Wir treffen uns zu dritt, auf Zoom. Helle Jensen und Christine Ordnung haben vor einem Jahr mit ihrem Projekt „Empathie macht Schule“ angefangen, dann kam Corona. Sie wollen Lehrkräften und Schülern soziale Fähigkeiten näher bringen, nach dänischem Vorbild.
der Freitag: Frau Jensen, Frau Ordnung, wie können Lehrer in Zeiten des Distanzunterrichts wahrnehmen, wie es ihren Schülern geht?
Christine Ordnung: Das ist deutlich schwieriger, manches gar nicht möglich. Im Klassenraum sehen Lehrer die Körpersprache, sie bekommen mit, wenn jemand ins Nichts guckt, können hingehen, Schülern die Hand auf die Schulter legen. Onlineunterricht kann aber auch Vorteile haben. Manche machen in der Klasse kaum mit, sind aber am Bildschirm pl
h Vorteile haben. Manche machen in der Klasse kaum mit, sind aber am Bildschirm plötzlich präsent, weil sie sich weniger beobachtet fühlen.Worauf muss man achten, wenn die Schüler jetzt zurückkommen?Ordnung: Ich hoffe, das Gewicht wird nicht nur auf dem versäumten Lernstoff liegen, sondern der Frage: Wie haben die Kinder es geschafft, mit ihren Strategien diese Zeiten zu überleben, was bringen sie mit in die Schule? Man sollte sie nicht als verhaltensauffällig abstempeln, sondern würdigen: Ja, es war eine lange Zeit, in der ihr alleine klar kommen musstet.Sie wollen mehr Empathie in die Schulen bringen. Was genau soll da passieren? Ordnung: Wir arbeiten mit Lehrern an ihrer eigenen Persönlichkeit. Wir hinterfragen ihr Rollenbild. Schule wurde hinsichtlich zeitgemäßer Pädagogik lange vernachlässigt. Die alte Idee war, Kinder dazu zu erziehen, dass sie kooperieren.Placeholder infobox-1„Empathie macht Schule“ ist nach dänischem Vorbild entstanden: Soziale Fähigkeiten werden da seit den 1990er-Jahren unterrichtet. Was fehlt uns? Helle Jensen: Ich empfinde immer noch Spuren einer Gehorsamskultur, wenn ich deutsche Schulen besuche. Es war nicht so wichtig, ist es für viele immer noch nicht, was für ein Mensch das Kind eigentlich ist. Wer Schwierigkeiten hat, in Deutsch mitzukommen, tut Dinge, die für die Stunde nicht gerade hilfreich sind. Aber das Kind wird dann nicht mit seinen Problemen gesehen, sondern bekommt Schimpfe, ist aber unsichtbar in seiner Not. Dann kommt diese Egal-Haltung: „Ich mache, was ich will.“ Das hat damit zu tun, dass das Kind nicht ernst genommen wird und versucht, auf sich aufmerksam zu machen. Lehrer sollen Kinder als Menschen wahrnehmen, nicht nur als Schüler, die Lehrstoff aufnehmen sollen. Dann kommt von den Kindern auch eine ganz andere, emphatische Reaktion zurück.Wie war es in Ihrer Kindheit?Jensen: Bei uns gab es diese alte Gehorsamskultur natürlich auch.Ordnung: Ich erinnere mich an meine Grundschulzeit in Süddeutschland, da war ein Lehrer, der geprügelt hat. Es war Ende der 1960er-Jahre, er war sicher kriegstraumatisiert. Es war furchtbar für uns Kinder, in dieser Klasse zu sitzen, wo mehrere Jungs täglich Schläge gekriegt haben. Sie mussten knien, mit dem Gesicht zur Wand. Das hat mich sehr geprägt.Was muss sich heute ändern? Ordnung: Wir müssen Kindern und Lehrern anders begegnen. Kinder sollten in ihrer persönlichen Integrität gesehen werden, persönliche Verantwortung lernen, damit sich ihr Selbstwertgefühl weiterentwickeln darf. Es sollte weniger hierarchisch ablaufen.Jensen: Wir sehen Lehrer und Schüler auf Augenhöhe.Lehrer müssen