Cécile Brossard, die schmale Blonde, arbeitet als Serviererin in der Maxim’s-Filiale am Pariser Flughafen Charles de Gaulle. Manchmal begleitet sie wohlhabende galante Herren zum Dîner. An einem dieser Abende, im Jahr 2001, begegnet ihr Edouard Stern. Ein charismatischer Typ, fast zwei Meter groß, mit bernsteinfarbenen Augen, kultiviert, charmant, verführerisch. Ein Prinz der Hochfinanz und erfolgsverwöhnter Banker, Teil der französischen Geld- und Bildungselite. Zunächst Chef der familieneigenen Banque Stern, dann ab 1997 Direktor der Investmentbank Lazard. Nicolas Sarkozy zählt als Bürgermeister von Neuilly-sur-Seine, später als Minister, zum engeren Freundeskreis.
Der „Mozart der Finanzwelt“ begehrt Cécile Brossart – sie wird seine Domina, Mätresse, Geliebte. Die ersten Monate verlaufen harmonisch. Sie hört mit dem Kellnern auf und avanciert zum Luxus-Callgirl. Stern umgarnt sie, spendiert ihr Kleider, bringt ihr bei, wie man Großwild jagt, in Sibirien, Kenia oder Tansania. Er spielt gern mit Waffen, am liebsten beim Russisch-Roulette. Wenn sie einmal ein Rendezvous verweigert, ist Stern tief betroffen und weint. Er braucht sie sexuell – sie träumt von Heirat. Stern führt kein Doppelleben, Cécile Brossart wird nicht versteckt, sondern bei Abendessen und auf Geschäftsreisen präsentiert. Aber das reicht ihr nicht.
Am 28. Februar 2005 wird der Elite-Banker in seinem Genfer Appartement von der Putzfrau gefunden und ist an einen Stuhl gefesselt, sein lebloser Körper steckt in einem rosafarbenen Latex-Anzug. Vier Kugeln aus einer neun Millimeter Smith Wesson haben sein Leben während eines sadomasochistischen Spiels beendet, so scheint es.
Eine berechnende Frau
Wenig später gesteht Cécile Brossard die Tat und wird für schuldig erklärt. Es folgt – vier Jahre später – ein spektakulärer Prozess, in dem darüber befunden wird, ob sie ein „Verbrechen aus Leidenschaft“ begangen hat. Schon bevor die Verhandlung beginnt, wird Brossart öffentlicher Anklage und vernichtendem Urteil unterworfen. Sie habe reich werden wollen, sehr reich. Eine berechnende Frau aus der Vorstadt, so verlockend wie abgebrüht.
Die „Affäre Stern“ nimmt nun richtig Fahrt auf. Alle Rituale und Praktiken einer Liaison dangereuse werden detailliert und genüsslich ausgebreitet. Sterns Familie – seine geschiedene Frau und die drei Kinder – will davon nichts wissen, aber sie muss hören, dass es sich bei Edouard Stern um einen Mann handelte, der einem Raubtier ähnelte und als Liebhaber der Großwildjagd die Beute lieber langsam verrecken sah, als ihr den Gnadenschuss zu geben. Sterns düstere Seite überraschte angeblich eine ganze Branche und die besten Freunde.
Dass für Stern die sexuelle Unterwerfung einer gut honorierten Mätresse auch eine gesellschaftliche ist, lässt er Cécile mehr als einmal spüren. Sie ist 36, als sich beide kennenlernen, und braucht immer mehr Tabletten, um die seelische Balance zu halten, aber sie kommt nicht los von ihm. Schließlich verlangt sie einen Liebesbeweis und träumt davon, der Bankier würde sie heiraten. Stern geht soweit, dies seiner Gespielin schriftlich zu versichern, auch er ist ihr verfallen. Dass Cécile eine Million Euro auf ein Konto überwiesen werden, gilt ebenfalls als abgemacht. Doch verzögert Stern die Transaktion. „Die schönste Art, dieses Geld auszugeben, wäre es, dir alles zurückzuschicken – als Beweis meiner Liebe“, bestürmt sie ihn.
Irgendwann fließt das Geld, doch der Liebesbeweis wird verwehrt. Cécile möchte behalten, was sie erworben hat. Wenige Tage später lässt Stern das Konto sperren. Als sie davon erfährt, führt der Weg ins Genfer Penthouse, sie will ihren Liebhaber zur Rede stellen. „Eine Million ist sehr viel Geld für eine Hure“, fällt der über sie her, schon mit dem Latex-Anzug bekleidet. Dieses eine Wort – Hure! Da sei etwas in ihrem Kopf explodiert, beteuert Cécile im Polizeiverhör. Ihr sei bewusst geworden, „dass er mich niemals heiraten würde“, wird sie vor Gericht erzählen. Sie habe wie ein Automat gehandelt. Vier Schüsse. Wie auf eine Plastikpuppe.
