Er ist ein gefragter Mann. Maxim Leo schlägt für das Treffen ein vietnamesisches Restaurant in einem Hinterhof in der Rosenthaler Straße in Berlin-Mitte vor. Anschließend hat er hier noch ein Abendessen mit einem Kollegen und seinem Agenten.
der Freitag: Herr Leo, die Straße, in der wir uns treffen, kommt auch im Buch über Ihre jüdische Familie vor. Wer lebte hier?
Maxim Leo: Hilde, eine der Frauen, über die ich schreibe, hatte hier ihre erste kleine Wohnung. Sie wurde von ihrer Mutter gezwungen, sich in einem Schwesternwohnheim zur Säuglingsschwester ausbilden zu lassen, aber sie hat kleine Kinder gehasst und konnte kein Blut sehen. Sie hat dann in kleinen Theatern rund um die Friedrichstraße gespielt. Das war damals die Drogengegend.
Hilde ist eine der Frauen in Ihrem Buch, die vor den Nazis fliehen mussten und sich dann in die Welt verstreuten. Was wussten Sie als Kind von ihnen?
Da tauchte immer mal eine Geschichte auf, und als Kind vergisst man sie wieder. Mein Onkel André kam mal aus London zu Besuch nach Ostberlin, er hat After Eight und Twinings-Earl-Grey-Tee mitgebracht. Ich habe meine Mutter gefragt: Warum wohnt der jetzt in London? Sie hat es mir erklärt, aber ich habe es wieder vergessen. Wichtiger als die historische Einordnung waren die Westgeschenke, die sie mitgebracht haben. Als ich älter wurde, kam dann ein Moment, wo es wirklich Bedeutung erlangte.
Welcher Moment war das?
Die Hochzeit meines Bruders. Da waren auf einmal die Gleichaltrigen da. Davor waren die Verwandten immer die Alten gewesen. Da war mein Cousin Amnon aus Israel, den ich mir immer ein bisschen als mein eigenes mögliches Ich in diesem anderen Land vorgestellt hatte, weil wir uns so ein bisschen ähnlich sind. Ich habe gemerkt, dass da von meiner Seite auf einmal ein Bedürfnis nach Nähe ist und nach Wissen.
Ihr Bruder wurde in der DDR als „Jude“ beschimpft.
Ja, in der Schule, das war dann bei uns ein Thema, aber dann wieder keines. Meine Mutter ist zum Ende der DDR auf einmal ständig in die jüdische Gemeinde gerannt. Da war sie etwa so alt wie ich heute. Sie hatte auch so ein Bedürfnis, etwas über sich herauszufinden. Da bin ich manchmal mitgegangen, fand es ein bisschen komisch. Ich kann mit diesem Jüdischsein noch immer nichts Richtiges anfangen.
Jüdischsein war etwas, worüber man in der DDR nicht so gerne sprach. Das habe ich bei meinem Opa erlebt.
Für meinen Großvater, der in der Résistance war, hieß jüdisch sein immer Opfer sein. Schwach sein. Kommunist zu sein bedeutete, stark zu sein. Da hat er lieber diese starke, aktive Rolle gewählt, als jemand zu sein, der verfolgt wurde. Nur weil er etwas war, das er sich gar nicht ausgesucht hatte. Und alles Religiöse war unserer Familie sowieso fremd.
Zu Weihnachten hat Ihre Mutter immer Hühnersuppe gekocht, keiner wusste richtig, warum.
Ja, bis Tante Susi mir in der Bourgogne eine kochte und sagte: „Das machen wir immer zu Chanukka.“ Wir hatten eine jüdische Tradition, ohne es zu wissen. Als ich meine Mutter dann gefragt habe, sagte sie: „Na klar wusste ich das.“ Aber sie war unsicher, wie man damit umgehen soll. Meine Mutter spürte wahrscheinlich so eine Verletztheit ihrer Eltern, die ja beide verfolgt waren, und dachte: Darüber spricht man lieber nicht.
Soziologen sagen, das Schweigen gehe auf folgende Generationen über, sogar bis ins vierte Glied. Wie haben Sie das so erlebt?
Ich war bei einer Therapeutin, die mir erklärt hat: Was Familien nicht selber anpacken, wird delegiert. Diese Mechanismen sind brutal.
Simone Veil, die französische Politikerin, erzählte mir mal, sie könnte nicht mal mit ihrem Mann über die Erfahrungen im KZ reden.
Der Sohn meines Onkels schaltete den Fernseher aus, wenn über das Dritte Reich berichtet wurde. Eine Cousine von mir hat nie ein KZ besucht, weil sie davor Angst hatte.
Irmgard, eine Jura-Studentin der Humboldt-Uni, geht ins Gelobte Land. Hilde heiratet Fritz Fränkel, einen KPD-Gründer, Ilse kämpft im Untergrund. Was eint sie?
