Es ist einer der sonnigen Nachmittage in Berlin. Anja Görnitz hat die „Weinerei“ für das Treffen vorgeschlagen, ein Café, in dem abends jeder für den Wein so viel bezahlen möchte, wie er will. Man begegnet hier Touristen, Einheimischen, Zugereisten. Anja Görnitz sucht sich einen Himalaya-Tee aus, der soll beruhigend sein. Eigentlich fühle sie sich im Moment wie im Urlaub, erzählt die 29-Jährige, auch ein bisschen leer. Vor Kurzem hat sie ihre Doktorarbeit über globale Gerechtigkeit abgegeben. Während sie redet, sucht sie immer wieder nach der genaueren Formulierung.
Der Freitag: Sie werden bald promoviert sein, haben zuvor in Pittsburgh und Bordeaux studiert. Groß geworden sind Sie in einem Plattenbau in Ostberlin.
Anja Görnitz: In der ersten Zeit meiner Ausbildung habe ich gar nicht erwähnt, dass ich aus Marzahn stamme. Ich sagte meistens, ich komme aus Berlin.
Sie wollten sich nicht den Getto-Stempel aufdrücken lassen?
Ja, ich wollte nicht als Verlierer stigmatisiert werden. Selbst früher in der Schule in Ost-Berlin war es uncool, wenn man aus Marzahn kam. Ich habe mich geschämt. Als ich 17 war, sind wir dann nach Lichtenberg gezogen. Das habe ich als Aufstieg wahrgenommen. Näher an der Stadt, schöne große Altbauwohnung, eigenes Zimmer. Mein erster Freund konnte mich dort besuchen.
Schämen Sie sich heute noch?
Erst seit ich etwas erreicht habe, gehe ich offensiv mit meiner Herkunft um. Jetzt könnte ich damit kokettieren, dass ich promoviert habe, obwohl ich aus Marzahn komme.
Im Osten wohnten doch verschiedene Schichten in der Platte. Milieus vermischten sich – Verkäuferin und Betriebsdirektor.
Verschiedene Schichten ja, aber nicht unbedingt Milieus. Ich hatte Mitschüler, die stammten aus großen Altbauwohnungen in Prenzlauer Berg, im Kollwitzkiez, bei denen standen die Bücher bis zur Decke. So etwas kannte ich aus meiner Platte nicht. Im Grunde wollte ich schon ganz früh nicht mehr ostdeutsch sein – sondern so, wie ich damals glaubte, dass Westdeutsche seien: weltgewandt, unprovinziell, selbstbewusst, zielstrebig.
Wie waren Ihre Eltern?
Ich selbst habe ganz Marzahn eher proletarisch wahrgenommen, meine Eltern würden aber wohl darauf bestehen, dass sie zur Intelligenzja gehörten. Meine Mutter hat Bauingenieurwesen studiert und in einer Ingenieursfirma gearbeitet. Mein Vater war Gefängniswärter.
Als die Mauer fiel, waren Sie sechs Jahre alt ...
… und alles geriet in Bewegung. Nehmen wir Urlaube: Manche stiegen ins Auto nach Südfrankreich, uns zog es erst einmal nach Bulgarien.
Wie sind Ihre Eltern denn mit dem Umbruch klargekommen?
Sie waren traurig, ein bisschen versteinert. Meine Eltern konnten die Wende nicht so recht verkraften. Aber es fiel ihnen schwer, in Worte zu fassen, woraus ihr Unwohlsein sich speiste.
Hatten sie den Job verloren?
Ja, aber beide haben schnell neue Jobs gefunden. Meine Mutter arbeitet seither in einer Immobilienfirma. Sie ist ganz zufrieden, hat Fortbildungen nebenher gemacht. Mein Vater war lange Zeit Busfahrer. Da hat man ganz gut verdient, aber es war stressig. Darum ging er von der BVG ins Sicherheitsgewerbe, was auch irre anstrengend ist. Aber er hält sich ganz tapfer. Das passierte alles parallel zu meiner Entwicklung: Abitur, Studium, Doktorarbeit.
Wenn man als Kind erfolg-reicher wird als die Eltern, hat man dann Schuldgefühle?
Ja, mir fällt das gar nicht so leicht, diese beiden Welten zusammenzubringen. Mein Vater tut mir oft leid, er muss seine Nachtschichten abreißen, ist im Kalten, und ich fahr mal schön für eine Konferenz nach New Orleans. Ich habe auch darunter gelitten, dass sie meine neue Welt nicht teilten. Als ich aus Pittsburgh kam, war ich so voller Ideen, aber meine Eltern konnten es nicht ertragen, mir zuzuhören.
Es hat sie bestimmt verunsichert.
Ja, sie dachten, es bringt mich weg von ihnen. Ich habe meinem Vater aus dem Urlaub mal ein Geschenk von Alcatraz, der Gefängnisinsel bei San Francisco, mitgebracht. Aber er konnte es kaum annehmen. Er würde vielleicht selbst gern mal hinfahren. Je weiter meine Schritte gingen, umso weniger konnten meine Eltern damit anfangen.
