„Ein derber Witz“

Interview Ihre Mutter kommt von den Philippinen und pflegt in Deutschland alte Menschen. Sheree Domingo macht daraus einen Comic
Ausgabe 33/2019

Die Ankerklause, eine Hafenbar in Berlin-Neukölln. Hier kann man am Ufer sitzen und Schwänen nachschauen, die sich mit einer jungen Möwe zoffen. Oder Paddlern. Sheree Domingo ist mit dem Fahrrad aus der Agentur gekommen, in der sie arbeitet. Die 30-Jährige zeichnet da unter anderem Comics, die das Thema erneuerbare Energien erklären sollen, damit verdient sie Geld. Ihr erstes Buch, das aus ihrer Abschlussarbeit entstand, ist für sie eine „Herzensangelegenheit“.

der Freitag: Frau Domingo, in „Ferngespräch“ erzählen Sie von Ihrer philippinischen Mutter, die als Pflegerin in einem deutschen Altenheim arbeitet.

Sheree Domingo: Ja, schon in meinem allerersten Comic an der Kunsthochschule ging es um das Thema Arbeit. Da fielen mir gleich Anekdoten aus meiner eigenen Familie ein. Ich kannte zwei Onkel und eine Tante, die in Rom gearbeitet haben, um das Geld nach Hause zu bringen, während meine Cousins auf den Philippinen waren. Mein Urgroßvater hat auf Hawaii bei Dole gearbeitet. So habe ich in meiner Abschlussarbeit das Thema Arbeitsmigration wieder aufgegriffen.

Anfang des 20. Jahrhunderts wurden viele Arbeiter von den Philippinen für die pazifischen Gebiete der USA angeworben.

Ja, sie haben auf Ananas- und Zuckerrohrplantagen gearbeitet und immer Geld nach Hause geschickt, so wie mein Urgroßvater. Seine Familie wurde durch sein Geld wohlhabend, aber er hat sie 20 Jahre lang nicht besucht.

Aber Sie sind in Böblingen groß geworden, fern von allem.

Ja, aber ich habe diese Erinnerung an meine Cousins, wenn ich als Kind auf den Philippinen war: Jedes Mal, wenn ein Flugzeug vorbeigeflogen ist, haben sie gerufen: „Papa, hallo Papa“. Weil deren Vater auch in Italien war und da gearbeitet hat. Das ist mir so im Gedächtnis geblieben, wie sie jedem Flugzeug hinterherwinken. Ich wollte dann gerne etwas über das deutsche Altenheim in Böblingen machen, meine Tante arbeitet da, meine Mutter. Aber es waren nicht nur Filipinas in dem Altenheim, da waren auch viele aus Bosnien, Kroatien, Polen oder Kenia. Aber kaum Deutsche.

Wie war Ihre Kindheit?

Mein Vater ist Maschinenbauer. Ich habe mich als Kind mehr mit Deutschen identifiziert und mir gewünscht, wie eine Klischeedeutsche auszusehen, blond und blauäugig. Das war wie so ein Schutzfaktor, obwohl ich gar keine schlechten Erfahrungen gemacht habe. Man spürt vielleicht als Kind, dass man mit der Mutter in einer schwächeren Position ist als mit dem deutschen Vater.

Dass sie aus irgendeinem Grund angreifbarer ist?

Mir sind als Kind so kleine Sachen aufgefallen, zum Beispiel in der Apotheke: Mit meinem Vater habe ich da immer die Juniorzeitschrift bekommen, mit meiner Mutter nicht. Das Essen, was sie kochte, fanden alle lecker, aber meine philippinische Familie war weit weg. Oft klingelte das Telefon und dann sprachen sie eine fremde Sprache, die ich kaum verstehe. Und ich habe mich dagegen gewehrt.

Ferngespräche waren alltäglich.

Ja, Es sind die Familienanrufe aus der Ferne. Es wurde immer ganz viel telefoniert zu dieser Zeit, in der meine Oma gestorben ist. Es sind Gespräche aus den Philippinen, aber auch die alte Dame, die in meinem Buch vorkommt, die fantasiert immer mal wieder, dass sie mit ihrem verstorbenen Ehemann spricht, das ist auch wie so eine Art Ferngespräch. Und alle wären am liebsten an einem anderen Ort, wünschen sich in die Ferne. Das Mädchen wünscht sich auch in die Ferien, so wie die anderen Kinder.

Die Philippinen sind ein Land der Auswanderer, die Überweisungen derer, die isoliert von der Familie im Ausland arbeiten und das Geld heimschicken, machen zehn Prozent des BIP aus.

Ja, und all die Bedingungen im Land fördern diesen Exodus, der seit einem Jahrhundert vonstattengeht. Jeder Zehnte arbeitet im Ausland. Das hat seinen Ursprung in der globalen ungleichen Verteilung des Wohlstands, niemand kann die Armut bei uns vertreiben, und Migration wird gefördert. Meine Mutter ist 1982, zur Zeit von Marcos gegangen, dem Diktator, als es richtig schlecht war. Jetzt hat sich die Lage etwas gebessert. Aber jede Familie hat jemanden, der ins Ausland gegangen ist, man hat das im Kopf, es ist einfach da als Möglichkeit.