Sie alle mussten in der Blüte ihrer Jahre ihr Leben umkrempeln und erstaunliche Dinge machen. Sie folgten ihren Männern ins Exil. Hilde wäre ja nicht aus Berlin rausgegangen, wenn Fritz nicht gemusst hätte. Aber das Tolle ist: Es sind keine Opfergeschichten.
Alterspubertierende, Austern, Auentod
Maxim Leo, 1970 in Ostberlin geboren, ist gelernter Chemielaborant, studierte Politikwissenschaften in Berlin und in Paris. Er wurde Journalist und Reporter bei der Berliner Zeitung und schreibt dort im Wechsel mit Jochen-Martin Gutsch Kolumnen.
Mit ihm hat er auch Bestseller wie Sprechende Männer (2011) verfasst, außerdem schreibt Leo Drehbücher für den Tatort. 2006 erhielt er den Theodor-Wolff-Preis. In seinem ersten autobiografisches Buch Haltet euer Herz bereit (2009) schreibt er über seine ostdeutsche Familie und den Alltag in der DDR. 2011 bekam er den Europäischen Buchpreis. In seinem neuen Buch Wo wir zu Hause sind (Kiepenheuer & Witsch, 368 S.), das in diesem Februar erschien, erzählt Maxim Leo die Geschichte seiner jüdischen Familie, die auf der Flucht vor den Nazis in alle Welt zerstreut wurde. Viele seiner Cousins und Cousinen zieht es nun ebenfalls zurück in die verlorene Heimat, auch nach Berlin.
Maxim Leo ist zudem Krimi-Autor. 2014 erschien Waidmannstod. Der erste Fall für Kommissar Voss, 2015 Auentod. Ermittelt wird zwischen Polen und Deutschland. 2018 erschien der Bestseller Es ist nur eine Phase, Hase. Ein Trostbuch für Alterspubertierende, geschrieben mit seinem Kolumnistenkollegen Jochen-Martin Gutsch.
Neben dem Schreiben widmet sich Leo seinem Landhaus im Oderbruch, seinem Garten und anderen Hobbys. Er lebt mit seiner Frau und zwei Töchtern in Berlin-Prenzlauer Berg.
In Paris gibt Fränkel Abende mit Klaus Mann, Hannah Arendt oder Walter Benjamin, der sein Freund war. Es war nicht Hildes Welt.
Ja, Fränkel hat sie auch betrogen. Sie trennte sich und ging dann mit ihrem Sohn André nach London. Sie hat dort ihr Fotobusiness eröffnet, hat im Bombenkrieg Häuser gekauft. Sie wusste: Ich kann hier nur überleben, wenn ich selber für mich verantwortlich bin und meine Familie durchbringe. Sie alle tragen eine Beschädigung davon: diese Art, wie sich Hilde nicht um ihr Kind kümmern kann, wie sie keinen emotionalen Zugang zu ihrem Sohn findet. Andererseits gab es damals schlimmere Sachen.
Eine Metamorphose, die ihnen aufgezwungen wurde, haben sie genutzt, um ein Leben zu leben, das sie sonst nie gelebt hätten.
Ja, Irmgard fing noch mit 70 Jahren an, Psychologie zu studieren. Am Ende ist ihr Leben dadurch vielleicht viel interessanter geworden. Ich frage mich immer: Wie wäre es mir ergangen? Was wäre, wenn mein Großvater nicht zurückgekommen wäre, wenn ich in Palästina groß geworden wäre? Ich hätte das wohl als normal empfunden. Dieses Schicksalhafte, das wir unserem Leben immer so zumessen – es hätte gar nicht anders sein können –, das ist nicht so.
Wann waren Sie das erste Mal in Israel?
Da war ich 22, und es war mir seltsam vertraut. Ein fremdes Land, fremdes Klima, fremde Sprache, aber ich hatte sofort das Gefühl: Alles meine Leute hier. Ich spüre so eine gewisse Überidentifikation, die aus einem schlechten Gewissen entspringt, wie mir die Therapeutin erklärt hat. Weil man nicht da ist, um diesen Kampf zu führen, aber natürlich eine Verbindung dazu hat. Als ich später wegen meines Buchs wieder nach Israel reisen wollte, da starb kurz zuvor meine Cousine. Doch alle sagten: Komm!
Wie war es?
Es war toll, da so selbstverständlich aufgenommen zu werden. Sie waren dann zu Weihnachten auch mal bei uns und wir sangen gemeinsam Lieder. Ich merkte: Wenn ich da bin, bin ich immer auch ein Repräsentant ihrer verlorenen Heimat: der Typ, der da herkommt, wo wir auch mal waren.
Ihr Onkel spürte noch als älterer, erfolgreicher Mann eine gewisse Unsicherheit. Warum?
