimmt einen Zug von ihrer Zigarette, sie überlegt. „Gegenkulturen sind dafür da, dass sie vergehen“, sagt sie nüchtern. „Sonst wären es ja keine.“

Miss.Tic-Anhänger sehen in ihr hingegen nach wie vor ein Role-Model, sie selbst wollte aber nie eines sein. Sie sei stolz, dass sie heute von ihrer Kunst leben könne. Für ihre Werke geben Leute bis zu 40.000 Euro aus. Sie kann die Miete ihres Ateliers und ihrer Wohnung aufbringen, Strom und Gas, Festkosten von 3.000 Euro im Monat. Reich sei sie aber nicht. Sechs Monate einfach pausieren? „Geht nicht. Ich habe nichts angelegt, keine Eigentumswohnung, keine Versicherung, kein Auto.“

Sie schaut auf die Uhr. Sie möchte jetzt los, ihr Amant warte schon. Auf dem Weg zur U-Bahn schwärmt sie von den Talenten ihres Liebhabers, als sei sie eine wilde Zwanzigjährige – wie die Frau auf ihrem ersten Bild und wie jene Frauen, die sie auch heute noch auf Mauern sprüht.

Von der Straße zur Marke

Miss.Tic wurde 1956 in Paris als Tochter eines Tunesiers und einer Französin geboren. Als sie zehn Jahre alt war, starben ihre Mutter und ihr Bruder bei einem Autounfall, sie brach mit 16 die Schule ab und spielte erst mal Theater.

Mitte der achtziger Jahre fing sie an, ihre Schablonen-Bilder auf Zäune und Mauern zu sprühen und stellte die Stereotypen der ver- führerischen Frau infrage.

Miss.Tic wurde früh in Pariser Galerien ausgestellt, und sie hat mehrere Bücher mit Bildern und eigenen Texten veröffentlicht.

Im Jahr 2000 musste sie wegen Sachbeschädigung 4.500 Euro Strafe zahlen. Dann wurde sie Teil der Mode- und Werbeindustrie, unter anderem arbeitete sie für Kenzo und Louis Vuitton. Für Claude Chabrol entwarf sie das Filmplakat zu Die zweigeteilte Frau.

Einige Werke von Miss.Tic wurden vom Victoria and Albert Museum in London gekauft. Zum Weltfrauen- tag hat sie zudem eigene Briefmarken für die französische Post gestaltet.

Von Juli bis September wird im Institut Français Berlin eine Ausstellung mit Zeichnungen und der Alltagspoesie von Miss.Tic zu sehen sein. Vor Kurzem erschien das Büchlein Bomb it, Miss.Tic! (Nautilus). ML

Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Geschrieben von

Maxi Leinkauf

Redakteurin Kultur

Maxi Leinkauf studierte Politikwissenschaften in Berlin und Paris. Sie absolvierte ein Volontariat beim Tagesspiegel. Anschließend schrieb sie als freie Autorin u.a. für Süddeutsche Zeitung, Tagesspiegel und Das Magazin. 2010 kam sie als Redakteurin zum Freitag und war dort im Gesellschaftsressort Alltag tätig. Sie hat dort regelmäßig Persönlichkeiten aus Kultur und Zeitgeschichte interviewt und porträtiert. Seit 2020 ist sie Redakteurin in der Kultur. Sie beschäftigt sich mit ostdeutschen Biografien sowie mit italienischer Kultur und Gesellschaft.

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