„Du hast ja Humor!“

Interview Die „Freitag“-Redakteurinnen Jutta Voigt und Ulrike Baureithel treffen sich zum Ost-West-Gipfel
Ausgabe 45/2015

Sie klingen rau, die Geschichten, die man sich über die ersten Begegnungen zwischen den Ost- und den Westfrauen der neuen Zeitung der Freitag erzählt. Wie konnten sie sich so fremd sein, selbstbewusste Journalistinnen, die doch ähnliche Werte teilen mussten? Zum Wiedersehen nach mehr als zehn Jahren bringt Jutta Voigt, eine Ostredakteurin der ersten Freitag-Stunde, Rosen mit ins Restaurant. Im Lauf der Unterhaltung mit Ulrike Baureithel aus dem Westen wird dann mehr gelacht als gestritten.

der Freitag: Ulrike, als du beim „Freitag“ ankamst, hast du als sogenannte Frauenredakteurin angefangen. Wie hast du das damals erlebt?

Ulrike Baureithel: Als die Volkszeitung mit dem Sonntag fusionierte, war die Frauenseite von Anfang an ein Problem. Vor allem meine Ostkolleginnen konnten nichts mit ihr anfangen. Damit war dann auch vieles, was ich vorher mehr oder weniger mühevoll durchgesetzt hatte, in der Zeitung passé. Das große I beispielsweise, die geschlechtssensiblen Sprachregelungen, alles weg. Und ich hatte den Eindruck, dass meine Westkollegen dachten: Endlich sind wir das los. Ich empfand mich als Frauenredakteurin plötzlich marginalisiert. Die Zeitungsseite stand dann 1991 noch einmal zur Disposition, und die Ostkollegen haben gesagt, dass man die Frauenthemen doch auf allen Seiten unterbringen könne. Was im Prinzip richtig war, nur in der Praxis nie funktioniert hat, weil es immer Wichtigeres gab.

Jutta Voigt: Mit einer Frauenseite konnten wir nichts anfangen.

UB: Ich erinnere mich noch an unsere Fusionsverhandlungen in Ostberlin, als wir uns kennenlernten. Ich saß da, in der großen Runde, als die über die Seite herzufallen begannen.

Wer sind denn „die“?

UB: Soweit ich mich erinnere, waren es vor allem die Ostfrauen, die fragten, wofür man eine Frauenseite brauchen würde, das sei doch total unemanzipiert! Ich habe mir dann überlegt zu kündigen. Ich hatte eigentlich keine Lust mehr auf solche Kämpfe.

JV: War das wirklich so feindlich?

UB: Ich habe es so empfunden. Ihr wart so empört und ziemlich überheblich.

JV: Wir waren fassungslos. Eine Frauenseite hielten wir für Platzverschwendung, was natürlich ungerecht war. Wir wussten ja doch einiges vom Feminismus, und ich hatte diese ganzen Feministinnen kennengelernt, die „den Männern die Schwänze abschneiden“ wollten, das hielt ich für kein wirkungsvolles Vorhaben.

UB: Was aber ein Klischee ist, das mit den Schwänzen.

JV: Was sollten wir mit einer Frauenseite, wir hatten genug von Ideologie. Und dann kamen diese Duzer an und bestanden auf das große I. DuzerInnen also.

UB: Ihr habt euch alle gesiezt!

JV: Ja, weil es in der DDR dieses verlogene Genossen-Du gab. Der Sonntag war eine Nischenredaktion, wir haben uns gesiezt, obwohl wir uns mehr als 20 Jahre kannten. Das Sie war ein Zeichen des Individuellen, ein Spiel mit dem Bürgerlichen; wir wollten ja auch lieber mit der Zeit fusionieren, da siezen sie sich noch heute.

UB: Bei uns wurde ganz selbstverständlich geduzt. Und als wir dann fusionierten mit dem Sonntag, gab es keine Hierarchien mehr, die Chefredaktion war ja zunächst abgeschafft worden.