Zur Person

Sheree Domingo wurde 1989 in Böblingen geboren und studierte an der Kunsthochschule in Kassel und an der Luca School of Arts in Brüssel. Ihr Debüt Ferngespräch kam 2016 unter die zehn Finalisten beim Comicbuchpreis der Berthold-Leibinger-Stiftung

Es wird in Kauf genommen, aber es zerreißt die Familie, oder?

Ja, damals gab es auch noch kein Skype und es war unheimlich teuer, anzurufen. Nachdem meine Oma gestorben war, waren wir auch zehn Jahre nicht mehr da, und als Kind war ich vielleicht vier Mal auf den Philippinen, bis ich sieben war, dann zehn Jahre gar nicht mehr. Meine Mutter ist hergekommen, als sie 21 war, jetzt ist sie 60. Sie fühlt sich eigentlich mehr als Deutsche. Sie hat allen Wohlstand hier, aber sie hat dort kein Haus, gar nichts, sie wurde vom Erbe abgeschnitten, weil alle dachten: Sie ist in Deutschland, sie hat ja genug Geld. Mittlerweile bin ich es eher, die da zurückgehen will. Ich suche meine Wurzeln und würde gerne die Sprache lernen.

Welche Szenen haben Sie als Kind im Altenheim gesehen?

Ich bin als kleines Kind nicht so gerne ins Altenheim gegangen, ich fand das da irgendwie gruselig. Irgendwer hat immer rumgeschrien und alle haben gesabbert. Einmal habe ich meine Mutter besucht und kam in ein Zimmer. Da hat sie gerade jemanden geputzt, der in so einer seltsamen Vorrichtung hing. Das waren so Bilder, die sich eingebrannt haben. Während der Schule habe ich dann da manchmal ausgeholfen.

Für Recherchen kehrten Sie nun noch einmal zurück.

Ja, ich saß da mit meinem Buch zwischen den älteren Leuten und habe gezeichnet. Als meine Mutter mit der Schicht fertig war, habe ich mit ihr gesprochen. Mir ist klar geworden, wie schlimm es damals für sie gewesen sein muss, dass sie sich hier im Altenheim um fremde Leute kümmert, während ihre eigene Mutter auf den Philippinen krank war und Pflege brauchte.

Wie ist auf den Philippinen der Umgang mit älteren Menschen?

Familie ist viel wichtiger. Auf den Philippinen gibt es Altenheime für reiche Leute, aber meistens ist es Familiensache, sich um Eltern oder Großeltern zu kümmern. In Deutschland will man sie oft loswerden. Meine Mutter erzählte mal eine richtig schlimme Geschichte: Eigentlich muss man sich ja anmelden im Altenheim, es gibt da eine lange Warteliste. Aber viele werden einfach abgeschoben. Einmal wurde eine Frau wie ein Hund am Eingang abgesetzt; sie war die Lebensgefährtin von jemandem, der gestorben ist, und dessen Kinder wollten sich nicht um sie kümmern. Und dann haben sie sie in einer Nacht-und-Nebel-Aktion in den Eingang vom Altenheim geschoben und sind dann gegangen. Die haben sie einfach ausgesetzt. Die Frau saß da und weinte, total aufgelöst. Dann wurde ihr notgedrungen erst mal ein Zimmer im Bad eingerichtet.

Wie empfand Ihre Mutter diese Tätigkeit?

Sie ist stolz, liebt ihre Arbeit. Sie kommt ins Altenheim und macht Sprüche, und alle lachen. Auch wenn ihr Rassismus entgegenschlägt, hat sie so eine coole Art, damit umzugehen. Sie macht dann einfach genauso einen derben Witz. Einmal sagte eine alte Dame, während sie ihr den Arsch abgewischt hat: „Ihr Ausländer, ihr nehmt uns die deutschen Männer weg.“ Und meine Mutter: „Ja, unsere Muschis sind einfach schöner.“Manchmal war sie traurig, sie hat mal geträumt, dass eine alte Dame sie bezichtigt hat, ihren Schmuck gestohlen zu haben.

Welche Comic-Zeichner waren für Sie Vorbilder?

Ich bewundere zum Beispiel die Iranerin Marjane Satrapi sehr, die über ihre Kindheit zeichnete und diese in einen historisch-sozialen Kontext gebracht hat, so wie ich. Ich bin in meinem Arbeiten auch sozialkritisch.

Was fordern Sie?

Altenheime sollten nicht wie gewinnbringende Unternehmen geführt werden – und Pflegekräfte besser bezahlt werden. Sie sollten ein höheres Ansehen haben. Leuten, die hierherkommen wollen, um zu arbeiten, muss es leichter gemacht werden. Die Hürden sind enorm: ohne Arbeitserlaubnis keine Aufenthaltserlaubnis und umgekehrt. Dabei werden Fachkräfte doch in Deutschland gebraucht.

Ferngespräch, Sheree Domingo, Edition Moderne, August 2019
Lesung & Signierstunde am 30.8.2019, 20 Uhr, Modern Graphics, Kastanienalle 79, Berlin

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