Sie sagt sofort zu, nimmt sich Zeit für das Gespräch, das natürlich per Video stattfindet. Jutta Allmendinger, 64, sitzt vor weiß-grauer Kulisse, trägt einen schwarzen Rollkragenpullover, schlichte Eleganz. Während sie redet, mit leicht süddeutschem Einschlag, strahlt sie sachliche Professionalität aus und eine charmante Energie, die ansteckend ist. Die will sie sich fürs neue Jahr bewahren.
der Freitag: Frau Allmendinger, mein Sohn steht gerade neben mir, ich soll mir die Murmelbahn anschauen. „Ich arbeite, geh zu Papa“ – „Ja, aber der hat die Tür zugemacht.“
Jutta Allmendinger: Der Klassiker, willkommen im Homeoffice.
Sie behaupten in Ihrem neuen Buch, die Corona-Krise sei ein Backlash für Frauen. Warum?
Wir haben in der Krise viele Maßnahmen beschlossen, ohne Frauen überhaupt zu hören, ohne sie in den Diskurs einzubeziehen. Wir glaubten Stellungnahmen der Leopoldina und anderer Kommissionen, die damals mit ganz wenigen Frauen besetzt waren und wo das durchschnittliche Alter der Mitglieder 62 Jahre betrug. Diese Nichteinbeziehung von Frauen und jungen Leuten hat dazu geführt, dass die politischen Entscheidungen einen blinden Fleck hatten und Frauen, Familien und deren Leben ignorierten.
Inwiefern?
Man hat damals sehr schnell das Schließen von Schulen gefordert, ohne sich klarzumachen, dass irgendjemand zu Hause auf die Kinder aufzupassen hat. Das waren natürlich die Mütter. In Deutschland sind diese meist halbtags erwerbstätig, und so wurde angenommen, dass die Kinderbetreuung und Kinderbeschulung quasi automatisch von Frauen mit erledigt wird.
Schüler können ansteckend sein.
Ja, aber man muss abwägen: In anderen Ländern legt man die Restriktionen stärker auf Erwachsene, schützt diese wesentlich mehr und lässt Kinder dagegen weiter unter allen AHA-Regeln in die Schule oder Kita gehen. Man weiß, wie sehr Kinder die Interaktion mit anderen Kindern brauchen, für ihre psychische und kognitive Entwicklung. Man weiß um die Enge in den Wohnungen von materiell schlecht gestellten Familien, um das gehäufte Entstehen von Gewalt. Die Franzosen haben beim zweiten Lockdown nicht mal mehr ansatzweise Schulschließungen diskutiert.
Männer arbeiten auch daheim.
Auch das ist richtig. Männer haben sogar proportional zu ihrem Engagement vor der Krise mehr Stunden für Kinder aufgewendet. Hier muss man berücksichtigen, dass man von einem sehr niedrigen Niveau aus viel höhere Steigerungen erreichen kann als von dem sehr hohen Niveau der Frauen aus. Der Tag hat nun mal nur 24 Stunden. Statistiken trügen also leicht. Zudem wende ich ein, dass die Sorgearbeit für Kinder schlecht in Stunden und Minuten zu messen ist. Wir sprechen von Verantwortung, von Organisation, von der Mental Load. Ich höre die Frauen bei mir am Institut: „Ich bin total übermüdet.“ Sie sind fertig, da sie oft nachts wach liegen und weiter nachdenken: Wie können wir an einem virtuellen Geburtstag teilnehmen, wie kann das organisiert werden? Das hört nie auf.
Die sogenannte Mental Load lastet auf Männern weniger?
Ja, im Moment erscheinen sehr aussagekräftige Untersuchungen, die zeigen, dass Stressfaktoren während der Krise bei Frauen viel stärker ankommen als bei Männern und Frauen mehr Zugeständnisse machen müssen. Als Retraditionalisierung bezeichne ich also die Tatsache, dass Frauen wieder auf die Familie und das eigene Heim zurückgeworfen werden, mehr bezahlte Arbeitszeit als Männer verlieren, weniger schnell in den Arbeitsmarkt zurückkommen. Im Moment gibt es auch Anzeichnen, dass Frauen bereits ihre Jobs kündigen, weil sie einfach nicht mehr sehen, wie sie mit den anhaltenden Anforderungen überhaupt zurechtkommen sollen.
Das können Sie bereits belegen?