JV: Nach der Wende haben wir gesagt, jetzt können wir uns auch duzen, jetzt ist sowieso alles egal.

UB: Dem sind aber nicht alle von euch gefolgt. Es gab Kollegen, die sich bis zur Rente gesiezt haben.

Zur Person

Ulrike Baureithel stieß Anfang 1990 als Frauenredakteurin zur damaligen Volkszeitung, später der Freitag. Sie war auch als Wissenschafts-, Zeit- geschichts- und Inlandsredakteurin tätig, heute ist sie feste freie Autorin

Die Ostfrauen haben sich als emanzipiert begriffen. Mussten die auch um etwas kämpfen?

JV: Ja, für die Veränderung der Verhältnisse in der DDR und gegen langweiligen Journalismus. Dass die Männer mehr im Haushalt machen sollten, war kein Kampf, eher eine Nörgelei, sie haben die Mülleimer runtergebracht und schwere Sachen eingekauft, dafür haben sie sich weniger um die Kinder gekümmert. Das würde sich ändern, davon waren wir überzeugt. Wir haben uns als Übergangsfrauen gesehen und grollend die Doppelbelastung ertragen, ohne uns weniger selbstbewusst zu fühlen; das würden wir schon noch schaffen, dass die Männer sich weiterhin ändern. Solange hatten die Frauen einmal im Monat Haushaltstag, für Friseur, Kosmetik und anderes Schönes.

Meine Mutter hatte den auch.

JV: Ich konnte dem Feminismus nie was abgewinnen. Wäre ich allerdings im Westen sozialisiert worden, wo Frauen bis 1977 ihre Männer fragen mussten, ob sie arbeiten dürfen, wäre ich bestimmt eine Emanze geworden. Übrigens erwähnte Angela Merkel diese Tatsache neulich in irgendeinem Zusammenhang, sie sagte „in Deutschland“ sei das so gewesen, ohne zu erwähnen, dass es diese Absurdität in der DDR natürlich nicht gegeben hat.

UB: In bestimmten sozialen Milieus im Westen, bei den jüngeren Leuten, war das damals schon anders. Ich hatte mit Männern zu tun, die durchaus den Abwasch gemacht und sich an der Hausarbeit beteiligt haben. Und das ist ja auch etwas banal, das war nicht der Grund für eine Frauenseite in der Zeitung.

2011

Wikileaks Es ist das Jahr von Julian Assange und seiner Aufklärungsplattform. Immer wieder veröffentlicht er hochsensible US-Dokumente, zumeist in Kooperation mit dem Guardian. Der Freitag deckt im August auf: Wikileaks hat die brisanten Unterlagen für jedermann zugänglich ins Netz gestellt und gefährdet dadurch viele Informanten. Assange ruft nachts bei Augstein an, um die Veröffentlichung im letzten Moment zu verhindern. Wir drucken die Story trotzdem. Die Geschichte macht Schlagzeilen, nicht nur in Deutschland, sondern weltweit.

Warum ging es damals in der Redaktion so hart zu?

JV: Ich habe das nicht als hart empfunden, eher als ein Spiel mit den Gegensätzen. Die Westler haben uns scheel angesehen, weil wir angeblich zu wenig Meinung, zu wenig Haltung zeigten.

Ihr wolltet schön schreiben.

JV: Ja, die Konzentration auf das Handwerkliche hat uns damals beim Sonntag gerettet. Es gab etwa die Kolumne „Berliner Abende“ (siehe nächster Artikel), und ich weiß noch, wie ein Redakteur in einer Sitzung in wunderbarem Ruhrgebietsdialekt gesagt hat: Also ich kann ja damit gar nichts anfangen. Aber die Leute, die mögen dat.

