„Ich frage mich: Was ist normal am Leben?“

Porträt Laila Stieler schreibt über Figuren, die hinfallen und wieder aufstehen. Stielers neue Figur, der Liedermacher Gerhard Gundermann, hat auch mit ihr selbst zu tun
Ausgabe 33/2018
Laila Stielers Drehbücher sind preisgekrönt. Sie erzählt, was Menschen aus Krisen machen
Laila Stielers Drehbücher sind preisgekrönt. Sie erzählt, was Menschen aus Krisen machen

Foto: Hannes Wiedemann für der Freitag

An einem Frühlingstag vor zehn Jahren erzählte Laila Stieler in einem Café in Prenzlauer Berg das erste Mal von ihrer Idee, einen Film über Gerhard Gundermann zu machen. Einen Baggerfahrer im Braunkohletagebau, ostdeutscher Liedermacher, der an den Sozialismus glaubte und verzweifelte. Der 1998 überraschend mit 43 Jahren starb. Sie ging mit ihrer Idee zu Regisseur Andreas Dresen, mit dem sie schon öfter gearbeitet hatte. „Mach das“, sagte er.

Laila Stieler hatte schon ein paar Drehbücher geschrieben, über die Polizistin, die in einem Rostocker Plattenbaubezirk ihren Dienst antritt, inmitten abgeklärter Kollegen. Laila Stieler bekam dafür 2000 den Grimme-Preis in Gold. Über eine ausgebrannte Biologielehrerin, die ihr Kündigungsschreiben fertig hat, als ein Amoklauf die Schule erschüttert. Über die dicke Friseurin, der beim Vorstellungsgespräch mit allen Zeugnissen gesagt wird: „Der Job ist weg. Unserer ist ein ästhetischer Beruf, und sie sind nicht ästhetisch.“ Über das Mädchen, das seinen vom NSU umgebrachten Vater verloren hat. Und jetzt Gundermann. Figuren, die stranden und immer weitermachen.

„Die Krise selber interessiert mich gar nicht unbedingt, sondern vielmehr, was für meine Figuren daraus entspringt“, sagt sie, als wir uns im Februar dieses Jahres wieder treffen. Diese Haltung habe sie immer beeindruckt: „Jemand ist tief gekränkt und verletzt worden, und sagt: Ich schüttle das ab. Das tut mir weh und ich stehe trotzdem wieder auf.“ Stieler wirkt erschöpft, ist erkältet. Das Handy summt. „Ach, ja, hallo“, sagt sie leise, konzentriert. Es geht um eines ihrer nächsten Projekte.

Der singende Baggerfahrer

Als das Casting zum Film anlief, meldeten sich ungefähr 80 Leute, alle wollten Gundermann spielen. Der war mit 18 Jahren Offiziersschüler, gründete dann seinen ersten Singeclub, heuerte als Hilfsmaschinist in Spreetal an, mischte die Kulturszene in Hoyerswerda auf – und die Betriebsleitung. Gundermann schrieb Texte für die Rockband Silly und rief Anfang der 1990er Jahre die Band Seilschaft ins Leben. Als er bereits von der Musik hätte leben können, fuhr er morgens weiter zur Schicht in den Tagebau. Er starb im Juni 1998 nach einem Konzert in Krams an Herzversagen. Seine Lieder aber werden bis heute auch in Westdeutschland gesungen, von Bands wie der Randgruppencombo oder auch von Tatort-Kommissar Axel Prahl. Im Maxim-Gorki-Theater entstand 2015 das Stück Hier bin ich geborn.

