An einem sonnigen Tag im September steht Jenny Erpenbeck vor dem Hochhaus, in dem sie einmal gewohnt hat. Ein paar Maler streichen die Fassade in der Leipziger Straße in Berlin-Mitte weiß. Jenny Erpenbeck zeigt auf eines der Fenster des 27-Stockwerke-Baus. Erst habe sie in der 13., dann in der fünften Etage gewohnt. Der Anstrich sei blau gewesen, als sie mit fünf Jahren eingezogen sei. Jetzt ist er rot. „Diese Bauten waren mit diesem sozialistischen Aufbruch verbunden, mit dieser Utopie ‚Wir bauen jetzt Häuser für die einfachen Menschen‘“, sagt Jenny Erpenbeck. Jetzt wohnen andere Leute darin. „Die Grundfunktionen sind geblieben. Aber die Idee ist weg.“ In ganz Berlin existieren nur acht dieser Hochgeschosser, sie reihen sic
Fixe Ideen
Porträt Jenny Erpenbecks Thema ist der Verlust der Heimat. Im neuen Roman nähert sich die Ostberlinerin der Flüchtlingskrise
Exklusiv für Abonnent:innen
|
Ausgabe 40/2015
Bild: Jen Osborne für der Freitag
sich in dieser Straße aneinander. Die meisten Plattenbauwohnungen wurden inzwischen verkauft, manche sind jetzt schwebende Lofts. Ein Rest gehört noch der Wohnungsbaugesellschaft Mitte.Solche Neubauviertel wurden in der DDR der 80er Jahre großzügig angelegt, mit Schulen, Parks, Grünflächen. Die Wohnungen haben Privilegierte bekommen, aber auch sozial Benachteiligte. „Wir hatten in unserer Klasse Kinder von Künstlern, Politikern, Juristen – aber genauso auch Kinder aus eher einfachen Verhältnissen, die manchmal fünf oder sechs Geschwister hatten. An kinderreiche Familien wurden die Sechszimmerwohnungen, die es in den Hochhäusern auch gab, bevorzugt vergeben.“Die Zwecke und das FaktischeDie Idee war, die Menschen nicht in den Außenbezirken zu parken. „Es war wirklich eine soziale Mischung, es gab nicht einerseits die Wohlstandsghettos und andererseits die schlechten Gegenden mit armen Leuten, vielen Kindern, Migranten.“ Jenny Erpenbeck erzählt von einer Freundin, die immer die ganze Wäsche für die Familie machen musste. „Ich war richtig erschüttert, weil ich zu Hause nur das Besteck abzutrocknen und einmal in der Woche Staub zu saugen hatte. Man war mit verschiedenen Realitäten konfrontiert. Manche Kinder kamen auch ungewaschen und in schlechten Kleidern in die Schule, aber das war keine Frage des Geldes, sondern eine der Überforderung der Eltern, so wie es das heute ja auch manchmal gibt“, sagt die 47-Jährige. „Geld war sowieso nicht wichtig, weil es, auch wenn man Geld hatte, nicht genug Auswahl gab, um sich zum Beispiel durch Markenklamotten Prestige zu verschaffen. Wenn man etwas Besonderes haben wollte, hat man es sich selber genäht.“ Sie schaut auf die Fassade des Hauses. „Seltsam, das Leben in der Dekoration von damals geht einfach weiter“, sagt Erpenbeck. „Die Zwecke bleiben, die immobile Masse, das Faktische. Nur die Ideen verschieben sich. Jeder Eigentümer verbindet eine ganz andere Idee von Heimat mit einem Haus.“Dort, wo ihre alte Schule stand, gleich über die Straße, kann man noch alten Menschen begegnen, die gebeugt mit ihren Einkaufsbeuteln vor sich hin schlurfen. Stopp an der Baustelle. Ein imposantes Schild wirbt für das neue Quartier, das hier, in der Nähe der ehemaligen Grenze, enstehen soll: das Markgrafenkarree. Sie habe diesen Ort in allen Phasen erlebt, sagt Jenny Erpenbeck, und sei immer mal wieder hergekommen, um zu gucken, was der Westen so mache. Sie sagt das ohne Ironie.In ihrem Band Dinge, die verschwinden (2009) erzählt die Schriftstellerin in kleinen Prosatexten von Dingen, die verloren gehen. Von der Schließung des Kindergartens ihres Sohns in bester Berlin-Mitte-Lage, von den verblassten Garderobenstangen aus Schkopauer Plaste, vom Heizkeller, der schon zweimal unter Wasser stand. Sanieren hat sich nicht gelohnt. „Utopien führen wohl hin und wieder zum Verschwinden des Bestehenden, hier aber nun