UB: Auf der Frauenseite der Deutschen Volkszeitung – eine der ersten Frauenseiten überhaupt – ging es vor allem um soziale Probleme. Die war damals ja nicht feministisch, diesen Begriff kannte man gar nicht. Das hat sich erst mit der Zeit, eigentlich erst in den 80er Jahren entwickelt. Als ich die Seite 1990 übernahm, wollte ich sie auch für feministische Debatten öffnen. Und zumindest für die Westleserinnen wäre es ein Bruch gewesen, wenn die Frauenseite damals einfach eingestellt worden wäre.

Als ich 2010 beim „Freitag“ anfing, war ich manchmal irritiert von den starken Debatten: Wie konnten die sich alle so sicher sein in ihrem Denken?

UB: Ich weiß gar nicht, ob wir wirklich sicher waren. Denn im Unterschied zu uns, die wir eher vom Rand her kamen, waren die Ostkollegen in der DDR wer. Sie repräsentierten das gebildete Bürgertum, waren in ihrer Gesellschaft durchaus etabliert.

Was bedeutet bürgerlich?

UB: Uns kannte man nicht, die Zeitung wurde nur in einem bestimmten Milieu gelesen. Und wir waren vom Habitus her nicht bürgerlich. Als wir, noch als Volkszeitungs-Redaktion, im damaligen Radiorundfunkheim am Bestensee 1990 eine Klausurtagung abhielten, erschien ein Kollege mal in der Badehose im Speisesaal. Alle guckten, nur er fand nichts dabei. In den Redaktionsräumen in der Oranienstraße war es im Sommer manchmal sehr heiß unter dem Dach. Da sind einige auch schon mal in der Badehose rumgelaufen.

JV: Nein!

UB: Doch.

2012

Fragebogen In der Themenausgabe zum Jahresende schmeckt dem Freitag „Nostalgie“ weniger nach Lebkuchen, Pfeffernuss und Thomas Manns Weihnachtsgeschichte. Viel mehr gilt das Wort Heinrich Heines: „Der heutige Tag ist ein Resultat des gestrigen. Was dieser gewollt hat, müssen wir erforschen, wenn wir zu wissen wünschen, was jener will.“ Noch mal gerafft: Das Gestern ist das neue Morgen. Es wird mit dem Eindruck gebrochen, Nostalgie sei Verklärung, und ein Fragebogen angeboten, mit dem der Leser sein nostalgisches Potenzial testen kann.

Und in welchen Klamotten sind die Kolleginnen und Kollegen aus dem Osten rumgelaufen?

UB: Ich kann mich daran erinnern, dass Jutta immer sehr schick war – für DDR-Verhältnisse, wenn ich das so sagen darf. Nicht so alternativschick, was es ja damals auch schon gab.

Was hat euch noch überrascht?

UB: Die Ostler haben uns bei Festen immer unter den Tisch gesoffen. Diese Schnapsrunden, das war schrecklich.

JV: Das war doch nett.

Schnapsrunden?

UB: Na ja, es gab ja viele Anlässe zu feiern. Die Ostkollegen konnten richtig trinken. Das waren so Momente, Situationen, bei denen man sich ein bisschen näher kam.

JV: Eben. Jetzt geben wir denen erst mal was zu trinken.

Zur Person

Jutta Voigt ist in Ostberlin groß geworden und war Redakteurin bei der Wochenzeitung Sonntag, beim Freitag und der Wochenpost. Sie hat als Autorin verschiedene Bücher veröffentlicht, zuletzt Spätvorstellung

Gab es andere Situationen, in denen ihr euch annähern konntet?

UB: Einmal saß Jutta während der Redaktionssitzung neben mir, das war in der Zeit des Golfkriegs, 1991. Da ging es immer um die Frage von Krieg und Frieden, das war schwierig. Wir hatten das Gefühl, die Ostler wollten sich nicht positionieren, die Westbelegschaft war gespalten. Ich sagte irgendwas, ich hab vergessen was, da sagte Jutta plötzlich zu mir: „Mensch, du hast ja doch Humor.“ Ich dachte: Wie denkt die eigentlich über mich? Ich war konsterniert.

