Diese Lammfellmütze! So eine hat der rumänische Diktator Nicolae Ceauşescu damals bei seiner Erschießung getragen. Der Mann, der hier auf der Terrasse unter einem Heizpilz sitzt, könnte sein Doppelgänger sein. Wenn man eintritt ins Café, kommt man sich vor wie auf einer Bühne: Russisch-englisches Stimmengewirr, ein livrierter Kellner weist einem den winzigen Fenstertisch zu, ergraute Lebemänner schauen hinter ihren Zeitungen hervor. Die Boheme des alten Westberlin.
Margarita Broich kommt herein, lächelt, grüßt kurz. „Da sind ja meine Nachbarn“, ruft sie dann und geht erst mal an den Nebentisch. Ihre Nachbarin möchte noch ein Buch signiert haben. Ach, es sei nicht ihr Tag heute, sagt Broich, als sie sich dann zu einem setzt – erst der Zahnarzt, dann wurde ihr Auto abgeschleppt. Sie schaut einen mit großen blauen Augen an, bestellt Fischsuppe. An ihrem schwarzen Jackett steckt eine mit funkelnden Steinen besetzte Brosche. „Herr Doktor Krämer? Sind Sie das?“, ruft sie einem Mann hinterher. „Mein Gynäkologe von vor 30 Jahren?“ Der Mann schaut überrascht, nickt. „Arbeiten Sie noch am Mehringdamm?“ Damals sei die gesamte Schaubühne bei ihm gewesen. „Damals“, das war in ihrem ersten Leben. Broich ist jetzt Mitte 50.
Raus aus der Dunkelkammer
Margarita Broich spielte bei Heiner Müller, bei George Tabori, Robert Wilson, Einar Schleef. In dem schmalen Bändchen Alles Theater, das vergangenen Herbst erschienen ist, hat sie 2015 Kollegen mit der Kamera porträtiert, Schauspieler, wenn sie nicht mehr spielen, wenn sie abgekämpft hinterm Vorhang sitzen. Sophie Rois, Otto Sander, Martin Wuttke, Fritzi Haberlandt. Mit den meisten von ihnen hat sie selber gearbeitet. Sie sinnieren in kurzen Texten über ihren Beruf: Glück, Eitelkeit, Träumen, Erlösung. Udo Samel sagt, so etwas wie Fremdenfeindlichkeit sei ihm schon deswegen vollkommen fremd, „weil ich dauernd das Glück habe, ein Fremder zu sein, auszuprobieren, wie es ist, ein anderer zu sein“.
Broich kommt vom Theater – seit 2013 spielt sie die Tatort-Kommissarin in Frankfurt am Main, und seither wird sie überall angesprochen. Ein nackter Mann in der Sauna habe sie neulich für ihre Rolle bejubelt. Nach ihrer Ausbildung in Fotodesign in Dortmund bekam Margarita Broich den Job als Theaterfotografin bei Claus Peymann in Bochum, sie saß dann immer bei den Proben dabei. Und bald wollte sie raus aus der Dunkelkammer – ans Licht. Sie studierte dann Schauspiel in Berlin.
