„Ich habe die Perserin freiwillig gespielt“

Interview Maryam Madjidi kam als Kind kommunistischer Eltern von Teheran nach Paris. Sie hasste Croissants und war die Fremde. Für ihr erstes Buch wird sie in Frankreich gefeiert
Ausgabe 26/2018
„Ich habe die Perserin freiwillig gespielt“
„Ich habe die Perserin freiwillig gespielt“

Foto: Joel Saget/AFP/Getty Images

Eine Bar gegenüber der Gethsemanekirche in Berlin-Prenzlauer Berg. Im Mai hatte Maryam Madjidi eine Lesung in der Stadt. Beim Treffen raucht sie E-Zigarette, trinkt Limonade und redet klar. Ihr persischer Onkel schaut vorbei, er lebt seit 30 Jahren in Erlangen. Das Buch seiner Nichte, sagt er, habe er nach ein paar Seiten aufgehört zu lesen. Es tat ihm weh. Aber Maryam verdränge eben nicht.

der Freitag: Sie erzählen in Ihrem Buch von der Teheraner Kindheit und dem schwierigen Weg im Pariser Exil. Als kleines Mädchen sollten Sie Ihr Spielzeug an die Nachbarskinder abgeben.

Maryam Madjidi: Ja, meine Eltern waren Kommunisten. Ich sollte meine Puppen mit allen teilen.

Alle sollten gleich sein?

Ja, Privateigentum war Sünde. Aber es gab damals kein richtiges Erziehungsmodell, die Situation in Iran war nicht wie der Mai 1968. Sondern es war 1979 eine sehr brutale Revolution, der massive Aufstand des iranischen Volkes, nicht nur der Linken oder Rechten. Alle Schichten der Gesellschaft wurden von dieser Bewegung ergriffen. Und auf einmal sieht man den Schah seine Macht verlieren und findet sich in der Theokratie wieder. Mit der Scharia an der Macht. Plötzlich gab es diese politischen Gefangenen, Menschen die getötet wurden. Das Engagement der Linken musste total sein.

Als Kommunisten mussten Ihre Eltern vor den Mullahs flüchten. Erst Ihr Vater, und dann folgten Sie ihm 1986 mit Ihrer Mutter nach Paris.

Ja, und in der Abflughalle am Flughafen von Teheran kam ein bärtiger Mann auf uns zu und inspizierte unseren Ausweis. Er sagte: Es gibt ein Problem. Das Kopftuch sitzt nicht richtig. Für mich war das der große böse Wolf mit dem düsteren Blick. Ich weinte und rief nach meinem Papa. Irgendwann ließ er uns gehen. Er sagte, er habe auch eine fünfjährige Tochter.

Ihre Mutter verteilte Flugblätter, als sie mit Ihnen schwanger war.

Ja, das konnte ich erst mal nicht begreifen, aber heute verstehe ich, dass ihr Engagement total sein musste. Während der Résistance in Frankreich gab es ja auch viele Eltern, die Waffen versteckt haben oder heimlich Sachen in den Kinderwagen ihrer Kinder transportierten. Für mich war es interessant, weil das Kind im Herzen dieser Geschichte der Eltern steht. Im Französischen heißt mein Roman: Marx und die Puppe. Marx ist dieses Engagement der Familie, und die Puppe das kleine Mädchen und seine Spielzeuge.

Und dann die Ankunft in der Rue Marx Dormoy, einem der schäbigsten Viertel von Paris.

Ja, die Wohnung hatte 15 Quadratmeter, das Klo war auf dem Gang. Das war „der Fall“. Hätte es nicht Camus schon getan, hätte ich mein Buch so genannt. Es gab diesen Heroismus in Iran, das Gefühl, man könne Geschichte verändern, die ganze Familie war in diesem Kampf. Und dann diese Absteige in Paris, wo man sich einen Dreck darum scherte, was wir erlebt oder getan hatten.