JV: Das war eine Liebeserklärung.

Viele Ostfrauen hatten schon erwachsene Kinder, von den Westfrauen aber kaum eine. Woran hat das eigentlich gelegen?

UB: Die Ostkollegen waren ein gutes Stück älter als wir. Einige der West-Jungs waren erst Mitte, Ende 20, als sie zur Zeitung kamen. Ich selbst war auch noch relativ jung und mit einem Mann zusammen, der eigene Kinder hatte. Dieses Thema stand also gar nicht zur Debatte für mich.

JV: Ihr habt ja die Männer sogar dazu gebracht, sich sterilisieren zu lassen.

UB: Ach, hast du das so wahrgenommen? Ich nicht. Vielleicht wollten die Männer den Frauen ja die Last der Verhütung nehmen.

JV: Da haben sich die Männer ja vollkommen untergeordnet.

UB: Man muss bei der Kinderfrage einfach berücksichtigen, dass die soziale Absicherung im Osten für Frauen mit Kindern besser war. Wenn du im Westen ein Kind hattest und keinen Mann dazu oder Eltern, die dich unterstützten, warst du bis in die 90er Jahre hinein ein Sozialfall. Es gab zumindest im Süden und Westen der Bundesrepublik kaum Kita-Betreuung, es gab damals kein Erziehungs- oder gar Elterngeld. Nichts.

2013

Alternative Im September wird der neue Bundestag gewählt. Die Redaktion zeigt, dass sie nicht nur kritteln kann und veröffentlicht kurz vor der Wahl ihr eigenes Regierungsprogramm: Gefordert wird unter anderem ein bedingungsloses Grundeinkommen, eine refor-mierte Verfassung und kostenloser Netzzugang für alle. Eine politische Konstellation, mit der man diese Ziele hätte erreichen können, kommt nicht zustande. Aber das kann ja noch kommen. Der Freitag jedenfalls wird auch weiter für Rot-Rot-Grün eintreten.

Beim „Freitag“ bekommen im Moment viele Kollegen Kinder.

UB: Ich kann nicht für die Kolleginnen und Kollegen sprechen. Aber in meinem privaten Umfeld habe ich das Gefühl, dass das bei jüngeren Frauen manchmal auch ein gewisser Fluchtreflex ist. Der Erziehungsurlaub erlaubt ja auch einen gewissen Freiraum, um aus den stressigen Arbeitsverhältnissen rauszukommen. Und ist es nicht eine Illusion, zu glauben, dass man mit Kindern nicht allein sein würde?

JV: Ich finde schon, dass man mit Kindern nicht allein ist. Meine zweite Tochter ist 1978 geboren, das war eine Zeit, in der ich das Gefühl hatte, es geht weder vor noch zurück in dieser erstarrten DDR. Ich habe damals ein zweites Kind als das Einzige empfunden, für das es sich anzustrengen lohnt.

UB: Kinder als Sinnstiftung?

JV: Genau so ist es. Es war ja auch nicht so, dass wir so viel gearbeitet hätten, dass wir nicht zur Besinnung gekommen wären.

UB: Die Ostkollegen hatten in der DDR tatsächlich mehr Zeit, um ihre Arbeit zu machen, das war entspannter. Ich erinnere mich daran, dass mir mal eine Kollegin erzählte, sie arbeite monatelang an einem Artikel. Und Kinder, das muss man hinzufügen, bedeuteten für Frauen im Westen bis dahin ja nicht nur einen Karriereknick, sondern oft auch Altersarmut.

Weil bis in die 90er hinein Kinder bei der Rente nicht berücksichtigt wurden.

UB: Ja, und wenn dir der Mann abhanden kam, der dich versorgt hat, gingst du in die Altersarmut, daran änderte auch der Rentenausgleich bei der Scheidung nicht viel. Ich habe viele Freundinnen, die kinderlos sind. Es war aber nicht unbedingt so, dass man sich hingesetzt hat und entschied, nee, ich will keine Kinder. Man ist da oft eher reingerutscht.