Ja, er hatte immer dieses Gefühl, nicht dazuzugehören. Es ist eine starke Verletzung, aus seinem Land rausgedrängt zu werden. Als Kind kriegt man ja die Verletzungen der Mutter mit, erlebt sie schwach. Man will sie nicht so sehen, springt in diese emotionale Bresche. Auch dieses ständige Kreisen – wer bin ich? Hört man mir einen Akzent an? – hat sich übertragen. Die Kinder von Onkel André haben diese Schutzmechanismen übernommen, indem sie einfach nicht hören wollten, dass ihr Vater, für jeden erkennbar, einen deutschen Akzent hat.
Dabei hat sich diese Familie kaum übers Jüdischsein definiert, mehr über Geistesdinge.
Manche haben sich auch für kommunistische Ideen begeistert – wie Hans und Irmgard. Später haben sie sich dann ganz bewusst entschieden, Zionisten zu werden. Sie sind als Feldarbeiterin und Zimmermann ins Gelobte Land gegangen und haben den ersten Kibbuz nahe den Golanhöhen mit aufgebaut. Sie dachten: Wenn die uns schon zu Juden machen, dann sind wir es auch. Sie wollten einer Gemeinschaft angehören, etwas Neues aufbauen.
Interessant war die Parallele zur DDR.
Ja, weil dieser Kibbuz genau wie die DDR nur für diese erste Gründergeneration überhaupt hingehauen hat. Die DDR war eine Therapie für die Moskau-Exilanten, die zurückkamen, damit sie sich nicht unsicher fühlten. Die DDR war die institutionalisierte Therapie – so wie es der Kibbuz für die verfolgten Juden war.
Wären Sie auch gern Teil einer Gemeinschaft?
Ich finde Gemeinschaft furchtbar, ich brauche nicht so diesen Verband. Ich bin sehr froh, wenn ich einfach ich bin. Ich habe ja schon Probleme, zu einer Demonstration zu gehen, selbst wenn das, was die Leute da rufen, exakt das ist, was ich denke. Ich kann einfach nicht mit 1.000 anderen Leuten irgendwo stehen.
Im November 89 waren Sie bei der Großkundgebung am Alex.
Ja, ich erinnere mich an die Rede von Steffie Spira, einer alten jüdischen Schauspielerin mit schlohweißem Haar. Sie zitierte aus Brechts Lob der Dialektik.
„So, wie es ist, bleibt es nicht.“
Ja, ich fand heraus, dass sie 1935 die Regie bei der emigrantischen Pariser Theatergruppe führte, in der Ilse spielte. Da zitierte sie nach der Premiere dieselben Sätze.
Interessieren sich Ihre Töchter für die Familiengeschichte?
Alles, was ich ihnen von der DDR oder auch vom Dritten Reich erzähle, ist für sie sehr weit weg. Das kommt vielleicht irgendwann. Mir fiel vor kurzem auf, wie merkwürdig die Zeitabstände sind: Ich bin 1970 geboren, da war der Zweite Weltkrieg 25 Jahre vorbei. Jetzt ist die Mauer 30 Jahre gefallen. Bei meiner Geburt war das Dritte Reich weniger weit weg als der Mauerfall heute.
Wann fühlen Sie sich noch als Ostdeutscher?
Ich bin ja jetzt in diesen mittleren Jahren, da wird man ein bisschen nostalgisch, man guckt mehr zurück als nach vorn. Ich suhle mich auch gerne in diesen Erinnerungen. Wenn irgendein Westler mir dämlich kommt, was die DDR angeht, da kann ich sofort sehr ostdeutsch werden.
Leben wir in der richtigen Gesellschaft?
Ja, Kapitalismus fand ich immer schon gut. Auch Wettbewerb.
Im Ernst?
Klar, das Pendel schlägt immer zurück. Mein Vater war anarchistischer Künstler, ich bin der bürgerliche Zwischenentwurf in meiner Familie. Es war für mich die einzige Art, zu rebellieren.
Betrübt Sie die Krise Europas?
Wir haben vergessen, wie wertvoll unsere Freiheiten sind. Wir müssen dafür kämpfen und dürfen uns nicht von diesen Rechtspopulisten verunsichern lassen. Warum gehen wir nicht lässiger mit der AfD um? Wir können den Leuten viel souveräner begegnen.
Wie soll das gehen?
Man könnte ihnen zuhören. Es wird viel zu schnell verurteilt, ohne dass man verstehen will, was da los ist. Man sollte nicht sagen: Ihr dürft nicht so sein, sondern fragen: Warum seid ihr so?
Woher kommt eigentlich das Fremdenfeindliche in Ostdeutschland?
Es ist größer als im Westen, weil diese ganze Vertreibung im Zweiten Weltkrieg nie thematisiert werden durfte. Dieses Unglück, das da Hunderttausenden widerfahren ist. Sie hatten 1989 ihre zweite große Identitätskrise. Sie haben die Fremden, die ja dann in Massen kamen, intuitiv mit Gefahr gleichgesetzt.
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