Clemens Meyer über Christa Wolf: „Guckt mal Leute, das hat Bums“
Interview Der Leipziger Autor Clemens Meyer las Christa Wolf nach dem Abitur auf der Baustelle. Seiner Faszination für die Autorin, ihr Lebenswerk und die Literaturszene der DDR hat er nun selbst ein Buch gewidmet
Clemens Meyer: „In Christa Wolfs Werk merkt man dieses ständige Hadern“
Foto: Iona Dutz für der Freitag
Um Clemens Meyer zu treffen, muss man nach Zeitz kommen, eine kleine Vorstadt nahe Leipzig. Er hat da sein Arbeitszimmer in einer ehemaligen Nudelfabrik, post-industrieller Charme. Schmaler Schreibtisch, Bett, kleine Küche, keine Ablenkung. „Für umme“ sei er hier. „Ich muss erst mal zum Bäcker“, sagt er mit sächsischem Dialekt. Die Bäckerin kennt ihn: „wieder Mohnkuchen?“ Zurück im Atelier holt er seine Originalausgabe von Kindheitsmuster von 1977, mit Autogramm der Autorin. Als er gebeten wurde, über ein Buch seines Lebens zu schreiben, sei schnell klar gewesen, dass es dieses sein würde. Daraus entstand der Band Clemens Meyer über Christa Wolf (KiWi).
der Freitag: Herr Meyer, während Sie an dem Band
Freitag: Herr Meyer, während Sie an dem Band über Christa Wolf saßen, redeten Sie mit einer Büste von ihr, die in Ihrem Arbeitszimmer steht. Streichelten sie sogar. Warum?Clemens Meyer: Ich dachte, ich müsste eine Art Zwiesprache mit ihr halten. Sie strahlte eine Ruhe aus, erdete mein Arbeitszimmer.Wie sind Sie an solch eine Büste gekommen?Ich habe den Bronzekopf mal beim Michael Faber vom Faber & Faber Verlag erworben, sein Vater Elmar war in den 80er-Jahren bei Aufbau der Verleger von Christa Wolf. Sie hatten Künstler gebeten, Literatur in plastische Kunst zu übersetzen, Porträts großer Dichter des 20. Jahrhunderts zu schaffen: Brecht, Bachmann und Christa Wolf.Redete die Büste auch mit Ihnen?Nee. Ich tue so, als wenn ich mit der Wüste gesprochen hätte. Ein schriftstellerischer Trick.Sie konzentrieren sich in Ihrem Band auf Christa Wolfs Buch „Kindheitsmuster“ (1976), in dem sie in Gestalt von Nelly Jordan vom eigenen Heranwachsen, den Kriegserfahrungen und von Flucht erzählt: Was beschäftigt Sie daran?Wenn ein Buch von ihr bleibt, muss es Kindheitsmuster sein. Mir ist bis heute diese Beschäftigung mit ihrer Kindheit und dieser Nazizeit hängengeblieben. Weil man ja auch Kind ist. Weil sie der Frage nachgeht: Wie wirkt Propaganda? Christa Wolf ist 1929 geboren, meine Großmutter aus Halle 1928. Die waren praktisch gleichaltrig.Wie haben Sie „Kindheitsmuster“ entdeckt?Das war in der Wendezeit, Mitte der 90er-Jahre. Meine Eltern ließen sich damals scheiden und ich bekam große Teile der Bibliothek meines Vaters, durfte sie einfach aus der Wohnung rausschleppen. Kindheitsmuster war da als Taschenbuch dabei. Das war so handlich, dass ich es mitnahm.Sogar mit auf die Baustelle, wo Sie nach dem Abi arbeiteten. Christa Wolf und die „Bild“. Das Proletarische und die Kunst?Ja, der Bitterfelder Weg liegt in meiner DNS. Ich komme aus einer Familie der Künstler und Arbeiter. In der Mittags- oder Frühstückspause saß ich da und las Wolf oder Brecht. Da guckten die Leute auf dem Bau komisch. Ich war dann wie in so einer Blase. Und hörte quasi Wolfs Sprache. Das Buch ist fleckig, hat sehr gelitten, ist voller Dreck und Staub.Die letzten Tage des Zweiten Weltkriegs, die Rote Armee rückt vor.Ja, es ist ein Buch über den Zweiten Weltkrieg, aber auch über die kriegerischen Auseinandersetzungen der 60er und 70er-Jahre. Vietnam, Naher Osten. Es geht um die Frage, wie etwas so Ungeheuerliches wie der Hitlerfaschismus