In enger Abstimmung mit Gundermanns Witwe Conny, die alle Türen öffnete, ist Gundermannentstanden. Der Film kommt am 23. August in die Kinos (eine Besprechung folgt in der Freitag 34/2018). Die Hauptrolle spielt Alexander Scheer, in weiteren Rollen sind Axel Prahl, Thorsten Merten, Bjarne Mädel, Milan Peschel und Kathrin Angerer zu sehen. Begleitend zum Film erscheint das Buch
Gundermann – Von jedem Tag will ich was haben, das ich nicht vergesse (Hg. von Andreas Leusink, Ch. Links Verlag, 20 €). Es enthält bisher unveröffentlichte Texte und Fotos, Briefe und Erinnerungen, Dokumente und Interviews, unter anderem erzählt Laila Stieler, 52, von der Entstehung ihres Drehbuchs. Und so ist das Buch, fast 30 Jahre nach dem Mauerfall, auch der Blick auf ein verschwundenes Land. Maxi Leinkauf

Sie treffe die Auswahl an Stoffen meist intuitiv, sagt Stieler. Auf die Friseurin brachte sie ihr Mann, der kam mal aus einem Salon nach Hause und sagte, „da ist so ne Frau, die kann ich gar nicht erklären, da musste mal hin“. Stieler ging hin, redete mit ihr, hatte ihre Geschichte. Es habe dann ewig gedauert, den richtigen Ton zu finden, sie wollte so nah dran sein wie möglich an der Art, wie die Frau erzählt hat. Sie hat den Film mit der Regisseurin Doris Dörrie gemacht. Der NSU-Stoff wurde ihr von der ARD angeboten. Sie wollte nichts über Täter machen. „Aber wenn die Opfer eine Stimme bekommen, dann bin ich dabei.“ Sie traf die Tochter des ermordeten Vaters erst über Anwälte in München, dann fuhr sie zur Familie in die Türkei, mit dem Bus von Antalya ins Landesinnere. Sie sei dort sehr gastfreundlich empfangen worden.

Meist stehe die Geschichte in groben Zügen schon, wenn sie den Leuten begegne. Diesmal war es die Geschichte eines Mädchens, das ohne Vater aufwächst und zur Hauptanklägerin wird. Sie wollte etwas über die Kraft des Überlebens erzählen.

Kennt keiner, guckt keiner

Stieler wuchs in Thüringen auf, bei ihrer Mutter Barbara und ihrem Ziehvater Winfried Junge, bekannte Dokumentarfilmer, die mit Die Kinder von Golzow, der Langzeitbeobachtung einer Schulklasse, populär wurden. Sie hat eine Weile bei ihren Großeltern auf dem Dorf gelebt, der spätere Umzug und das Ankommen in Berlin fielen ihr schwer. „So ein Gefühl von Fremdheit ist nie so ganz aus meinem Leben weggegangen.“

Durch den Beruf ihrer Eltern prägte sie bestimmte Fähigkeiten und Fertigkeiten ganz beiläufig aus. „Dass man über Filme redet oder Regisseuren und Schauspielern die Hand schüttelt, war nichts Besonderes.“ Sie studierte dann ab 1986 Dramaturgie an der Filmhochschule Babelsberg, ihr Rektor war Lothar Bisky, vor seiner Zeit als Chef der PDS war er Filmwissenschaftler. Er gab jungen Dramaturgen das Gefühl: Ihr habt eine Stimme. „Er war total lässig, er konnte Menschen annehmen, wie sie sind. Es bahnte sich ja an, dass was passieren wird im Land, aber die Jahre davor waren mit Hoffnung verbunden. Wir konnten relativ unbehelligt unsere Filme machen.“ Einen machte sie mit ihrem Kommilitonen Andreas Dresen: Was jeder muss (1988). Ein junger Mann muss zur Armee, er ist gerade Vater geworden. „Das sind 25 Minuten voller Trauer und Verständnislosigkeit, wie einem jungen Mann, der gerade ein Kind gekriegt hat, so’n Mist passieren muss, dass er weg muss von seiner Familie“, sagt Laila Stieler. Es sei ihnen nicht darum gegangen, zu provozieren. Ähnlich wie die Eltern mit ihren Golzow-Filmen wollte sie menschlichen Fragen nachgehen: Was ist normal am Leben, an Lebensläufen? Warum muss man denn jemanden so verbiegen, kann der sich nicht anders entwickeln? Muss das denn so hartherzig daherkommen?“