Hat Ihre ostdeutsche Herkunft Sie behindert?
Ich hatte oft das Gefühl, bestimmte Codes nicht zu kennen.
Welche Codes?
Ich meine soziale Kompetenz, die Art, wie man sich in bestimmten Kreisen verhält.
Welche Umgangsformen haben Sie sich neu angeeignet?
In schicken Restaurants zum Beispiel, da hat man dann sein Buttermesser und sein Brotschälchen, verschiedene Wein- oder Wassergläser – ich kannte das alles nicht. Da ist man dann so unlocker. Ich habe mich auch nicht getraut, zu fragen. Heute würde ich das tun.
Was änderte sich noch an Ihrem Habitus?
Früher war ich unheimlich frech und laut, habe Witze über mich selbst gemacht. In Berlin auf der Sportschule war das auch eher ein bodenständiges Milieu, nicht so schöngeistig. Ich benutzte das entsprechende Vokabular. Es gab zum Beispiel das Wort „schwul“ für lahm oder blöd. Im Studium in Magdeburg änderte sich vieles. Im 3. Semester bin ich das erste Mal nach New York geflogen. Das Sich-über-sich-selbst-lustig-machen in Gesprächen, das ging schnell weg.
Fingen Sie an, Networking zu betreiben?
Was ich nicht leiden kann – das mache ich auch nie –, ist mit jemandem reden ohne Grund. Ich gehe nicht nach einer Veranstaltung zu dem Professor, denke mir einen Anlass aus, um dann wahrgenommen zu werden. Nur wenn ich wirklich eine Frage habe. Mich muss ein inhaltliches Interesse treiben, was dann auch oft zu guten Gesprächen führt.
Nur 7,5 Prozent der Ostdeutschen sind in Spitzenpositionen. Der Soziologe Raj Kollmorgen erklärt das unter anderem mit der Selbstreproduktion westdeutscher Eliten, die niemanden von außen reinlassen.
Wir haben Merkel, Gauck ...
Und nur westdeutsche Minister.
Das stimmt. Dieser bestimmte Kreis, der Führungspositionen inne hat, lässt nur Leute rein, die so sind wie sie selbst. Aber man kann so werden wie sie. Wenn man das denn will. Es gibt jedoch auch ein zeitliches Problem: Man braucht eine bestimmte Ausbildung, beispielsweise als DAX-Vorstand: Die Wende ist 20 Jahre her, erst langsam kommen nun Ostdeutsche mit diesen Ausbildungen und Berufserfahrungen auf den Markt. Die passenden Studiengänge gab es in der DDR ja nicht. Die Grenze verläuft jedoch eher zwischen Männern und Frauen als zwischen Ost und West.
Das erleben Sie konkret?
In einem Colloquium beispielsweise muss man sich melden, um auf die Rednerliste zu kommen – die Männer machen das so lange, bis sie gesehen werden. Als Frau hebt man mal seinen Kugelschreiber. Mir wird meine Herkunft weniger im Wege stehen als mein Frausein.
Weil es so wenige weibliche Professorinnen gibt?
In meinem Bereich, Politische Theorie, sind nur 20 Prozent aller Professuren weiblich besetzt. Selbst wenn ich mich auf den Weg mache: Werde ich eine von ihnen? Ist doch unwahrscheinlich. Und wie kann ich das später mit einer Familie verbinden?
„Wenn ich die Wahl habe, bin ich heute für den Kapitalismus“, schreiben Sie in Ihrem Beitrag für den Sammelband Die 3. Generation Ost. Gleichzeitig würden Sie sich bei diesem Dafürsein schlecht fühlen.
Diese Auseinandersetzung ist für mich existenziell und persönlich. Jeder macht sich Gedanken, was Gerechtigkeit bedeuten könnte. Aber ich saß schon mit zehn Jahren in der Küche meiner Eltern, um zu diskutieren, welche Gesellschaftsform die gerechtere ist.
Was ist besser am Kapitalismus?
Wenn man ein Kind ist und sich diese Frage stellt, kommt man zu dem Schluss: Kommunismus heißt, nicht sagen zu dürfen, was man denkt, nicht dahin reisen zu dürfen, wohin man will und erschossen zu werden, wenn man „rüber“ will. Bei aller Kritik am heutigen System: Wie soll man den Kommunismus da attraktiv finden?
Sie schreiben auch: Man dürfe niemanden zum Sozial-Sein zwingen.
In letzter Zeit werde ich deswegen öfter mal in Diskussionen in die neoliberale Ecke gestellt. Das ist mir unangenehm, weil es so negativ besetzt ist und am Argument vorbeigeht. Früher wäre ich auf der Seite derer gewesen, die sagen: Wir müssen solidarisch sein, die Welt ist so ungerecht.
Und jetzt?
Ich glaube mittlerweile, dass überstiegene Anforderungen an Solidarität diese auch verhindern können. Dass man gar nichts mehr macht, weil man so hohe Anforderungen ohnehin nicht erfüllen kann. Es ist so wichtig, dass man auch auf sich achtet, es einem erst mal selbst gut geht. Nur dann kann man wirklich für andere da sein.