tritt der kuriose Fall ein, dass die Unausführbarkeit einer Utopie einen Abriss rechtfertigt“, schreibt Erpenbeck.Placeholder infobox-1Wir kommen in einen kleinen Park, der um diese Zeit leer ist, und setzen uns auf die Bank unter einem Kastanienbaum. Früher sei das hier ein Spielplatz gewesen, sagt Erpenbeck und erzählt von ihrer Kindheit. Ein Einzelkind sei sie gewesen, und sie habe bei ihrer Mutter gewohnt. Sie sei allein zum Klavierunterricht gegangen, zu Chorproben, zum Zeichenzirkel. Oder sie ist in den Ruinen des Deutschen Doms am Gendarmenmarkt herumgeklettert, der durch einen Brand zerstört worden war. „Die Ruinen sind inzwischen alle weg, stattdessen stehen überall Neubauten, es ist nicht mehr so interessant. Und jüngere Kinder, die ohne Eltern hinunter auf die Straße gehen zum Spielen, die gibt es ja auch kaum noch.“Als junges Mädchen verbrachte Erpenbeck die Sommerferien bei ihren Großeltern am brandenburgischen Scharmützelsee. „Auf dem Land bin ich alle Tage mit meinem Freund aus dem Dorf unterwegs gewesen, im Wald, im Dorf oder auf dem See – und wir mussten nur zu den Mahlzeiten zu Hause sein. Uns hat nie jemand gefragt, wo wir eigentlich sind und was wir machen.“ Das verwinkelte Haus mit Schilfdach und Butzenfenstern wurde in den 30er Jahren gebaut, während der DDR-Zeit gehörte es dann Erpenbecks Großeltern. Nach der Wende musste es die Familie an die Erben der jüdischen Alteigentümer zurückgeben. Die Enkelin konnte nächtelang nicht schlafen, sie hatte immer davon geträumt, in dem Haus alt zu werden.Aus ihrem Schmerz über den Verlust machte Jenny Erpenbeck ihr Buch Heimsuchung (2008). Darin schreibt sie über die wechselnden Bewohner des Hauses, den Architekten oder den schweigsamen Gärtner. Und darüber, wie sie sich in dem Schrank des „Vögelchenzimmers“ versteckt und beobachtet hat, wie die Maklerin mit den ersten Kaufinteressenten hereinbrach. „Sie hört, wie die Kundschaft mit der Hand über das Vogelaugenahorn streicht und sagt: Das schlägt leider schon Wellen. Aber man kann es aufarbeiten lassen, sagt die Maklerin, und zieht jetzt, offenbar mit einiger Mühe, die Tür zum Balkon auf, sie sagt: Und dann die Aussicht von hier. Die Kundschaft sagt: Ein wenig verwuchert.“Erpenbeck kann diese individuellen Geschichten um Identitätssuche, Heimatverlust und Familie auf einer so allgemeinen Ebene erzählen, dass man sich als Leserin darin wiederfindet – und nebenbei etwas über die Geschichte des 20. Jahrhunderts erfährt. Und wer einmal hinfährt, den schmalen Pfad am westlichen Ufer des Sees nahe dem Kurort Bad Saarow entlangschlendert, der steht irgendwann vor jenem Haus. Es trägt noch sein Walmdach, ohne Namen bleibt das Tor, im Garten blühen Hortensien, drinnen brennt Licht.Eine gewisse DistanzAuch Jenny Erpenbecks aktueller Roman Gehen, ging, gegangen handelt von Verlusten. Vor gut zwei Jahren fing die Schriftstellerin damit an, sich mit den Geflüchteten am Berliner Oranienplatz zu unterhalten. Vor Lampedusa war gerade ein Boot mit 400 Menschen untergegangen. Sie sei erschrocken gewesen, wie wenig Mitgefühl dafür gezeigt wurde. „Das waren unglaublich kaltschnäuzige Reaktionen. Das hat mich noch mehr bewegt als das Unglück selbst.“ Und so begleitete Jenny Erpenbeck den Alltag der Flüchtlinge, „einen langgestreckten Alltag in Zeitlupe“. Sie fragte sich, wo die Asylsuchenden in diesem Monat und wo sie vielleicht im nächsten sein werden. „Ich wollte die Dauer nachfühlbar machen. Wie lang diese Zeit ist, die mit Nichts vergeht.