Anfang der 80er Jahre habe sie oft Aufführungen in Ostberlin besucht. Der Bau, Macbeth oder Faust. „Da gab es bestimmte Momente im Theater, da war es so leise, man konnte die Stecknadel fallen hören. Weil ein Satz ein Sprengsatz sein konnte. Im Westen konnte man sich blau anmalen, auf Händen laufen und Blut in den Zuschauerraum werfen, das hatte keine Auswirkungen.“ Als sie 21 war, begegnete sie Heiner Müller, 30 Jahre älter als sie, einer der größten deutschen Dramatiker. Sie wurden ein Paar, er hat ihr damals eine Wohnung im beschaulichen Wilmersdorf besorgt. „Ich war ja sehr jung, als ich Heiner Müller kennenlernte, und ich konnte das anfangs gar nicht verstehen, dass er mich meinte. Es stellte sich aber schnell heraus, dass er frischer und lustiger war als jeder 20-Jährige.“
Wenn sie tageweise über die Grenze in den Osten kam, lebte sie in Müllers Lichtenberger Plattenbauwohnung. „Da konnte man immer auf den Tierpark gucken und die Giraffen schauten durch die Baumkronen.“ Sie habe die Jahre mit ihm wie einen Vollrausch im Kopf. Das Paar reiste nach San Francisco, wohnte bei Klaus Kinski, war zum Dinner beim Bundespräsidenten. „Ich habe dann immer an Tischen gesessen, an die ich gar nicht gehörte“, sagt Broich, sie habe sich die Einladungen nicht „verdient“. Als reines Anhängsel habe sie sich trotzdem nie gefühlt. „Ich konnte in jungen Jahren sein, wie ich wollte. Ich musste nicht kämpfen und mich beweisen. Heiner Müller hat mich so genommen, wie ich war, stellte nichts infrage. Er hat mich auf Händen getragen.“ Als der Dramatiker 1995 starb, war auch das Land, in dem sie sich immer trafen, verschwunden. „Der Zugang zu diesem ersten Leben war verschnürt, so wie ein kleines Paket. Ich kam nicht mehr richtig heran.“ Broich hat sich schon immer in zwei Welten bewegt, nicht nur geografisch. Ost und West, Tatort und Theater, Provinz und Großstadt.
Auf beiden Seiten der Kamera
Sie wollte ihre Kommissarin unbedingt mit einer Kamera bewaffnen, damit diese am Tatort selber fotografieren kann. Auf diese Art kann Margarita Broich ihren ersten Beruf, Fotografin, in die Rolle der Ermittlerin Anna Janneke einfließen lassen. Seit 2013 löst sie neben Wolfram Koch Kriminalfälle in Frankfurt am Main, am 10. April läuft die fünfte Folge.
Die Rollen, die die 55-Jährige im Fernsehen schon spielte, sind vielfältig. Sie war etwa neben Christiane Hörbiger im Drama Auf der Straße (2015) zu sehen. In Ein Jahr nach morgen (2012) spielte sie eine Frau Anfang 50, die ihren Sohn und damit ihre Balance verliert. Auch im Kino ist Margarita Broich präsent, zuletzt als Petronella in Das Tagebuch der Anne Frank (2016). Sie spielte in Quellen des Lebens (2013), Unter Bauern (2009), Der Vorleser (2008) oder Effi Briest (2009). Vor allem ist Broich auch eine große Theaterdarstellerin. Nach Ende des Studiums an der Hochschule der Künste in Berlin wurde sie 1987 am Schauspielhaus Frankfurt am Main engagiert, später spielte sie hauptsächlich in Berlin, am Deutschen Theater, am Schillertheater, beim Berliner Ensemble, am Maxim-Gorki-Theater und an der Volksbühne, etwa bei Christoph Schlingensiefs Rosebud.
Sie kehrte nach ihrem Fotodesign-Studium an der Fachhochschule Dortmund immer wieder hinter die Kamera zurück. Broichs Schauspielerporträts wurden in verschiedenen Ausstellungen gezeigt, und 2009 zum Beispiel im Museum der Moderne in Salzburg und 2011 im Martin-Gropius-Bau in Berlin. Sie hat auch zwei Bücher veröffentlicht: Alles Theater mit Texten von Brigitte Landes (Insel, 2015) und Wenn der Vorhang fällt (Alexander, 2014).