und Nationalsozialismus passieren konnte, die Menschen erreichen und sie vergiften konnte. Das hat Christa Wolf anschaulich beschrieben.Sie war selbst als Kind glühende Hitler-Anhängerin.Als die Nachricht kam, dass Hitler sich umgebracht hat, brach für sie eine Welt zusammen. Sie reflektiert aber auch, was danach passierte. Es kommen zum Beispiel die Vergewaltigungen durch die Sowjetsoldaten vor. Das war damals ein Novum. Und ich musste an die Mutter von meinem Vater denken, die von einem russischen Offizier persönlich zu seiner „Begleiterin“ gemacht wurde. Er hat sie gezwungen, mit ihr bis nach Berlin zu gehen.Hat Ihre Oma davon erzählt?Am Ende ihres Lebens hat sie immer wieder davon gesprochen. Sie wollte, dass ich zu ihr komme und das aufnehme, aber sie war dann leider mit 90 gestorben.Als Wendekind, aus einer ganz anderen Generation – was macht diese Geschichten für Sie gegenwärtig?Ich bin aus diesem Bannkreis der Ostautoren getreten, von denen ich auch stilistisch beeinflusst wurde. Christa Wolf hat eine Art essayistischen Erzählens, der Verschachtelung, des permanenten Reflektierens, allein das macht es für mich interessant. Es sind Bücher über den Alltag, die im besten Sinne universell sind, weil sie Zeit und Leben konservieren. Ich habe mich während des Schreibens gequält. Diese Schwere in Kindheitsmuster hat mich in ein Loch gezogen, weil ich ihre Zwänge beim Schreiben fast körperlich spüren konnte: Was darf und kann ich jetzt genau sagen?Ihre Zerrissenheit in der DDR?Ja, man wusste, man kämpft für eine Sache, kennt aber die Mängel. Man hält daran fest, weil die andere Seite überhaupt keine Option ist. Christa Wolf wurde im Westen vorgeworfen, sie wäre moralisch auf der falschen Seite, aber in ihrem Werk merkt man dieses ständige Hadern.Sie erzählen nicht nur von Wolf, sondern auch von der ostdeutschen Schriftstellerszene, in Form einer Soap mit Girls und Boygroups, Helden und Antihelden, lauter Gesaufe und Sex. Alles wahr?Ich habe überspitzt: Das musste ein bisschen knallig werden, ein bisschen boulevardesk: Brigitte Reimann geht nachts durchs Schriftstellerheim, die Türen klappern, Eifersuchtsszenen. Aber diesen kleinwüchsigen Schriftsteller, der auf Holzstapeln bumst, den gab es wirklich. Man verrät sich, unterstützt sich aber auch gegenseitig, ein Autor trinkt sich tot – das war Werner Bräunig, dessen Roman Rummelplatz nicht erscheinen durfte. Ich wollte nicht so eine schwere, abgelebte Religion, sondern dieses Buch auch für eine Generation schreiben, die diese ostdeutsche Literatur noch gar nicht kennt: Guckt mal Leute, das hat Bums.Christa Wolf war eher die Vernünftige, eine moralische Instanz. Wie Günter Grass im Westen.Das war der Zeit geschuldet, aber in der DDR natürlich noch mal was anderes. Diese Schriftsteller haben ja daran geglaubt, dass diese Quasi-Zensur mal ein Ende haben muss, dass man was ändern kann. Auch für meine Eltern war Christa Wolf eine absolute Bezugsperson. Als Jugendlicher sah ich ihre Rede am 4. November 1989 auf dem Alexanderplatz. Ich entdeckte später, dass Als wir träumten fast wortwörtlich in ihrer Rede vorkam.So heißt Ihr Nachwenderoman von 2006, der von Andreas Dresen verfilmt wurde.Es gibt noch eine Erzählung von Christa Wolf, die Im Stein heißt, wie mein zweiter Roman. Erst als wir mit dem Verlag den Titel prüften, sah ich, dass es ihn schon gab. Diese Parallelen zu Christa Wolf waren seltsam. Ich bin ja metaphysisch angehaucht, glaube an Essenzen und Geister. Ich bin eben religiös groß geworden.Glauben Sie an