Ihr Vater kaufte jeden Morgen Croissants, das Wort sollte man sich einprägen sagte er, das essen die hier.

Ja, aber sie schmeckten mir nicht. Und in der Schulkantine habe ich auch das Essen verweigert. Ich mochte weder Camembert noch Boeuf Bourguignon. Mein Onkel hatte im Gefängnis gesessen, und ich saß nun in einer französischen Schule, das Essen schmeckte nicht und ich habe im Unterricht eingepullert. Die tragische Banalität des Alltags.

Ein exklusiver Pakt

In ihrem Debütroman Marx et la poupée (Du springst, ich falle, Blumenbar-Aufbau 2018) erzählt Maryam Madjidi von ihrer Kindheit in Teheran und dem Leben zwischen zwei Welten. Von der Suche nach Identität und Heimat. Das Buch wurde 2017 mit dem Prix Goncourt für das beste Debüt des Jahres ausgezeichnet und in 13 Sprachen übersetzt. Maryam Madjidi, 1980 in Teheran geboren, kam mit sechs Jahren nach Paris. 2002 schrieb sie an der Sorbonne ihren Master über den persischen Dichter Omar Khayyâm. Heute unterrichtet Madjidi Flüchtlinge in Französisch, nachdem sie mehrere Jahre an einer Schule in der Banlieue und in Gefängnissen gearbeitet hat.

Der französische Literaturbetriebgilt nach wie vor als sehr hierarchisch. So wird etwa zwischen französischer und frankofoner Literatur unterschieden. Als frankofon werden die Werke nicht französischer Autoren bezeichnet, die aufgrund der kolonialen Vergangenheit Frankreichs in französischer Sprache schreiben. Bekannte Autoren sind etwa Ali Zamir von den Komoren, Alain Mabanckou aus dem Kongo, Amélie Nothomb aus Belgien oder der Algerier Yasmina Khadra. Die französische Sprache sei „das einzig Gute, was uns die Kolonialzeit gebracht hat“, meinte Khadra einmal.

Frankofone Autoren aus Afrika und Übersee fordern seit Längerem, man müsse die Sprache „aus ihrem exklusiven Pakt mit der Nation“ lösen. Sie halten die Unterscheidung zwischen französisch und frankofon für ein Relikt aus der Kolonialzeit.

Sie mussten Behördenbriefe schreiben, weil Ihre Eltern das nicht konnten.

Das war hart. Es ist nicht die Rolle eines Kindes, Briefe an das Amt für Wohngeld, Versicherungen oder die Stromanbieter zu schreiben.

Alles war verdreht. Meine Eltern, die Kämpfer? Sie machten Fehler auf Französisch, sie waren schwach und auf einmal nichts mehr wert. Ich wurde schnell erwachsen, das war gewaltsam. Ein bisschen wie bei den Misérables von Hugo.

Die Hände Ihres Vaters rochen ständig nach Lack.

Ja, er schuftete wie verrückt, zehn Stunden am Tag. Er war Autolackierer, dann machte seine Werkstatt dicht und er fing an, Rahmen aus Aluminium zu bauen, natürlich alles schwarz. Er hatte sich seine eigene Garage gebaut, später bekam er es als Bauarbeiter mit Holz, Beton, Zement, Kies, Spachtelmasse und Terpentin zu tun.

Wie kam Ihre Mutter klar?

Meine Mutter war in diesen ersten Jahren wie ausgelöscht. Sie konnte sich kaum von Iran lösen und wartete eigentlich immer nur auf Post von ihren Verwandten. Sie saß auf einem Stuhl und sah stundenlang aus dem Fenster, und sie redete kaum noch. Das eigentliche Leben war in Iran, in Paris war es stehengeblieben.

Das Exil hatte auch Ihnen die Sprache verschlagen.

Ja, ich war in einer besonderen Klasse – nur für Ausländer – und schnappte alles auf. Ich schrieb mir alle Worte auf, erfand im Kopf Geschichten, aber es kam nichts raus. Es gibt in Frankreich eine sehr eigenartige Weise, jemanden zu empfangen: durch Assimilation. Wir haben dir einen Gefallen getan, jetzt musst du genauso sein wie wir. Das ist der Vertrag.

