Geht am besten früh ans Meer, da ist der Strand noch leer und das Wasser frisch, raten die Einheimischen. Aber auch morgens drückt die Sonne schon. Am Rande des steinigen Weges zum Strand im toskanischen Badeörtchen Vada hocken die schwarzen Händler und haben Strohhüte in mehreren Reihen auf der Erde ausgebreitet, zwischen den Bäumen wehen bunte Strandtücher an dicken Leinen.
An der Stelle, an der wir unsere Decke ausbreiten wollen, liegt ein zusammengeklappter Sonnenschirm, den muss wohl einer vergessen haben. „Scusi, der Platz ist reserviert“, erklärt ein braun gebrannter, weißhaariger Signore. Wie, reserviert? „Ja, für meinen Freund, der kommt heute Nachmittag.“ Auch am Spiaggia libera, dem freien Strand, sind Plätze umkämpft.
Eine schwangere schwarze Frau steuert auf uns zu, schleppt Sonnenbrillen, Hüte und Kleider auf dem Arm. Bevor ich „No, grazie“ sagen kann, verhandelt meine deutsche Bekannte schon. „20 Euro für so einen Hut? Den bekomm’ ich in Pisa für 5!“ Ich sehe sie strafend an. „Das ist kleinlich, davon würde die Frau nur ein paar Cent bekommen.“ „Tut sie doch sowieso, den Rest bekommt die Mafia“, weiß meine Bekannte. „15?“, sage ich.
Komm, fahren wir nach San Vincenzo, sagt mein Mann abends, zu MusicaStrada, einem Festival, das im Sommer durch toskanische Dörfer und Kommunen wandert. An diesem Abend tritt Bobo Rondelli auf, Liedermacher und Ikone aus Livorno, ein melancholischer Clown, der von den Ausgestoßenen, den disgraziati singt. Am Hafen von San Vincenzo ankern blanke Yachten, ein improvisierter Imbiss vertreibt frittierte Sardellen und Weißwein. Die Sonne sinkt, in dem winzigen Amphitheater am Tyrrhenischen Meer sammeln sich immer mehr Menschen. Rondelli rockt seine Lieder, die hier alle mitsummen. Dann macht er eine Pause. „Das geht bei uns ja gerade in eine schräge Richtung“, ruft er. „Jetzt haben die auch noch Pisa und Siena!“ Mit „die“ meint er die Rechten, die Lega und deren Wähler. Die toskanische Linke hat ihre Bastionen verloren. „Matteo Salvini nutzt die armen Afrikaner für seine Propaganda aus“, ruft der Sänger, „und zeigt sich am Strand mit freiem Oberkörper, wie Mussolini.“ Verhaltener Applaus.
Der nächste Abend, Aperitivo al Bar. Ich nehme mir fest vor, nicht über Politik zu reden. Auf dem kleinen Platz im Schatten der großen Kastanie schaut man dem Treiben zu, alten Männern beim Kartenspielen, den Goldfischen, die im Brunnen schwimmen. Drinnen am Tresen steht der Pitbull, so nennen sie den grau melierten ewigen Berlusconiano. „Und, wie geht’s Merkel?“, begrüßt er mich. Er grinst etwas hämisch. Bestimmt besser als Silvio, erwidere ich. „Berlusco, der ist doch der einzige, der weiß, was Italien braucht.“ Wer noch an Berlusconi glaubt, gilt heute als moderat.
Lieber noch einen Prosecco
Rambo betritt die Bar, rundlicher Mann, kindliches Gesicht. Seit er einmal bei einer Jagd mit dem Gewehr wie von Sinnen auf einen Hund eindrosch, trägt er seinen Spitznamen. „Ciao bella, wie war’s am Meer?“ Ziemlich heiß. Und, bei ihm so? „Na ja“, sagt er, „die Flüchtlinge.“ Was meint er? „Die bekommen bei uns 35 Euro am Tag, ohne was dafür zu tun. Das Geld landet in den Taschen der Kommunen. Und wir, die Italiener? Wir bekommen nichts. Niente!“ Rambo war Mechaniker, wurde arbeitslos, weil sein Betrieb dicht machte, und verdingt sich jetzt mit Ende 30 als Gärtner bei Privatleuten. „Renzi und die Linke haben nichts dagegen getan, dass ich meinen Job verloren habe.“ Mit der Lega seien endlich die Richtigen dran. Un altro Prosecco?
Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Mir fällt keine Antwort ein, vielleicht weil es keine einfache gibt. Die anderen kommen, wir ziehen weiter, Freitag ist Pizzatag. Alle sitzen draußen an einem großen Tisch auf der Terrasse vor der populären Circolo-Bar. Der Bürgermeister schaut vorbei, grüßt eilig, ein letzter Sozialdemokrat. Auch in Castellina wird die Fünf-Sterne-Bewegung populärer. Auf dem Tisch liegt Il Tirreno, die Lokalzeitung, blättert man sie durch, ist da auch schon wieder ein hemdsärmeliger Innenminister Salvini. Und wieder darf ein Schiff nicht einlaufen. „Richtig so“, sagt Marco, mit dem ich eben nicht über Politik reden wollte. „Willst du sie im Meer sterben lassen?“, frage ich. „Oh, no, basta con questo buonismo!“, sagt Marco genervt, rudert mit den Armen durch die schwüle Luft und Rambo nickt. Noch einen Chianti.
Buonismo – dieses Wort fällt hier häufig, und es dauert eine Weile, bis ich verstehe: Es ist die italienische Variante von „Gutmensch“. Mitte der 1990er Jahre wurde der Begriff von Professor Galli della Loggia in einem Editorial der Zeitung Corriere della Sera erwähnt – und er weist historische Parallelen zu dem von den Faschisten instrumentalisierten „Pietismus“ auf, mit dem nach 1938 Menschen herabgesetzt wurden, die sich für Juden und gegen die Rassengesetze eingesetzt haben. Heute ist Buonismo allgegenwärtig. Der Schriftsteller und Journalist Roberto Saviano forderte vor einer Weile die Abschaffung des Begriffs, da dieser zu einer Art Wappenschild gegen jeden vernünftigen Gedanken geworden sei, der über Wut hinausgehe. Das Wort hat eine soziale und politische Funktion, um Humanität und Großzügigkeit in der öffentlichen Debatte zu diskreditieren.
Salvini betreibe „cattivismo“, Schlechtmenschentum, schreibt die linksliberale Repubblica. Freund oder Feind, Spaltung. Opfer werden zu Tätern erklärt.
Die Pizzateller sind leer, noch vor den Dolci fliegen Begriffe wie Globalisierung, Marx, Ökonomie und der Kleine Mann durch das laue Abendlüftchen. Und immer wieder Renzi und die Linken, die sind an allem schuld. Die Leute arbeiten sich noch immer daran ab, aber über Nachrichten rassistischer Anschläge auf Schwarze, die sich häufen, regt sich hier keiner auf. Die werden so hingenommen. Das seien sicher Drogendealer gewesen, sagt einer am Tisch. Keiner widerspricht. So schleicht sich die Sprache der Lega ein.
„Das Problem ist doch eher ein soziales“, sagt Claudia Mannari, 50, Sozialarbeiterin in einer der Kooperativen, die jeden Tag mit Flüchtlingen zu tun haben. Sie organisiert Theaterstücke, Sprachkurse, gemeinsame Essen, um sie in der Kommune zu integrieren. Darum gehe es, sie nicht mehr als Fremde wahrzunehmen. Diese 35 Euro täglich, über die sich viele Italiener aufregen, würden die Kooperativen erhalten, die sich um Flüchtlinge kümmern. Dies decke die Kosten für Unterbringung, Reinigung, Personal. Die sozialen oder kulturellen Zentren müssen der Verwaltung regelmäßig einen Finanzplan vorlegen, der dann von der regionalen Behörde und vom Innenministerium bestätigt oder abgelehnt wird. Je nach den Bedingungen, je nach Höhe der Mieten und freien Plätzen können die Summen von Region zu Region variieren.
In der Tasche der Migranten landet kaum etwas. 2 Euro 50 Taschengeld bleiben übrig, für kleine tägliche Ausgaben wie Wasser, Telefonieren mit Verwandten, Zigaretten, Kaffee. Aber das will kaum einer hören.