Margarita Broich ist in Neuwied, nahe dem Westerwald, groß geworden, in einer bürgerlichen katholischen Familie, mit Klavierunterricht und Tennis. Ihre drei älteren Geschwister seien streng erzogen worden, andauernd habe es Ohrwatschen gegeben. Sie stammt aus einer Arztfamilie, ihr Vater war privat ständig mit der Fotokamera unterwegs, wollte alles dokumentieren. „Mein Vater ist vor seinen Patienten als Zauberer aufgetreten. Er konnte aus komplett geschlossenen Orangen einen Zehn-Mark-Schein rausschneiden, was ich bis heute nicht verstanden habe“, sagt Broich. Als der Vater von einem Tag auf den anderen seine Lungenklinik verkaufte, fiel er in eine Lebenskrise. Er ging nicht mehr vor die Tür, hat sich sieben Jahre lang nicht gewaschen, die Zehennägel nicht geschnitten. „Aber ich habe mich seltsamerweise nie für ihn geschämt“, sagt Broich. Sie stand eines Tages mit Heiner Müller vor der Tür des Elternhauses. Ihr Vater machte auf, im Bademantel. „Guten Tag, junger Mann, kommen Sie rein.“ Sie werde ihm das nie vergessen, sagt Broich, seine Art von Humor. Schade, dass die Eltern ihre Fotos nicht mehr sehen könnten. Beide sind längst gestorben.
Wer kocht den Tee?
Als junge Schauspielerin kam sie zu Einar Schleef, nach Frankfurt, in eine wilde Zeit. „Kriegszustände“ seien die Proben gewesen. Für den Faust sollte das Ensemble 1990 die Walpurgisnacht nackt auf der Bühne spielen. Zwei Schnapsflaschen – los ging’s. „Das war so furchtbar. Ich kam aus meinem katholischen Haushalt, ich war völlig überfordert.“ Aber sie spürte Zusammenhalt: Wir gegen den Rest der Welt. „Die Kritiken waren verheerend, Schleef wurde als Nazi verschrien, seine Chöre als Aufmärsche gesehen. Es waren manchmal mehr Leute auf der Bühne als im Zuschauerraum – man hat am Hauseingang eine Tomate an den Kopf gekriegt. Trotzdem wurde das später alles geadelt.“ Den Aufruhr habe sie auch in sich selber empfunden. Ein Gefühl, als gehe es um Leben und Tod, „das kann der Tatort gar nicht herstellen“, sagt Broich. Es sei schwer, in der schnellen Fernseharbeit dieses „Alles oder nichts“ zu schaffen, manchmal gelinge das Oskar Roehler. In seinem autobiografischen Film Quellen des Lebens verkörperte Broich 2013 eine aufgetakelte, Cognac trinkende Reiche – und wurde für den Deutschen Filmpreis nominiert.
Sie ist keine Nina Kunzendorf. Ihre Vorgängerin im Tatort ermittelte in engen Jeans und roter Lederjacke, beherrschte Flirts so gut wie Kampfsport. Broich wirkt eher sensationell normal, tüchtig, zielorientiert. Auch sinnlich. Aber auf ungefährlichere Art. „Ich werde ja Gott sei Dank nicht als Schönheit besetzt“, sagt sie, und dann schwärmt sie von den „wirklich emanzipierten Frauen, die man in der Volksbühne sieht. Die tragen High Heels, stöckeln durch die Gegend, grell geschminkt, rote Fingernägel. Sie laufen alle rum, wie ich mir das verbieten möchte – aber sie haben was zu sagen.“ Sie zieht einen Lippenstift aus der Tasche, zieht das Dunkelrot nach.