Ein bisschen ging es so den Ostdeutschen mit dem Westen: Willkommen, aber Vorsicht!

Ja, das ist eine interessante Parallele. Das ist eine Art von gewaltsamer Anpassung denn es gibt ja eine Geschichte dahinter, ein Leben. Die Ostdeutschen kamen auch ins Exil, aber im gleichen Land.

Es existierte danach nicht mehr, nur die Leute waren noch da.

Ich habe diese Erfahrung auch. Iran existiert – physisch, auf der Karte. Aber in meinem Geist war es nicht mehr das Land meiner Kindheit. Und als ich im Jahr 2003 das erste Mal zurückkehrte, waren da nur meine Fantasien, nicht die Realität. Ich suchte Orte, die ich wiedererkennen wollte, aber alles hatte sich verändert. Das haben alle Exilanten gemeinsam: Sie kommen aus einem Land, das nicht mehr existiert.

Sie haben sich dort verliebt und wollten in Iran bleiben.

Ja, aber es war nicht der Mann, den ich liebte. Sondern er war für mich Iran. Eine Projektion. Ich hatte mich in mein Bild von Iran verliebt. Für eine richtige Beziehung muss man denselben Blick auf die Welt haben, gleiche Werte teilen.

Wie zeigte sich die Assimilation, von der Sie reden, denn konkret?

Die Franzosen erwarten, dass man Französisch redet, sonst wird man gedemütigt. Und sie korrigieren einen ständig: „Wie bitte? Es heißt letable? Non! Es heißt la table!“ Das ist furchtbar. Ohne Französisch bist du draußen. Ich unterrichte in Paris minderjährige unbegleitete Flüchtlinge in Französisch, weil ich weiß, wie das ist.

Das Persische verdrängten Sie und wollten vermeiden, dass Ihr Vater es Ihnen beibringt. Weil Sie beide Welten nicht zusammenbringen konnten?

Weil es die Sprache des Exils ist, der Trennung, der verlorenen Kindheit, der Großmutter, der Spielzeuge, der Revolution. Für mich ist diese Sprache mit Schmerz aufgeladen. Französisch, das war neu und unbelastet.

Aber bei Dates mit französischen Männern kehrten Sie die Iranerin hervor.

Ja, ich spielte mit dieser Exotik oder dem „Orientalismus“. Ich dachte: Ihr seht in mir diese fantastische orientalische Frau? Ein bestimmtes Bild? Dann antworte ich auf diesen Blick und bestätige ihn. Ich spielte diese verführerische Perserin mit den langen schwarzen Locken und der Poesie, so wie im Theater. Ich spielte das freiwillig. Aber dann gab es einen Moment, wo ich spürte: Ich kann das nicht mein Leben lang spielen. Das bin ich nicht. Ich war dabei, mich zu betrügen. Und verstand: Meine Identität hängt nicht nur vom Blick der anderen ab, sondern von meinem eigenen.

Wie war der Blick der anderen?

An der Uni sagten Kommilitonen entweder: „Was für ein Segen, in zwei Kulturen beheimatet zu sein“, oder: „Ich stelle dir Paul vor, er ist Musiker, ein richtiger Franzose, also nicht wie du ...“ Aber jemand, der kein Exil erlebt hat, der kann einfach nicht sagen: Wie fantastisch, eine doppelte Kultur zu haben. Es ist vor allem Schmerz. Und die Leute sehen dann wieder nur die Oberfläche von jemandem: Oh, sie kommt aus Iran.

Aber liegt nicht eine Stärke darin, eine doppelte Kultur zu haben?

