Brigitte-Reimann-Übersetzerin Lucy Jones: „Sie gibt allen etwas Luft“
Interview Brigitte Reimann erscheint 50 Jahre nach ihrem Tod erstmals auf Englisch: Lucy Jones hat „Die Geschwister“ übersetzt und spricht darüber, was die DDR-Ikone heute so interessant macht
Lucy Jones schlägt das Café Butter für unser Treffen vor, eine Institution im Prenzlauer Berg, wo die britische Übersetzerin seit 1998 lebt. Sie spricht fließend Deutsch, mit leichtem Akzent. Jones will englischsprachigen Leser:innen die Werke von Brigitte Reimann nahebringen, einer der ganz großen Schriftstellerinnen der DDR, die mit nur 39 Jahren starb. Zu Reimanns 90. Geburtstag am 20. Februar wird eine Neuauflage ihrer Erzählung Die Geschwister (Aufbau) erscheinen. Lucy Jones’ Übersetzung Siblings kommt bereits diese Woche im Penguin-Verlag heraus.
der Freitag: Frau Jones, was hat Sie an Brigitte Reimann fasziniert?
Lucy Jones: Brigitte Reimann hat mich sofort berührt, sie klingt nicht so, als hätte sie diese Geschichte vor fast 60
mann hat mich sofort berührt, sie klingt nicht so, als hätte sie diese Geschichte vor fast 60 Jahren geschrieben. Sondern sie ist sehr modern. Damit hat sie auch mein Interesse an der Gesellschaft und dem Leben in der DDR geweckt.Sie haben „Die Geschwister“ übersetzt, in der Erzählung von 1963 schreibt Reimann über sich und ihren geliebten Bruder, der in den Westen gehen will.Ja, die Heldin Elisabeth erfährt Ostern 1961, dass ihr Bruder auswandern möchte, und sie will ihn unbedingt aufhalten. Diese schmerzliche Beziehung zwischen den beiden ist nie lauwarm, sie ist extrem, entweder heiß oder kalt. Ich habe erst durch dieses Buch verstanden, was diese Teilung wirklich bedeutet, die da durch Berlin ging. Was das mit den Menschen gemacht hat. Ich habe mir vorgestellt, was das für meine Familie bedeutet hätte.In einer Szene besucht Elisabeth ihren anderen Bruder, der schon in Westberlin lebt. Er lädt sie ins Kempinksi, ganz gönnerhaft, mit „weißen gestärkten Tischdecken“. Es krachen Welten aufeinander. Diese Deinhard-Reklame-Welt kotzt Reimanns Heldin an.Sie ist nicht käuflich, das finde ich sympathisch. Das hat mit emotionaler Zugehörigkeit zu tun. Brigitte Reimann war damals Teil einer Bewegung, die wirklich dachte: Wir bauen jetzt einen neuen Staat. Jugendlich, hitzköpfig, ideologisch. Ein herrliches Gefühl! Was danach kam, war natürlich alles andere als nur glänzend und schön. Aber in diesem Moment war es eine Chance für die Jugend.Es war eine Aufbruchstimmung, so ein „Wir!“-Gefühl, das ich auch aus vielen Erzählungen meiner Eltern kenne.Ja, es ging nicht nur um private Befindlichkeit, ums Ego. Sondern um Gemeinschaft.Brigitte Reimann lebte in Hoyerswerda und organisierte dort im ehemaligen Braunkohlewerk Schwarze Pumpe Literaturzirkel für Arbeiter:innen. Eine fremde Welt für Sie?Ich wusste durch die Tagebücher von Brigitte Reimann schon etwas über diese Welt. Wir haben uns dann beim Übersetzen überlegt, wo es sinnvoll ist, eine Fußnote reinzusetzen. Zum Beispiel muss man britischen Lesern erklären, was VEB bedeutet oder FDJ. Oder das Horst-Wessel-Lied, das auch vorkommt. An einer Stelle zählt Elisabeth auf, welche Gründe es geben könnte, die DDR zu verlassen. Weil man zum Beispiel seinen eigenen Betrieb aufgeben musste. Wir wollten britischen Leser:innen helfen, diese DDR-spezifischen Referenzen zu verstehen, ohne den Lesefluss zu unterbrechen.Elisabeth, eine autobiografisch angelehnte Figur, klopft nachts an der Tür des Parteifunktionärs, trinkt mit ihm (russischen) Wodka und setzt alles auf eine Karte, um den Konflikt zu lösen, der ihr schaden könnte.Sie befindet sich in