Ich habe noch keine harten Zahlen, aber ich höre das aus meinem Umfeld und bekomme entsprechende Rückmeldungen durch die sozialen Medien. Wir müssen auch sehen, dass die Kinder jetzt seltener zu den Großeltern gebracht werden und es draußen kälter ist.
Kinder sind Frauensache?
An die Eltern werden unterschiedliche Vorstellungen gerichtet. In Deutschland wird es als selbstverständlich erachtet, dass Mütter sich im alltäglichen Leben mehr um ihre Kinder kümmern. Ganz pragmatisch: Mütter geben mehr Zeit für die Kinder her als Männer, sie sind meist halbtags erwerbstätig. Das zeigt die Statistik deutlich. Ich gehe in meinem Buch ausführlich darauf ein.
Zur Person
Jutta Allmendinger ist eine der bekanntesten deutschen Soziologinnen. Seit 2007 ist sie Präsidentin des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung. Ihre Streitschrift Es geht nur gemeinsam! Wie wir endlich Geschlechtergerechtigkeit erreichen (Ullstein) ist diese Woche erschienen
Ihre Kollegin Lena Hipp hat ein Experiment durchgeführt: Sie hat sich auf Anzeigen beworben und gleiche Lebensläufe verwendet, einmal mit Männer-, einmal mit Frauennamen. Die Länge der Elternzeit hat sie verändert.
Es kam heraus, dass Männer, die zwei Monate oder zehn in Elternzeit waren, in gleicher Häufigkeit zu Vorstellungsgesprächen eingeladen wurden. Bei Müttern wurden dagegen jene viel häufiger eingeladen, die zehn Monate unterbrochen haben statt zwei. Der Grund: Mütter, die nur kurz unterbrechen, wurden als überambitioniert und zu sehr auf die Karriere ausgerichtet eingeschätzt.
Das Bild der Frau als „Mutti“ ist hierzulande tief verwurzelt?
Ja, das habe ich auch selbst erlebt. Mein Kind war gerade zwei Monate alt und ich habe mein Semester als Professorin weitergeführt. Ich dachte, die Studis finden das toll, weil sie den Stoff nicht nachholen müssen. Aber es war genau umgekehrt, weil ich ihnen wie ein überambitioniertes Weib erschien.
Als Ihr Sohn Mitte der 90er zur Welt kam, waren Sie 38 und etablierte Professorin. Klingt doch easy.
Na ja. Ich unterrichtete an der Uni in München und pendelte nach Bremen. Dort lebte mein Partner, der nach der Stillzeit des Kindes zusammen mit einer Kinderfrau unseren Sohn von Dienstag bis Donnerstag betreute. Damals wie heute gilt das Ehegattensplitting. Wenn ich vor Ort in Bremen halbtags gearbeitet hätte, wären Fahrtkosten entfallen, die Miete für die Wohnung in München, die Kosten für die Kinderfrau. Eigentlich hat sich die Professur nicht recht gelohnt, mein Partner formulierte das auch einmal deutlich. Glücklicherweise machte ich mir aber klar, wo ich in einigen Jahren sein möchte, dass ich eine eigene Rente brauchen würde, und maximierte nicht das Hier und Jetzt.
Sie schreiben, Ihr Lebenslauf sei männlich – oder ein ostdeutscher: nie Teilzeit, keine Unterbrechungen, Führungspositionen.
Für ostdeutsche Frauen war eine ununterbrochene Vollzeitbeschäftigung normal, für westdeutsche nicht. Daher der Vergleich. Im Unterschied zum ostdeutschen Modell musste ich mir natürlich die ganze Kinderbetreuung teuer einkaufen – die amerikanische Variante. Unterschiede zwischen Ost und West kann man an den Altersrenten gut ablesen. Ostdeutsche Frauen erhalten fast die gleichen Altersrenten wie Männer, in Westdeutschland erhalten Frauen knapp 60 Prozent der Rente von Männern.
Wer waren Ihre Vorbilder?
In meinem Buch erzähle ich viel von meiner Großmutter, einer selbstständigen Frau, die jeden Tag in ihrem Laden stand, immer gearbeitet hat. Hätte sich mein Großvater scheiden lassen oder wäre tot umgefallen, hätte sich meine Großmutter gegrämt, keine Frage. Aber ihr wäre nicht – im Vergleich zu meiner Mutter – die materielle Existenz weggezogen worden.