Man kann viele Dinge aus zwei Sichten betrachten. Aber ich hänge weder radikal an Iran noch an Frankreich. Ich kritisiere beide Länder auf gleiche Weise. Und ich schaffe es sehr leicht, mich an jede fremde Stadt, an jedes Land anzupassen. Ich war eine Weile in Peking und in Istanbul. Diese Nichtbindung ist eine große Freiheit – und das ist eine Stärke.

Mir als Ostberlinerin fiel der Satz lange schwer: Ich bin Deutsche.

Ich würde nicht sagen: Ich bin Französin. Ich bin auch keine Iranerin. Ich gehöre nirgends hin, sondern bin eine seltsame Mischung.

Sie bekamen für Ihr Debüt gleich den Prix Goncourt – die Ankunft in der Pariser Literaturszene. Wie werden Sie da wahrgenommen?

Da werde ich immer als „iranische“ Autorin vorgestellt, die auf Französisch schreibt. Das ist wieder dieser Orientalismus. Man schiebt den anderen auf seine Wurzeln. Du bist Ausländerin.

Sie sind doch Iranerin, die auf Französisch schreibt.

Ja, aber es gibt für Franzosen eben eine französische Literatur – und eine frankofone. Und nur die französische Literatur ist „rein“.

Einwanderer seien einsam, wenn sie lange in Paris lebten, sagte der Marokkaner Tahar Ben Jelloun. Da fehle der Familiensinn.

Nein, in Paris leben bedeutet eine große Freiheit. Wer nicht reden will, der redet nicht. Wer Kontakte pflegen will, tut es. Und will man anonym bleiben, kann man das. Ich lebe mit meinem Freund, einem Franzosen, in Ménilmontant ein „vie du quartier“: Ich gehe über die Straße und die Leute grüßen: Salut, ca va? Und wenn ich in eine anderes Viertel gehe, kennt mich niemand. Das ist fantastisch.

Wie haben Ihre Eltern auf Ihr Buch reagiert?

Es hat sie aufgewühlt. Mein Vater sagte: „Seit deinem Buch kann ich mit erhobenem Kopf durch die Straßen gehen.“ Es ist die Geschichte seiner Familie. Und die ist ein Erfolg.

Das ist schön und gleichzeitig traurig. Vorher konnte er das nicht ...

Im Jahr 1991 wurde mein Bruder in Frankreich geboren. Das war sehr symbolisch. Neue Generationen, das sind neue Wurzeln, die sich in einem Land einpflanzen. Das Land ist dann vielleicht weniger fremd. Meine Mutter fing irgendwann wieder an zu studieren, machte eine Ausbildung zur Krankenschwester. Es hat lange gedauert, aber sie hat ihren Platz gefunden.

Kennen Sie andere Schriftsteller, die eingewandert sind?

Ja, einen deutschen Schriftsteller, Andreas Becker, der in Paris lebt und sich weigert, auf Deutsch zu schreiben. Wir verwenden beide eine Sprache, die nicht unsere eigene ist. Er kommt aus einer westdeutschen Familie, mit lauter Tabus, was die Nazizeit angeht. Er habe viele Fragen gestellt und gehört: „Sei still! Ruhe!“ Er lebt seit 30 Jahren in Frankreich und ist immer für sich. Vielleicht ist es das Wesen des Schriftstellers, dass er immer ein bisschen allein und unverstanden ist.

Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Geschrieben von

Maxi Leinkauf

Redakteurin „Kultur“

Maxi Leinkauf studierte Politikwissenschaften in Berlin und Paris. Sie absolvierte ein Volontariat beim Tagesspiegel. Anschließend schrieb sie als freie Autorin u.a. für Süddeutsche Zeitung, Tagesspiegel und Das Magazin. 2010 kam sie als Redakteurin zum Freitag und war dort im Gesellschaftsressort Alltag tätig. Sie hat dort regelmäßig Persönlichkeiten aus Kultur und Zeitgeschichte interviewt und porträtiert. Seit 2020 ist sie Redakteurin in der Kultur. Sie beschäftigt sich mit ostdeutschen Biografien sowie mit italienischer Kultur und Gesellschaft.

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