einer starken, geschlossenen Männerwelt. Und diese Männer sind ihr gegenüber in einer autoritären Funktion. Dieser Parteisekretär, der Bergmann, ist lange nicht menschlich. Es gibt Parallelen in nicht sozialistische Gesellschaften, wo es ähnlich funktioniert. Es geht um Machtmechanismen. Da brauche ich nicht viel Fantasie.Diese Funktionäre sind oftmals alte Antifaschisten, die aus dem Krieg kamen, dort im Widerstand waren und glaubten: Wir stehen auf der richtigen Seite.Und Reimann gibt jedem von denen ein bisschen Luft in ihrem Buch. Es gibt einen Maler, dessen Bilder verkauft werden und in der Kantine hängen. Elisabeth wagt es zu sagen: „Es sind schlechte Bilder.“ Er erfindet irgendwelche Sexgeschichten, damit sie diskreditiert wird. Ganz am Schluss ist er der Verlierer und tut ihr sogar leid. Nichts ist schwarz-weiß. Was mich überrascht hat, war, dass sie auf bissige Bemerkungen oder übergriffiges Verhalten so kleinlaut reagiert. Bis ich verstanden habe: Sie steht allein, sie hat nirgends eine solidarische Stärkung. Sie ist in der Schwarzen Pumpe total abgeschnitten.Placeholder infobox-1Selbst die, die auf ihrer Seite sind, wie der Bibliothekar, wollen es nicht laut sagen.Ja, es muss erst von oben kommen, dass ihr Unrecht getan wurde. Dann sickert es nach unten.Der Bruder wird ausgebremst im Beruf, er resigniert und will aus der DDR auswandern. Man kann auch ihn verstehen.Ja, es ist eine Kollision zweier Glaubenssätze, Weltanschauungen. Sie hocken beide oft in der Kneipe, trinken, tanzen, streiten. „Wie kann man seine Ruhe haben wollen, in diesen unruhigen Zeiten?“, fragt sie ihn. „Vielleicht kannst du es dir ja leisten, aufrichtig zu sein, in deinem Kombinat, in der Taiga … ihr Künstler habt sowieso Narrenfreiheit“, antwortet er. Das macht gute Literatur aus, dass man nicht gezwungen wird, eine Position zu beziehen, sondern immer auch die andere Seite sieht. Ich glaube, dadurch wurde das Buch in der DDR so populär.Weil Reimann etwas riskiert hat, eine Diskussion aufmachte?Ja, sie entwirft nicht die klassische sozialistische Heldin, die alles richtig macht. Sondern sie ist menschlich, fehlerhaft, so wie die anderen Figuren im Buch. Man kriegt nicht einfach ein Bild, sondern man kriegt Widersprüche. Die ruft sie beim Lesen ständig hervor.Können Sie sich deswegen heute mit Reimann identifizieren?Ich musste an den Film Das Leben der Anderen denken, der in Großbritannien sehr erfolgreich lief. Er vermittelt ein seltsames DDR-Bild, das Stasi-Klischee. Es ist ein eindimensionaler Blick auf den Staatsapparat, ohne nachvollziehbare menschliche Perspektive. Ich habe mich bei Reimann an die Stelle ihrer Heldin versetzt, die ihre Linie vor sich selbst immer wieder neu verhandelt. Die von manchen Männern herabsetzend behandelt wird. Es war oft dunkel, kalt, leer, sie ist oft allein. Im wahren Leben hatte Brigitte Reimann ganz zum Schluss wieder Kontakt zu ihrem Bruder.Als er die „Geschwister“gelesen hatte, bat er sie: Schick mir eine Kopie von deinem Buch. Alle meine Freunde im Westen haben das schon.Sie haben wieder angefangen, sich Briefe zu schreiben und politische Diskussionen zu führen. Ich habe übrigens während des Übersetzens noch mal die Neuauflage von Der geteilte Himmel gelesen ...Christa Wolfs Erzählung von 1963, in der es auch um persönliche Zerwürfnisse und die deutsche Teilung geht. Was suchten Sie?Ich wollte sehen, wie sie bestimmte Begriffe übersetzt. Amtsbeschreibungen zum Beispiel oder offizielle Titel, die es nicht mehr gibt. Mir wurde erst jetzt klar, dass es einen Unterschied zwischen Genosse und Kollege gibt. Außerdem hat mich der Schreibfluss