“Im Buch trifft Richard, ein emeritierter Professor der Altphilologie, eher zufällig auf die Gestrandeten. Er kennt die Welt von Landkarten und Büchern, aber er ist neugierig auf ihre Geschichten, er möchte graben wie ein Archäologe, und als er den Afrikanern zuhört, versteht er Homers Odyssee. Auch Jenny Erpenbeck wollte Archäologin werden, sie hat Latein und Altgriechisch gelernt. Was empfindet sie als Ostdeutsche, wenn sie auf die Flüchtlinge trifft? „Jeder Ostdeutsche ist ja nach der Vereinigung der beiden Länder objektiv durch eine Erfahrung der Fremdheit gegangen. Und das hat nichts damit zu tun, ob er vom Umbruch begeistert war oder weniger begeistert. Ich habe mich zwar nicht von dem Ort wegbewegt, bin immer im Osten Berlins geblieben, aber trotzdem war ich nach 1990 in einem anderen Land.“ Ein Land mit einem anderen Rechtssystem, anderen Regeln, nach denen die Wirtschaft plötzlich funktionierte, und einer anderen Kultur. „Das ging alles sehr schnell. Vieles wurde entschieden, bevor die Leute im Osten überhaupt verstanden, wie das System funktionierte.“ Und als die Mauer dann weg war, „waren wir die Kinder, die alles falsch gemacht hatten und nun erst einmal lernen mussten, wie es wirklich geht. Es gab eine auch kulturelle Überheblichkeit. Ich selbst konnte damit schwer umgehen.“Eine gewisse Distanz ist Jenny Erpenbeck dadurch bis heute geblieben. „Es fällt mir immer noch schwer, zu sagen: Das ist mein Land. Weil es für mich nichts Gewachsenes ist.“ Aber diese Distanz sei etwas Gutes, denn sie ermögliche den Blick über das System hinaus. Jenny Erpenbeck sagt, sie wäre vielleicht nicht Schriftstellerin geworden, wenn sie den gesellschaftlichen Umbruch nicht erlebt hätte. „Fürs Schreiben ist die doppelte oder mehrfache Erfahrung von verschiedenen Kulturen oder Gesellschaftssystemen immer ein Geschenk. Auch und gerade, wenn es eine schmerzhafte oder schwierige Erfahrung ist. Sie katapultiert einen nach außen, von wo aus der Blick immer ein klarerer ist. Schärft das Bewusstsein dafür, dass es nicht nur eine Wahrheit gibt. Ilia Trojanow, Olga Grjasnowa, aber auch Ingo Schulze und viele andere haben diesen Bruch in ihrem Leben.“ Es sei prägend für sie gewesen, dass ein ganzer Staat von einem auf den anderen Tag verschwinden kann. Man begreife dann alles, was geschieht, mehr in Bewegung.Jenny Erpenbecks Werke sind in mehr als 20 Sprachen übersetzt und preisgekrönt, in der ganzen Welt ist sie seit Jahren auf Lesereise unterwegs. Und mit Gehen, ging, gegangen habe sie das „Buch der Stunde“ geschrieben, urteilte der Spiegel. Wie sieht sie selbst ihren Erfolg? „Ich bin sehr froh darüber und immer noch erstaunt und dankbar. Gleichzeitig hat die Kunst generell natürlich keine sehr große Bedeutung, im Privaten schon, aber nicht, was die politischen Entscheidungen angeht.“ Aber beim Thema Flüchtlingskrise hört man ihr doch durchaus zu? „Es wird eben anders wahrgenommen“, sagt sie, „wenn sich jemand aus der bürgerlichen Mitte zu dem Thema äußert, als wenn ein jugendlicher Sympathisant ein Plakat schwenkt.“In der Danksagung von Gehen, ging, gegangen erwähnt Jenny Erpenbeck die vielen Gespräche mit ihrem Vater John Erpenbeck, dem Physiker und Philosophen. Wenn sie von ihm spricht, verschwindet ihr ernstes Gesicht. „Ich bin sehr froh dass ich so einen Vater habe. Er ist mir als Mensch sehr nah, aber er ist auch jemand, der ungeheuer viel weiß. Es gibt kaum eine Frage, die er mir nicht beantworten kann, Physik, Chaostheorie, Psychologie, Philosophie … Meine Vorliebe dafür, Naturgesetze auch auf die Betrachtung der Menschen anzuwenden, habe ich sicher von ihm geerbt. Verringert sich die Unordnung in einem System, vergrößert sie sich in einem benachbarten – das ist zum Beispiel ein sehr schöner Gedanke, der auf biologische Zellen genauso zutrifft wie auf Länder.“Placeholder infobox-2
×
Artikel verschenken
Mit einem Digital-Abo des Freitag können Sie pro Monat fünf Artikel verschenken. Die Texte sind für die Beschenkten kostenlos. Mehr Infos erhalten Sie hier.
Aktuell sind Sie nicht eingeloggt. Wenn Sie diesen Artikel verschenken wollen, müssen Sie sich entweder einloggen oder ein Digital-Abo abschließen.