Der „Freitag“ hat mittlerweile eine Genderseite.

UB: Ja, der Feminismus ist marktgängig geworden. Es gibt eine jüngere Frauengeneration, die sich wieder zu feministischen Positionen bekennt, das aber besser als wir früher auch auf dem Markt platzieren kann. Und die Themen haben sich geändert, die Vorstellungen von einer gendergerechten Gesellschaft drehen sich oft um Quote, Karriere, Vereinbarkeit. Früher wollten die meisten Feministinnen ja die ganze Gesellschaft verändern.

JV: Die Frauen haben zumindest erreicht, dass Männer sich um ihre Kinder kümmern. Das ist ein Riesenfortschritt. Obwohl es mitunter auch eine ästhetische Herausforderung ist.

2014

Zukunft Mit der Einführung einer Web-App betritt der Freitag digitalökonomisches Neuland. Neben der Webseite und der Druckausgabe gibt es von nun an eine elektronische Fassung der Zeitung, die man bereits Mittwochabend kaufen und auf den verschiedensten Endgeräten lesen kann. Die Web-App erfreut sich stetig steigender Abozahlen – nicht nur wegen des Inhalts, sondern auch wegen der Gestaltung. „Kein Schnickschnack“, wie es ein Leser ausdrückte.

UB: Das empfindest du als ästhetische Herausforderung?

JV: Wenn so ein properer Papa mit Bauch so ein Baby vor genau diesem Bauch hängen hat, dann hat das auch eine gewisse Komik, und man fragt sich: Wer war hier eigentlich schwanger? Das ist doch wunderbar, da sind ganz neue Silhouetten zu bewundern, es geht vorwärts.

UB: In dieser Hinsicht hat sich tatsächlich etwas verändert. Das hat einerseits sicher mit dem Elterngeld zu tun, aber es haben sich andererseits auch die Leitbilder verändert.

Und auch die Praxis, da bringen sich Männer ein.

UB: Studien sagen allerdings, dass das Gros der Hausarbeit immer noch an den Frauen hängen bleibt. Das ist nach wie vor so. In die Kinderbetreuung hängen sich die Männer mit rein, aber die profane Hausarbeit wird vielfach immer noch geschlechtsspezifisch geteilt. Andererseits behaupten andere Studien, dass Frauen gelegentlich auch Probleme damit haben, wenn sich Männer in „ihr“ Terrain einmischen.

Es ist oft von beruflicher Karriere und Familie die Rede, als wären es Gegensätze. Aber ist das nicht veraltet?

JV: Für mich schon lange.

UB: Veraltet vielleicht. Aber in der Realität offenbar noch relevant. Jüngere Frauen sollen heute alles besonders gut hinkriegen: Karriere machen, die perfekte Mutter sein, den Haushalt im Griff behalten und dabei auch noch attraktiv und sexy wirken. In meinem politischen Umfeld gab es bis in die 80er Jahre hinein noch die Karriereverweigerinnen: Beruf ja, Kinder vielleicht, aber es ging auch um politische Veränderungen. Wir wollten etwas anderes, als es den Karrieremännern gleichzutun und die sogenannte soziale Leiter emporzuklimmen.

Als ihr jung wart, gab es eine Idee, etwas, womit man sich identifizieren konnte.

JV: Kürzlich sagte meine Tochter: „Ihr hattet es gut als Generation, ihr hattet die Stones, ihr hattet die Beatles, die Hippies, ihr hattet die 68er, zwar nur im Westen, aber das war ja nahe dran.“ Heute redet man schon mit 30 über die Rente, wie deprimierend. Diese Existenzangst ist doch furchtbar. Man sollte leben, nicht Angst haben.

Soll man soziale Ängste lieber verdrängen?

JV: Nicht verdrängen, aber wenn es irgend geht, nicht sein Leben davon bestimmen lassen.