Ende der 80er lernte sie den Schauspieler Martin Wuttke kennen, sie trafen sich in einem Fahrstuhl. Sie war 30, als sie ihr erstes Kind von ihm bekam. Beim ersten Sohn wollte sie überhaupt nichts anderes mehr als Mutter sein, sagt Broich: „Diese kleinen Füßchen haben mir gereicht.“
Wuttke sei immer unterwegs gewesen, im alltäglichen Leben habe sie sich oft allein gefühlt. „Es gab dauernd Streit: Wer steht auf? Das ist bei uns eindeutig auf meine Kosten gegangen.“ Hat sie versucht, ihn zu ändern? Ja, aber ihr Mann habe ihr schon sehr früh sehr schön gesagt: „Umerziehen? Das können wir uns sparen.“ Sie habe kein Problem, ihm Tee zu kochen. „Wenn der andere arbeitet, bin ich dienende Hausfrau. Aber wenn ich arbeite, will auch ich gern mal einen Tee.“ Es war der Regisseur Einar Schleef, der sie nach neun Monaten Babyzeit anrief: „Es reicht, jetzt komm’ se mal wieder auf die Proben!“ Was liebt sie, nach 25 Jahren, an ihrem Mann? „Martin denkt immer neu. Da verfalle ich eher mal in eine vorgefertigte Meinung, glaube: Ach, das kenne ich schon. Das ist so und so. Er betrachtet alles noch mal von vorne, er ist klug und extrem lustig. Außerdem macht er gute italienische Pastasaucen.“
Ihre drei Söhne sind jetzt Mitte und Ende zwanzig, Hans, der Älteste, gehe viel ins Theater, er lese gerade Adorno und Walter Benjamin, und er fahre „nach Frankfurt, demonstrieren, wenn eine Bank aufmacht“. Stört sie das Älterwerden? „Man ist nicht mehr so kräftig, man hat nicht mehr so viel Zeit vor sich.“ Gerade dann sei es zutiefst beruhigend, Kinder zu haben, „so wie bei einer Sanduhr: Bei mir wird’s immer weniger, dafür kommt auf der anderen Seite etwas mehr. Man ist nicht so ganz verloren auf dem Erdball.“ Sie hält einen Moment inne. „Wissen Sie, meine Kinder sind das einzig richtig Tolle, was ich in meinem Leben gemacht habe.“
Es ist ein verregneter Februarabend, als Broich neben ihrem Mann auf der Bühne des Berliner Ensembles (BE) steht, es läuft Brechts Der aufhaltsame Aufstieg des Arturo Ui. Beide sind also zusammen auf der Bühne: Wuttke, der nach Luft schnappende Köter, der aufstrebende Gangster aus der Gosse. Broich eine verblühende Opernsängerin, die wie eine Walküre wirkt, neben dem kleinen, krummen, schmächtigen Mann. Eine ältere elegante Dame überreicht den beiden hinterher je eine Rose. Sie sei Ludmilla, aus Nowosibirsk. „Margarita ist so ein guter Mensch“, sagt die Frau, und es stellt sich heraus, dass sie bei der Schauspielerin putzt.
Andreas Broich, ein hochgewachsener Mann, steht mit einer Brezel am Tresen der BE-Kantine. Er ist auf einem Wochenendtrip in Margaritas Welt. Als Arzt betreibt er eine Praxis in Euskirchen. „Da ist sie ja, meine Schwester!“, ruft er, als Broich nach der Vorstellung hereinkommt. Sie sieht gar nicht müde aus, trägt einen weiten Rock, einen grünen Wollpullover, wieder die Brosche. Seine Schwester habe Narrenfreiheit gehabt, sagt der große Bruder. „Wir hatten alle vorgekämpft und Margarita konnte machen, was sie will.“ Schon mit 17 sei sie in den USA gewesen – er war bis heute noch nicht dort. „Es hat mich ja nie jemand erzogen“, wirft Broich schnoddrig zurück.
Als das Schiff zu Hause schon am Sinken war, fuhr der Bruder mit ihr in die Ferien, sie war 17. „Er hat mich behütet und gerettet“, sagt Broich. Er hingegen bewundere, wie Margarita allein ihren Weg gemacht habe, sagt der Bruder. „Ich glaube, du liebst, was du tust, mehr als ich.“ Und er will wissen, warum die Schauspielerin heute so selten in den Westerwald komme. „Ich würde lieber unter einer Ampel begraben werden oder dem Beton der Philharmonie als unter einem Baum im Westerwald“, lautet die Antwort. Als 2013 ihre Schauspielerporträts in Neuwied gezeigt wurden, war sie da. Manche ihrer alten Lehrer seien gekommen. „Wenn man dann mit Schmitze Willy am Tisch sitzt, ist es schnell so, als wäre man nie weg gewesen“, sagt sie. Aber dann musste sie wieder zurück in die Stadt. Martin Wuttke erscheint in der Kantine. „Hopp, hopp, los, dann kriegen wir noch was Warmes zu essen“, ruft er. Sie sammelt die Rosen ein und folgt ihm.
Was ist Ihre Meinung?
Kommentare einblendenDiskutieren Sie mit.