trotzdem Regeln setzen.Jensen: Sie müssen deutlich sein. Für Kinder ist es wichtig, dass sie meine Grenzen als Lehrer spüren können. Dass ich ihnen zeige, bis wohin ich mitgehen kann. Es gibt einen Unterschied zwischen autoritär sein und eine persönliche Autorität haben.Ordnung: Lehrer sollen lernen, menschliche Schwächen zu zeigen, das macht sie glaubwürdiger. Aber die meisten wissen nicht, wie das geht. Ihnen fehlt Beziehungskompetenz. An der Uni lernen sie Fachwissen, dann kommt das Referendariat, da stehen sie unter Druck, haben Angst vor minutiösen Stundenausarbeitungen. Um menschliche Begegnung geht es kaum.In der Ausbildung werden zu wenig Soft Skills vermittelt?Jensen: Genau. Viele Lehrer bringen Empathie schon mit, ohne sich je damit beschäftigt zu haben: Was traue ich mir heute zu, wie kann ich die Arbeit so gestalten, dass es für mich passt? Bin ich heute dünnhäutig? Lehrer sollten sich immer wieder reflektieren.Wie sollen sich gestresste Lehrer mit allen einzeln beschäftigen? Jensen: Ich sehe diesen Raum. Es braucht gar nicht mehr Zeit, einem Kind mit Anerkennung entgegenzukommen statt mit Schimpfen. Die Lehrperson will den Kindern helfen, kommt aber meistens als Richter rein: Wer hat diesen Fußball weggeschossen? Wer hat Schuld? Das ist keine Konfliktlösung. Sondern der Erwachsene müsste eine Atmosphäre schaffen, in der die Kinder darüber reden können, wie es ihnen in diesem Konflikt geht. Ohne mit dem Finger auf den anderen zu zeigen. Wir brauchen einfach ein anderes Menschenbild.Ordnung: Wir stecken immer noch im Erwachsener-gegen-Kind-Modus fest. Nicht aus einer bewussten Haltung heraus – Lehrer machen ihren Job gern. Aber sie haben kaum Erfahrungen mit sozialen Fähigkeiten.Wie hat Sie die Arbeit mit dem Pädagogen Jesper Juul geprägt, Frau Jensen?Jensen: Wir müssen diejenigen fragen, die es in der Schule nicht aushalten, also die Schulverweigerer. Das war Jesper Juul wichtig. Wir sollten mit Respekt auf sie zugehen, fragen, was wir tun können. Alle Kinder brauchen das Gleiche, nur manche sehr viel mehr davon.Ordnung: Wir sollten uns zusammensetzen und zuhören. Ohne Vorwürfe. Eine persönliche Sprache finden.Jensen: Ich hatte häufiger solche Gespräche, ich rede dann mit allen in der Klasse. Oder wir machen in der Stunde „Time-outs“: Da rede ich vor Schülern mit der Lehrerin darüber, wie es ihr gerade geht. Manchmal sage ich dann: Jetzt würde ich gerne mein Team befragen. Das ist dann die Klasse. Aber natürlich tragen trotzdem die Erwachsenen die Verantwortung für die Qualität der Beziehungen.Ordnung: Wir machen kleine Achtsamkeitsübungen, Treppensteigen, Meditationen, damit jeder sich bewusst wahrnehmen kann.Jensen: Wie geht es meinem Körper, wenn ich unter Druck bin? Meiner Kreativität? Kann ich neue Ideen bekommen?Ordnung: Wenn der Junge wieder stört, spüre ich Ärger, und der macht meinen Kiefer eng. Oder ich mache eine Faust, atme schlechter und verliere die Fähigkeit, der Lehrer zu sein, der ich sein will.Frau Ordnung, Sie nahmen in Paris Kurse beim Clown Philippe Gaullier. Was haben Sie gelernt? Ordnung: Er ist die Schauspielarbeit sehr anarchistisch angegangen. Er sagte: Wenn der Mensch spielt, dann ist er verletzlich, lebendig, dann ist er schön. Er kann jeden auf der Bühne sichtbar machen. Ich frage mich heute noch: Wie ehrlich bin ich im Moment, wie authentisch?