UB: Irgendwann um meinen 40. Geburtstag herum habe ich von der BfA auf einem Seminar für Journalistinnen meinen ersten Rentenauszug bekommen. Ich war schockiert. Damals habe ich mir zum ersten Mal Gedanken über meine Rente gemacht. Dann fängst du plötzlich an, irgendwelche blödsinnigen Versicherungen abzuschließen.

JV: Das ist die pure Angstmache.

UB: Na ja, die Existenzangst ist ja durchaus real. Aber wir wollten die Welt ja mal verändern und haben uns da nicht so den Kopf gemacht.

JV: Ich wollte die Welt nicht mehr verändern. Ich hätte nur im Traum daran gedacht, nach 1989 die linke Idee noch hochzuhalten. Jetzt gibt es eine große Leere zwischen all dem Coaching, all den Ratgebern, all der Selbstoptimierung, diesem Leben zwischen Fitnessstudio und heimlicher Verzweiflung. Der Kapitalismus wird sich weiter reformieren, da wird sich erst mal eine ganze Weile gar nichts verändern.

2015

Salon Der Freitag hat einen neuen Medienpartner: den Berliner Sender Radio Eins. Seit September ist Jakob Augstein einmal im Monat mit einem Gast live aus dem Berliner Gorki-Theater zu hören. Wer hätte das gedacht, als vor sechs Jahren der erste Freitag-Salon in einem Off-Theater im Prenzlauer Berg stattfand? Erster Gast war damals Daniela Dahn.

Vielen fällt es schwer, gegen etwas zu rebellieren, weil die Dinge oft sehr abstrakt sind.

UB: Es gab eben die TTIP-Demo. Da waren so viele Leute, junge und alte, die sich engagiert haben.

JV: Gegen die Globalisierung.

Wer waren früher eure Vorbilder?

JV: Ich hatte nie Vorbilder.

UB: Den Begriff Vorbild finde ich schwierig. Aber es gab einige akademische Feministinnen, die mich stark beeinflusst haben, das schon. Davon abgesehen habe ich beruflich viel mit dem Nationalsozialismus zu tun und begegne in den Quellen immer wieder Menschen, die mich beeindrucken. Kürzlich war ich bei einer Lesung einer französischen Dokumentarfilmerin, die Ausschwitz überlebt hat, während ihr Vater dort umgebracht wurde. Sie hat sich mit 87 noch einmal hingesetzt, um darüber zu schreiben, in Form eines Briefs an ihren Vater. Das hat mich sehr bewegt, solche Menschen sind vielleicht keine Vorbilder, aber sie setzen Maßstäbe.

JV: Swetlana Alexijewitsch, die jetzt den Nobelpreis bekommen hat, das Buch Secondhand-Zeit müsst ihr lesen. Ihr wird ja vorgeworfen, dass sie „keine richtige Schriftstellerin“ sei, was für ein Quatsch! Vorbilder sind für mich Leute, die gute Sachen schreiben, egal ob Mann oder Frau.

Info

Dieser Artikel ist Teil der Jubiläumsausgabe zum 25. Geburtstag des Freitag

Die besten Blätter für den Herbst

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Geschrieben von

Maxi Leinkauf

Redakteurin Kultur

Maxi Leinkauf studierte Politikwissenschaften in Berlin und Paris. Sie absolvierte ein Volontariat beim Tagesspiegel. Anschließend schrieb sie als freie Autorin u.a. für Süddeutsche Zeitung, Tagesspiegel und Das Magazin. 2010 kam sie als Redakteurin zum Freitag und war dort im Gesellschaftsressort Alltag tätig. Sie hat dort regelmäßig Persönlichkeiten aus Kultur und Zeitgeschichte interviewt und porträtiert. Seit 2020 ist sie Redakteurin in der Kultur. Sie beschäftigt sich mit ostdeutschen Biografien sowie mit italienischer Kultur und Gesellschaft.

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