Am Wochenende, beim jährlichen Fest Cucina Povera, der Armenküche in Castellina, sind überall im Ort Stände aufgebaut, an denen man einfache Gerichte probieren kann, wie die traditionelle Zuppa alle Pavese und Landwein. An einem der Stände aber sitzen zwei ältere Vertreter der ANPI, der Associazione Nationale Partigiani Italiani – dem Verein der Partisanen. Auf dem Tisch vor ihnen liegen Flyer, darauf steht in fetten Lettern Antifascismo. Auf einem der Zettel kann man gegen Rassimus unterschreiben, drei Leute haben das bis jetzt schon getan.
In einer Ecke auf dem Hügel steht ein junger Gitarrist, hinter ihm erstrecken sich Olivenhaine und Castellos. Er spielt die ersten Akkorde von Bella Ciao. Nach ein paar Zeilen bricht er ab, ein kleiner Scherz, sagt er, das Lied sei nicht mehr in Mode. „No, no“, ruft ein älterer Herr auf einer Holzbank mit heiserer Stimme, seinen Teller Linsen hat er aufgegessen. „Wir brauchen das Lied, gerade heute.“
Der Urlaub neigt sich dem Ende zu. Noch ein Trip nach Florenz. Ein wenig abseits der Touristenwege gerät man in eine Gasse, die Via Toscanella. Ein Mann sitzt auf der Bank vor einer Osteria und raucht. Wir kommen ins Plaudern, Essen und Literatur. Dann deutet er auf das Haus gegenüber: Dort habe Giovanni Boccaccio seine Kindheit verbracht, der Autor des Dekameron. Wir flanieren weiter, über die Brücke des Arno, durch das Porta Romana, ein stattlich-römisches Tor. Dahinter führt die unauffällige Via Senese zum Künstlerhaus Villa Romana. Der deutsche Maler Max Klinger hat diese klassizistische Villa 1905 gegründet, in der Künstler arbeiten und leben können. Max Kolbe, Ernst Barlach oder Käthe Kollwitz hielten sich dort auf. Besuch bei Jeewi Lee, einer südkoreanischen Künstlerin aus Berlin, einer der vier Preisträgerinnen dieses Jahres. Die 31-Jährige führt durch die stilvolle, aber nicht elitär anmutende Villa. In einem der Kunsträume läuft die Ausstellung Schengen. An kalkweißen Wänden hängen Fotografien afrikanischer Migranten und von den Dingen, die sie zurückgelassen haben, Koffer, Familienalbum, Erinnerungen an ihr früheres Leben.
Mitten im Raum sind Bananen-Boxen aufeinandergestapelt, auch eine Bananenskulptur aus Holz ist zu sehen. Menschen und Güter kamen auf Schiffen aus Afrika, der Karibik oder Südamerika in den Westen. So soll die Ausstellung auch an frühere Sklavenrouten erinnern. Identität, die über Grenzen geht, und das Mittelmeer, Legalität und Menschlichkeit: Die Villa Romana ist ein Ort der Kunst, aber was politisch geschieht, will man nicht ausblenden.
So spielt jetzt die Musik
So gebe es gerade eine Diskussion unter den Künstlern, ob man den Roma und Sinti eine der nächsten Ausstellungen widmen solle, erzählt Jeewi Lee. Innenminister Salvini hatte angekündigt, diese zählen zu lassen. „Wir überlegen, ob man als Institution nicht durch seine Mittel und das breite Publikum, das man erreicht, ein Statement abgeben sollte – um Leute wachzurütteln und zum Nachdenken zu bringen“, sagt Lee. „Oder ist das dann erst recht die Stigmatisierung einer Gesellschaftsgruppe, wenn man das aus seiner deutschen etablierten Position heraus oberflächlich betreibt?“
Es ist Aperitivozeit, auf der Dachterrasse eines Florentiner Hotels kann man einen herrlichen Blick und Campari Spritz zu Barpreisen bekommen.
Als es dämmert, steht der Liedermacher Francesco De Gregori, einer der wichtigsten cantoautori des Landes, auf der Bühne des Piazza della Santissima Annunziata, von den Arkaden eines ehemaligen Waisenhauses umrahmt. „Vai in Africa, Celestino“ – Geh nach Afrika, Celestino, singt er. In diesem Lied ist alles zerbrochen. „Ognuno è vittima ed assassino“ – jeder ist Opfer und Täter. Sein Kommentar zur Lage des Landes? „Viva l‘arte, viva la musica!“, ruft er am Schluss. Was hatte Salvini gesagt? „La musica è cambiata in Italia“:In Italien spielt jetzt eine andere Musik.
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