Die Tagebücher von Brigitte Eicke sind ein Archiv eines längst vergangenen Alltags: In ihnen mischen sich Wolf Albach-Rettys Herzschmerz-Filme der vierziger Jahre mit Spritztouren, erste Küsse mit „Flaggenhissen“. Es ist die Welt eines jungen Mädchens im Berlin des Zweiten Weltkriegs. Eicke hat ihr ganzes Leben im Winsviertel verbracht.
Ein halbes Jahrhundert ruhten sie in ihrem Bettkasten – nun sind Eickes Einträge aus den Jahren 1942 bis 1945 öffentlich. Backfisch im Bombenkrieg (Matthes & Seitz) heißt das Buch, die Schriftstellerin Annett Gröschner hat es gemeinsam mit Barbara Felsmann und Grischa Meyer herausgegeben. Aber was erzählen ihre Notizen über den Prenzlauer Berg von heute? Den der restaurierten Fassaden, Biomärkte und neuen Italiener?
An einem sonnigen Vormittag wartet Eicke vor der Immanuelkirche, sie trägt einen weißen Blazer und eine Sonnenbrille. Der Kirchgarten ist verwildert. Hier soll er anfangen, der kleine Spaziergang durch das Viertel zwischen Prenzlauer Allee und Greifswalder Straße.
Wir betreten die Kirche. An den Wänden sind an manchen Stellen Wasserflecken zu sehen. Die Holzbänke sind leer, ein Mann eilt auf uns zu. Ein Kirchenmitarbeiter, er will kurz einen historischen Abriss geben, 1893 sei das Gebäude errichtet worden. „34 Jahre später wurde ich hier getauft“, sagt Eicke. Und im Mai 1949 habe sie in der Kirche ihre Hochzeit gefeiert. „Bekannte haben uns ein lebendiges Kaninchen mitgegeben, wir hatten ja damals nur Fleischmarken und hätten keine Gäste bewirten können. Mein Mann hat Grünzeug besorgt und Mutti hat uns einen Braten gemacht.“
Heiligabend zur Messe
Sie sei damals mit der Kutsche vorgefahren, in einem Kleid aus Fallschirmseide, den Stoff habe sie über eine Annonce bekommen. „Ein Herr hatte ihn für die Heirat seiner Tochter vorgesehen, aber die ist bei einem Bombenangriff gestorben.“ So nüchtern, wie sie das sagt, hätte es auch ein Autounfall sein können. 1959 wurde dann Eickes Sohn in der Kirche getauft. Hat sie den Ort auch zu DDR-Zeiten regelmäßig besucht? „Fromm war’n wa nich, aber wir waren kirchlich“, sagt sie. Heiligabend ging sie zur Messe, ein Ritual eben.
Brigitte Eicke war 1942 Bürolehrling in einem Kaufhaus in den Hackeschen Höfen. Als 15-Jährige fing sie an, ihre Erlebnisse in einem Taschenkalender zu notieren. Mehr als drei Jahre lang hat sie akribisch ihren Alltag dokumentiert. Dann lieh sie sich von ihrer Firma eine Schreibmaschine und setzte sich – verheiratet und schwanger – zu Hause hin, um ihre Anschlagszahl pro Minute zu verbessern. Sie wollte Steno üben und tippte die Notizen auf der Maschine ab.
Das Skript fiel Gröschner bereits vor 20 Jahren in die Hände, als sie eine Ausstellung über die Kriegsjahre in Prenzlauer Berg vorbereitete. „Wir wollten erzählen, was im Kopf dieses Mädchens vorgegangen ist“, sagt Gröschner heute.
Im „La Bohème“ in der Winsstraße fand die Buchpremiere statt, in einem Café also, das die Wandlung der Gegend überlebt hat. Der Raum war voll, manche mussten stehen, viele ältere Menschen waren gekommen. „Ich grüße meine alte Freundin Waltraud, die sitzt heute auch mit unter uns“, sagte Eicke an dem Abend, es klang stolz. Sie saßen und redeten noch lange von früher, bei Stullen und Wein.
Kuhställe statt Spätkauf
Eicke biegt jetzt in einen Hinterhof und begutachtet die hellen Häuserwände dort. Als Kind habe sie hier oft die Konservenfabrik geplündert. Heute ist die ehemalige Fabrik ein Fitness-Center. In der Straße existierten acht Kolonialwarenläden. „Wir sind immer zu Willy Braune gegangen, weil das das nächste Geschäft war“, erinnert sich Eicke. Auf dem Hof des Hauses, der einen Spätkauf beherbergt, standen Kuhställe. Sie brachte dort Kartoffelschalen für die Kühe hin, die tauschte sie bei den Stallbesitzern gegen Brennholz zum Heizen ein.
Eicke überquert mit schnellen Schritten die Immanuelkirchstraße. Heute lebt sie nicht mehr hier, sondern in einer kleineren Wohnung in der Nähe. Sie stoppt vor der Nummer 21, einem der wenigen unsanierten Gebäude. Hier wohnte sie als Kind: Seitenflügel, Stube und Küche, im Parterre waren Drogerie und Seifenladen.
Eicke erzählt vom Hauswirt und seiner Frau, „reiche Leute“, bei denen sie die Miete im Briefumschlag abgegeben hat. Deren Tochter rief dann immer: „Papa, die kleine Eicke ist da.“ Eickes Vater fiel, als sie zwölf war. Sie war die erste Kriegswaise der Gegend. Gab es auch jüdische Familien im Viertel? Auf ihrem ersten Klassenfoto, sagt Eicke, waren noch jüdische Mädchen, drei Jahre später fehlten sie. Einmal habe sie gesehen, wie der jüdische Schuster im Haus gegenüber abgeholt wurde, „mit einem blutigen Gesicht“, so schrieb sie es ins Tagebuch. Sie habe gar nicht bewusst registriert, was da geschehen ist. War das naiv?
Keine Arbeiterkneipen mehr
Sie war ein begeistertes Mitglied im Bund Deutscher Mädels, fast bis zuletzt. „Heute hat unser Führer Geburtstag, wir haben schon Angst vor diesem Tag. Jetzt zweifle ich wirklich bald an dem Sieg“, notiert sie am 20. April 1945. Am nächsten Tag überquerten sowjetische Soldaten die Berliner Stadtgrenze.
Was denkt sie, wenn sie das heute liest? Eicke zuckt mit den Schultern. Dann zeigt sie auf das Haus gegenüber. In der DDR sei das ein Kohlehandel gewesen, der durch eine Luftmine gesprengt wurde. Jetzt kann man dort Luxusapartments für eine halbe Million Euro erwerben. Wir kommen an einem Swinger-Club vorbei, an der Ecke war einst die Kneipe Sadowski. Eickes Vater, Schweinetreiber auf einem Schlachthof, saß da oft nach der Schicht, mit einer Molle und den anderen Männern.
Es gibt keine Arbeiterkneipen mehr in Prenzlauer Berg, keine Arbeiter. Eicke scheint das kaum zu stören. „Früher standen hier keine Bäume“, sagt sie etwas verwundert. Aber ob Häuser herausgeputzt seien oder nicht, das sei ihr „so was von schnuppe“. Sie sieht das pragmatisch. So wie ihr ganzes Leben. Politische Systeme kommen und gehen. Menschen auch. Ihre Straße ist noch da.
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