Erzählen Sie von Ihrer Mutter …
Sie war finanziell komplett abhängig, hat ihr Leben der Familie gewidmet. Sie war klug, unterlag aber dem kulturellen Druck. Ein Mann hatte alles erreicht, wenn er seine gesamte Familie versorgen kann: „Das gute Westdeutsche“, im Gegensatz zum Ostdeutschen. Als mein Vater mit 45 Jahren starb, hatte sie nichts mehr.
Beide Frauen waren wichtig?
Natürlich. Sie haben mich viel gelehrt.
Sie waren länger in den USA, in Wisconsin, in Harvard, zuletzt am Thomas Mann House. Wie ist das bei amerikanischen Eltern?
In den USA sind „Rabenmütter“ etwas Positives. Wie auch in Frankreich. Denn Rabeneltern, wie die Raben, führen ihre Kinder zu einem selbstbestimmten Leben und bereiten sie darauf vor, schnell flügge zu werden. Bei uns heißt es dagegen, man kümmere sich nicht um Kinder und vernachlässige diese.
Wissen Sie, wo Frauen in Deutschland mehr verdienen als Männer?
Nein.
In Cottbus.
Woran liegt das?
Sie arbeiten vor allen Dingen in der Verwaltung, im öffentlichen Dienst, Männer sind mehr in der Zeitarbeit, nicht in der Industrie. Auch in Frankfurt (Oder), Dessau-Roßlau in Sachsen-Anhalt und in Schwerin liegen Frauen vor den Männern.
Wundert mich gar nicht, dass es alles ostdeutsche Städte sind. Die Frauen arbeiten vor allem Vollzeit.
Die größten Unterschiede sind am Bodensee, ungünstig für Frauen.
Klar. Teilzeit bei Frauen, Vollzeit bei Männern. Vollzeit ist nach wie vor ein Muss für Karriere, ein unhinterfragter Standard. Das Homeoffice führt nun dazu, dass Frauen noch weniger sichtbar sind, weniger im Büro präsent, sie können sich weniger hervortun.
Ist diese Präsenzkultur überholt?
In der Theorie ja, in der Praxis sicherlich nicht. Solange Männer allzeit erreichbar sind, Frauen aber nicht, wird sich daran nichts ändern. Und dann gibt es noch die längeren Unterbrechungen von Frauen aufgrund der Kindererziehung. Diese ungleiche Präsenz oder Verfügbarkeit ist einer der Gründe, warum Arbeitgeber noch immer mehr auf Männer statt auf Frauen setzen.
Man kann Deals aushandeln, Schichtpläne machen, individuell regeln, wer wann mit Kindern rausgeht, arbeitet, kocht. Aber was kann sich nur gesellschaftlich ändern?
In meinem Buch zeige ich, dass sich Frauen über die letzten Jahrzehnte einseitig den Lebensverläufen von Männern angenähert haben, männliche Lebensverläufe dagegen unverändert geblieben sind. Dringend brauchen wir nun einen für mich entscheidenden Diskurs: In welcher Welt wollen wir leben? Wollen wir die Geschlechterunterschiede weiterhin dadurch abbauen, dass Frauen immer mehr zu Männern werden?
Sie fordern die 32-Stunden-Woche für beide. Der Zauberweg zu mehr Ausgleich?
Dies ist der alternative Weg. Männer nähern sich Lebensverläufen von Frauen an. Beide Elternteile würden sich die bezahlte Arbeitszeit und die unbezahlte Haushalts- und Familienzeit besser aufteilen. Zu einem Einbruch des Arbeitsvolumens der Wirtschaft würde das übrigens nicht führen! Frauen gehen mit ihren Arbeitszeiten etwas hoch, Männer etwas runter. Das ist ein grundsätzlich anderes Modell. Junge Paare fordern es zunehmend.
Sie lösen Widerspruch aus, sind aber auch ein Mediendarling.
Ich kann Kritik aushalten und finde konstruktiven Streit wichtig. Als ich bei Anne Will erstmals über die Retraditionalisierung gesprochen habe, wurde ich hart angegangen. Gerade viele männliche Redakteure haben geschrieben: „Als Väter machen wir doch so viel mit unseren Kindern, schaut doch nur auf die Spielplätze.“ Dieses Engagement finde ich toll. Es zeigt, dass alte Standards zumindest hinterfragt werden. Doch das ist nur der erste Schritt.
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