1988 bekam sie ihre Tochter, nach sechs Monaten ging die in die Krippe, das war in der DDR nicht unnormal. Im Mai ’89 machte Dresen seinen Prüfungsfilm, nach Motiven einer Jurek-Becker-Erzählung. Sie hatte zu diesem Text so viel zu sagen, „dass ich Andi gefragt habe, ob er was dagegen hat, wenn ich seinen Text ändere. Hatte er nicht.“ Anfangs haben sie zu zweit geschrieben, 1992 Stilles Land, über ein Provinztheater in Anklam im Herbst ’89. Dresen sagt hinterher zu ihr: So, und den nächsten Film schreibst du jetzt alleine! „Er war der Erste, der mich so ermutigt hat.“

Laila Stielers Berufseinstieg fiel in eine neue Gesellschaft. 1990, das DDR-Fernsehen nahm für ein Jahr noch einmal Absolventen auf. „Es war wie eine Galgenfrist, dafür bin ich wahnsinnig dankbar.“ Sie fuhr nach Westberlin in die Bibliothek und lieh französische Literaturadaptionen aus, lernte mehr darüber, wie man aus einem Roman ein Drehbuch schreibt. Der MDR in Dresden stellte sie dann als feste Redakteurin an. Der Vater blieb mit dem Kind zu Hause, sie hat das Geld verdient. „Das war der pure Zwang“, sagt sie. „Ich sah mich in der Pflicht, meine Familie zu ernähren.“ Dann fragte die UFA, ob sie als Producerin in Berlin arbeiten wolle. Nach und nach kamen eine gewisse Sicherheit und Bekanntschaften mit Redakteuren, Autoren, Regisseuren.

Mit 30 hat sie ihren leiblichen Vater gesucht, einen libanesischen Kommunisten. „Denn natürlich hat die Identität irgendwo ein Loch, wenn du die eine Hälfte überhaupt nicht kennst.“ Sie haben sich dann in Frankreich getroffen. „Er rauchte, ich rauchte. Dann mussten wir beide lachen, und ich sah ihn an und dachte: Der lacht ja wie du. Der zieht immer so die Mundwinkel runter. Ich hatte mich immer gefragt, warum ich so blöd aussehe beim Lachen.“ Es gab jetzt eine Erklärung für Dinge, die ihr lange rätselhaft waren.

Sie schrieb mit Maria Schrader das Drehbuch zu Liebesleben, nach Zeruya Shalevs Roman, 2016 adaptierte sie Miriam Meckels autobiografischen Bericht über ihren Burn-out. Eigentlich lief alles. Sie hatte ihr Auskommen. „Trotzdem war da eine Leerstelle. Ich habe eine Weile gebraucht, um herauszufinden, was das war, was mich unzufrieden machte. Immer wieder hab ich mich gefragt, was ich eigentlich will. Ob ich vielleicht zu angepasst lebe, um nicht zu sagen, fremdbestimmt. Ob ich nicht mal über etwas schreiben sollte, was mehr mit mir zu tun hat. Wirklich mit mir.“

Und da war Gundermann wieder da.

Sie hörte seine Lieder, eine Stimmung, die sie kannte. „Eine Melancholie wie direkt aus der Erde, aus dieser Braunkohle, das hatte etwas Derbes und Zartes zugleich. Das hat mich immer aufgebaut, bei aller Schwere, die das hat.“ Warum hing sie so sehr an dieser Figur? Diesem blassen Mann mit Fleischerhemd und großer Brille?

Mitte der 1990er Jahre wurde öffentlich, dass Gundermann von 1976 bis ’84 IM Grigori war. „Und ich fragte mich: Was macht das mit einem Menschen? Dieses Erschrecken über etwas, was schon so lange zurückzuliegen scheint, was man gern vergessen hätte, weil es doch nicht so wichtig schien fürs spätere Leben.“ Es weckte ihren Widerspruch, wie in Artikeln und Berichten mit ihm verfahren wurde. „So ging es mir schon bei Christa Wolf, die in jungen Jahren auch als IM geführt und – nachdem das herauskam – plötzlich darauf reduziert wurde. Und ich wurde regelrecht wütend, wenn Leute, die aus meiner Sicht keine Ahnung hatten, über meine Helden richteten. Und damit ja gewissermaßen auch über mich und mein Leben. Ich hatte das Gefühl, ich müsste das verteidigen.“