interessiert, wie sie die Stimmung eingefangen hat, menschlich, nicht so intellektuell hochgestochen.Brigitte Reimann kannte keine Trennung zwischen ihren gesellschaftlichen Idealen, dem Traum von der gerechteren Welt und dem Privatleben. Das war ihr Stoff, das macht sie heute noch nahbar, ähnlich wie Annie Ernaux.Ja, all ihre Geschichten resultieren aus persönlichen Erlebnissen, aber sie hätte kein so großes Publikum erreicht und Preise bekommen, wenn sie nicht eine herausragende Schriftstellerin wäre. Sie hat eine sehr klare Bildsprache, sie beschreibt Situationen, zwischenmenschliche Beziehungen in all ihrem Zwiespalt, aber sie ist niemals pathetisch. Sie sieht zum Beispiel an Joachim, ihrem Freund in Geschwister, vieles kritisch. Sie ist nicht typisch romantisch. Das ist interessant.Sie hatten vor ein paar Jahren schon Reimanns „Tagebücher“ übersetzt, wie sind die bei den Briten angekommen?Resonanz bekamen sie nur in kleinen Kreisen. Aber es gibt viele britische Verleger, die sich für diese Nische interessieren, für Lutz Seiler, Wolfgang Hilbig, Franz Fühmann, Christa Wolf sowieso. Sie sind übersetzt worden, aber es blieb eben in einer Blase. Eventuell gelingt es dem Penguin-Verlag jetzt, diese Blase zu durchbrechen.Brigitte Reimann würde gut in „unsere apokalyptische Zeit“ passen, sagten Sie dem „Guardian“. Wie meinen Sie das?Angenommen, wir hätten in dieser Zeit, in der wir gerade leben, in dieser gespaltenen Gesellschaft mit so wenig Gemeinschaftssinn, die Möglichkeit, zu sagen: „Komm, wir ändern das und wir starten neu!“ Ich sehe das an meiner Tochter, die gerade 18 und politisch sehr engagiert ist: Sie will die Dinge besser machen. Wie Reimann damals. Sie ist noch nicht ohnmächtig, zynisch und festgefahren. Reimann vermittelte eine Aufbruchstimmung, die wir gebrauchen könnten.Sie kämpfte für ihre Ideale. Und war gleichzeitig schillernd als Frau, als Individuum, sie fiel auf mit zahllosen Affären und nahm sich, was sie brauchte.Und ich finde es total spannend, wenn Frauen nicht immer nur das machen, was erwartet wird. Auch diese Elisabeth im Buch ist nicht brav, sie ist mutig. Sie verrät ihren Bruder, aber sie sagt sich: Scheiße. Scheiße. Scheiße. Sie ringt mit sich selber.Sie stellt auch die Klassenfrage.Die Klassenfrage war in Großbritannien nie weg. Meine Eltern waren links, sozialistisch angehaucht. Sie waren in vielen politischen Gruppen und debattierten beim Abendbrot über kostenlose Schulbildung. Meine Eltern waren beide Lehrer und setzten große Hoffnungen in die Bildung. Mein Vater fuhr einen Wartburg, den er in Manchester kaufte. Wir mussten als Kinder auf Plastikfolie sitzen, weil er so stolz auf sein erstes Auto war. Für viele Briten war Sozialismus ein Schreckgespenst. Für uns waren materielle Dinge nicht so wichtig, eher das Gemeinschaftsgefühl.In England gilt Brigitte Reimann jetzt als „feministische Ikone“. Warum?Sexuelle Selbstbestimmtheit ist in Großbritannien mit ziemlicher Scham behaftet. Man darf nicht nackt in die Sauna gehen, sondern muss den Badeanzug dabeihaben. An meiner Uni gab es früher so eine Postkarte mit zwei Strichmännchen drauf. Das eine ist ein Mann und das andere eine Frau. Der Mann sagt zu der Frau: „Oh, du rauchst Selbstgedrehte.“ Und die Frau antwortet: „Ja, und ich habe auch haarige Beine.“ Wir fanden das zum Brüllen komisch.Warum?Wir wollten damals alle unsere Beine rasieren. Und ich fand es cool, dass diese Frau es nicht tat. FKK war für mich ein Schock, als ich Ende der Neunziger in den Osten kam. Mittlerweile schäme ich mich nicht mehr für all das, was ich als Frau bin.
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