Welch ein Stoff. Der Schriftsteller Régis Jauffret lässt ihn sich nicht entgehen und schreibt den Roman Sévère (auf deutsch: Streng), der 2010 erscheint und in Frankreich für Aufsehen und Aufregung sorgt. Jauffret saß während der sieben Prozesstage im Juni 2009 als Reporter für das Wochenblatt Nouvel Observateur im Gerichtssaal. Der Fall habe ihn von Anfang an gefesselt, lässt er keinen Zweifel. Jauffret schildert das Geschehen aus der Ich-Perspektive einer Frau, die er immer wieder „Sex-Sekretärin“ nennt, und deren innere Welt er ergründen möchte. Es gehe ihm um eine Fiktion, schreibt er im Vorwort, seine Personen seien „Puppen aus Wörtern, Abständen und Kommata“. Was nicht verhindert, dass ihm der Roman einen Eklat beschert. Die Familie klagt gegen das Buch und will es für immer verboten wissen – die „Affäre Stern“ wird vorübergehend zur „Affäre Jauffret“.
Das wiederum ruft viele Schriftsteller und Intellektuelle auf den Plan: Bernard-Henri Lévy, Michel Houellebecq und Jonathan Littell verfassen zusammen mit anderen eine Petition, in der es heißt: „Seit dem Mord sind viele vorgeblich dokumentarische, für das Opfer häufig beleidigende Artikel und Bücher erschienen, die nie eine Klage nach sich zogen. Das zweifelhafte Privileg eines solchen Angriffs und des Rufs nach einem Verbot blieb seltsamerweise einem fiktiven Werk vorbehalten. Mit dieser Forderung macht man das Verbrechen nicht ungeschehen, sondern begeht ein weiteres – am Geist.“ Klingt das übertrieben? Oder wirft es einfach die alte Frage auf: Was darf Literatur? Realität unverschlüsselt abbilden?
Jauffret sagt, er sei lediglich „inspiriert“ worden von einer solchen Affäre, doch die Grenzen sind fließend, wie man das 2003 auch in Deutschland beobachten konnte. Seinerzeit ist Maxim Billers Roman Esra gerichtlich verboten worden. Billers ehemalige Freundin und deren türkische Mutter hatten geklagt, sie seien durch zahlreiche biografische Übereinstimmungen „für weite Kreise“ erkennbar, nicht nur bei Freunden, auch im Beruf und in der türkischen Community. Es handle sich quasi um eine Biografie. Unterstützer wie Joachim Lottmann stiegen für Maxim Biller in den Ring und taten es mit einem Schwur auf die Freiheit der Kunst.
Wegen guter Führung
Die Verstrickung von Vita und Schicksal galt großen französischen Romanciers immer schon als begehrter Stoff, ob Henri Barbusse, Louis Guilloux oder Michel Tournier. Georges Simenon war mit seinen Kriminalromanen ein Meister darin, den Wendepunkt eines Lebens zu erfassen, der aus einem ehrbaren Bürger einen Getriebenen macht – einen Täter, der zugleich Opfer ist. „Mein Richter, ein einziger Mensch soll mich verstehen, und ich möchte, dass Sie dieser Mensch sind“, beginnt der Maigret-Autor seinen Roman Brief an meinen Richter und fährt fort: „Sie waren mein Richter, und es hätte so ausgesehen, als ob ich versuchte, mich zu rechtfertigen. Darum geht es jetzt nicht, das wissen Sie, oder?“ Georges Simenon sucht nicht nach Schuld und Schuldigen schlechthin, sondern nach einer Verwundung der menschlichen Seele, die unheilbar sein kann.
So wird auch Cécile Brossard während des Prozesses von ihren Verteidigern als verletzbare und verletzte Frau beschrieben, gezeichnet und traumatisiert, weil sie als Kind vergewaltigt und Jahrzehnte später von einem Mann wie Édouard Stern psychisch und physisch erniedrigt wurde. Für die Stern-Anwälte hingegen ist sie nichts weiter als ein eiskaltes Callgirl, das Strafe verdient. Und so hört Cécile Brossard am 18. Juni 2009 von ihren Richtern, dass sie für acht Jahre und zwei Monate ins Gefängnis muss. Doch sie kommt schon im November 2010 wegen guter Führung frei.
Ihre Beziehung zu einem der reichsten Männer Frankreichs wird seither in immer neuen Versionen erzählt. Inzwischen steht fest, der Roman Sévère liefert die Vorlage für einen Spielfilm, der bald abgedreht sein soll – mit Laetitia Casta in der Hauptrolle.
Was ist Ihre Meinung?
Kommentare einblendenDiskutieren Sie mit.