Gott?Nö, ich bin aber auch kein Atheist, weil mir das zu materialistisch ist.Wolf ist eigentlich keine DDR-Schriftstellerin, sie war lange vor der Wende auch im Westen populär, gastierte in den USA und war auch in Italien erfolgreich.Ja, sie war, gerade nach Kindheitsmuster, eine Anwärterin auf den Nobelpreis. In Italien war sie eine Ikone. Ich traf da mal eine der großen literarischen Agentinnen, eine alte Dame, die mit Christa Wolf befreundet war. Auch in dem kleinen Verlag kannten sie alle noch persönlich.Das ist vor allem Wolfs Roman „Kassandra“ zu verdanken, in dem sie Homers Überlieferung im Geiste der Befreiung der Frau neu interpretiert.Auch ich habe in Italien einen Siegeszug erlebt. Als wir träumten war für den Premio Strega nominiert, die großen Tageszeitungen schrieben über mich. Weil sie vor so was überhaupt keine Scheu haben.Was meinen Sie mit „so was“?Sie haben keinen Klassendünkel. Das ist auch in England so, wo ich mit Als wir träumten gerade auf der Longlist des Man Booker Prize stehe. Ich bin ja in der DDR sozialisiert, auch wenn es nur als Kind war. Der lesende Krankenpfleger und der lesende Baggerfahrer waren da ganz normal. Dass man über diese Leute schrieb, war normal. Und dann kam man plötzlich in diese westdeutsche bürgerliche Literaturszene rein und wurde als Sonderling gesehen. Und ich dachte: Was ist hier los? Ich kenne die Weltliteratur als eine der breiten Masse und auch der Armut, der proletarischen Schichten und der Angestellten.Sind Sie der „Ostautor“?Ich werde nicht in eine Ecke gedrängt, aber man glaubt immer, dass man es benennen muss. Ich sehe mich überhaupt nicht als ostdeutschen Schriftsteller, ich war zur Wiedervereinigung 13 Jahre alt. Ich fühle mich aber durch Autoren wie Werner Heiduczek oder Wolfgang Hilbig sehr geprägt, durch diese Generation von Christa Wolf.Seit dem Ukraine-Krieg lesen Sie „Kindheitsmuster“ noch mal neu. Inwiefern?Als ich das Buch schrieb, begann der Krieg. Und Christa Wolf, die diese Kriegserfahrungen gemacht hatte, wäre zutiefst erschüttert gewesen. Die Befreier waren nun die Aggressoren.Wie nehmen Sie die Debatte hierzulande wahr?Ich finde es unrealistisch, was eine Wagenknecht fordert. Wenn mich jemand in meinem Haus überfällt, dann erschieße ich den. Andererseits weiß ich, dass das natürlich zu einem bellizistischen Kreislauf führt, der am Ende auch sinnlos ist. Deswegen freue ich mich über jeden, der den unrealistischen Begriff des Friedens in die Debatte einbringt. Damit wir nicht in kriegerische Töne verfallen: Ruhm und Ehre. Wir kämpfen bis zum Letzten.Ihre Mutter war evangelisch, in der Umweltbewegung der DDR: „Schwerter zu Pflugscharen“. Wie hat dieses Umfeld Sie geprägt?Eine gewisse Widerständigkeit hatte ich schon als Kind. Meine Mutter hat mich 1984, als ich eingeschult wurde, gefragt: Willst du zu den Pionieren? Da habe ich Nein gesagt. Einfach so. Ich war dann in der Schule einer der wenigen, außer den zwei Katholiken in der Klasse, die nicht bei den Pionieren waren. Das wurde auch akzeptiert. Meine Mutter hat mich dann 1989 zu den Leipziger Montagsdemos mitgenommen.Christa Wolf hielt die Menschen für verbesserungsfähig, war das ein naiver Glaube?Das musste sie, das war auch ein bisschen die sozialistische Idee. Ich glaube, deswegen ist sie nach 1990 richtig körperlich krank geworden. Weil dieses Menschenbild, dass man sich entwickeln könnte und es noch etwas jenseits von Markt, Kapital, Gier und Imperialismus gibt, völlig weggebrochen war.
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