Wie erzählt man so ein widersprüchliches Leben? Zwischen Glauben an die gute Idee, und Verzweiflung über die Betonköpfe. Rausschmiss aus der Partei und Verpflichtung für die Staatssicherheit. Aufreibenden Schichten im Tagebau und abends Konzerten auf der Bühne. Energie und Ermattung. Stieler wollte es offenhalten, fragmentarisch. Teile dieses Lebens ablaufen lassen. Eigentlich zwei Leben. Es war schwer, Förderung und Unterstützung zu bekommen. „Kennt keiner, guckt keiner“, hieß es. Eine Produktionsfirma wollte vor allem einen Dresen-Film machen. Dass es um Gundermann ging, nahmen sie in Kauf. Schwer für eine Autorin. „Es ist eine Unsitte, nicht nur eine deutsche, dass Drehbuchautoren so unterm Radar gehandelt werden“, sagt Regisseur Andreas Dresen, wenn man ihn nach der Zusammenarbeit mit Laila Stieler fragt. Er macht es anders: Auf dem Plakat zum Gundermann-Film steht Laila Stielers Name ganz oben neben seinem.

Zweifel und Spaziergänge

Dresen und Laila Stieler begleiten sich seit 33 Jahren. Bei der Polizistin hat es sieben Jahre gedauert, bis der Film fertig war, es gab 13 Drehbuchfassungen. Bei Gundermann waren es mehr als zehn Jahre. „Wir haben eine gewisse Geduld miteinander entwickelt“, sagt Dresen. Sie machen lange Spaziergänge in Berlin und in der Uckermark, in der sie seit mehreren Jahren lebt. „Sie ist uneitel. Ich mag ihre Genauigkeit und ihre Art, über Menschen zu denken.“

„Komm uns doch mal in Thomsdorf besuchen“, sagt sie bei einem unserer Treffen. Eineinhalb Stunden sind es mit dem Zug nach Fürstenberg. Stieler hupt und winkt aus dem Auto. Sie wirkt gelöst. Sonnenblumenfelder. Hinter der Abfahrt nach Carwitz das Dörfchen. Ein Haus mit großen Fenstern am Waldrand. Helle geräumige Wohnküche, verwilderter Garten mit Johannisbeersträuchern, Kirschbäumen, mediterranen Kräutern. Sie müsse ganz schnell die libanesische Zeder gießen, ruft Laila aus dem Haus, „total vertrocknet“. Oben in ihrem Arbeitszimmer stapeln sich Bücher über die Gestapo und Frauen im Widerstand. Sie blättert darin, Sophie Scholl, Hilde Coppi von der Roten Kapelle – „ist das nicht imponierend“?

Aus der Küche ruft ihr Mann: „Soll ich Kaffee machen?“ Er sei ein harter Kritiker, sagt er. Lailas Talent sei, das Gewöhnliche besonders zu beschreiben: „Wunderbar unterhaltend, weder didaktisch noch pseudodramatisch.“

Wir gehen spazieren, und sie redet von ihren Unsicherheiten, in letzter Zeit seien oft Projekte abgesagt worden, aus Büchern keine Filme geworden, es sei jedes Mal wieder ein Kampf. Wir kommen auf einen kleinen Friedhof. Auf einem unauffälligen Grabstein steht: Ehepaar Kakowitz, beide gestorben im April 1945, am selben Tag. Könnte eine Geschichte werden.

Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Geschrieben von

Maxi Leinkauf

Redakteurin Kultur

Maxi Leinkauf studierte Politikwissenschaften in Berlin und Paris. Sie absolvierte ein Volontariat beim Tagesspiegel. Anschließend schrieb sie als freie Autorin u.a. für Süddeutsche Zeitung, Tagesspiegel und Das Magazin. 2010 kam sie als Redakteurin zum Freitag und war dort im Gesellschaftsressort Alltag tätig. Sie hat dort regelmäßig Persönlichkeiten aus Kultur und Zeitgeschichte interviewt und porträtiert. Seit 2020 ist sie Redakteurin in der Kultur. Sie beschäftigt sich mit ostdeutschen Biografien sowie mit italienischer Kultur und Gesellschaft.

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