Adam Smith: Das Private bedingt das Gemeinwohl. Umgekehrt muss jeder mit seinem Scheitern allein fertig werden?
Es gibt ein individuelles Scheitern, wenn man im Casino sein ganzes Geld verspielt – und ein gesellschaftliches, wenn etwa Bildungschancen ungleich verteilt sind. Für das letztere tragen wir alle Verantwortung, für das erstere nur bedingt. Ich finde es zutiefst berührend, wenn jemand es schafft, ohne Bedingungen für jemand anderen da zu sein. Doch ein Staat sollte den Menschen Raum geben, nach dem eigenen Glück zu suchen. Man sollte nicht jedes Mal ein schlechtes Gewissen haben, wenn man an sich denkt.
Wann sind Sie freiwillig sozial?
Ich nehme zum Beispiel mein berufliches Engagement als soziales wahr. Schließlich widme ich mich 40 Stunden die Woche der Frage: Wie müsste eine gerechte Welt aussehen?
Wie denn?
Ich denke, es gibt moralische Mindestanforderungen, die man schlichtweg nicht abstreiten kann: Wir können beispielsweise nicht einfach ein Abkommen beschließen, dessen Kosten ausgerechnet arme Länder tragen, das TRIPS-Abkommen ist dafür ein Beispiel. Auf solche basalen Argumente sollten wir zunächst Bezug nehmen, damit kommen wir, glaube ich, weiter als mit bloßer Empörung. Weiterreichende Solidarität ist wundervoll, aber sie zu erzwingen widersinnig. Die Menschen sollten die Freiheit haben, solidarisch zu handeln.
Bildungsaufstieg kann heute auch gleich wieder Abstieg sein. In prekäre Jobs.
Wer sich von Stipendium zu Stipendium hangelt, hat Grund zur Klage, aber auch Vorteile. Ich hatte jetzt drei Jahre Zeit, um zu forschen, kreativ zu sein, selbstbestimmt zu arbeiten. Jetzt, nach dem Doktor, hätte ich noch ein, zwei Jahre Zeit, dann müsste ich wieder in eine andere Stadt, ins Ausland gehen, dann noch mal in eine andere Stadt. Man lebt prekär – nicht unbedingt finanziell, sondern was die Planung seines Lebens angeht.
Verbindet Sie noch etwas mit Marzahn?
Überhaupt nichts, und auch aus meiner Sportschule in Prenzlauer Berg haben viele einen anderen Weg genommen. Einige wenige kenne ich noch. Es ging rau zu, die Jungs sind zur Bundeswehr gegangen, Offiziere geworden. Bei denen habe ich mich nie heimisch gefühlt ... Wenn ich denen heute sage, ich mache mir Sorgen um meine Zukunft, wundern sie sich. Oder sie machen sich lustig: Schon öfter gehört, dass Leute mit Doktor keine Arbeit finden.
Es fehlen Schnittpunkte.
Ja. Sie sind beruflich fürs Erste bereits stärker verankert. Manche haben schon Kinder, ein Haus. Ich habe meinen Platz noch nicht gefunden. Aber ich habe vor ein paar Wochen geheiratet!
Kommt Ihr Mann aus dem Osten?
Ja, aus Dresden. Ich dachte, es sei Zufall, aber man ist sich einfach ähnlicher, wenn man dieselben Wurzeln hat. Das spielt eine Rolle bei der Partnerwahl. Wenn man in Westdeutschland groß geworden ist, und Eltern hat, die Professoren sind, findet man sich auch zusammen.
In der Liebe sucht man eher das Ähnliche?
Mein Mann kommt zwar aus dem Osten, aber er stammt aus einer kirchlich geprägten Familie, war bei der Jungen Gemeinde. Er ging früh in die USA, hat Klavier gespielt. Er ist ganz anders groß geworden als ich. Trotzdem: Wir teilen viele Erfahrungen.
Eine Stimme der selbsternannten „Dritten Generation Ost“
Anja Görnitz, geb. 1982, geht als eine von über 30 AutorInnen im eben erschienenen Buch Dritte Generation Ost. Wer wir sind, was wir wollen der Frage nach, welchen Einfluss ihre Herkunft bis heute hat. Es geht um Eltern, um Kindheit, um die Frage, in welcher Gesellschaft man leben möchte, um Abwanderung oder Karriereträume.
Entstanden ist dieser Sammelband aus vielen Gesprächen, Begegnungen und Erfahrungen zwischen Ost-und Westdeutschen. Die „Dritte Generation Ost“ wurde 2009 aus dem Ärger heraus ins Leben gerufen, dass nur ältere Männer wie Wolfgang Thierse oder Gregor Gysi den Osten und seine Geschichte repräsentieren – und dass der Blick oft zurückgeht, nicht nach vorn. Wo sind die jüngeren Gesichter? Wo die Stimme der zwischen 1979 und 1985 in der DDR Geborenen? Adriana Lettrari, geboren in Neustrelitz und aufgewachsen in Rostock, wollte sie zusammenbringen. Im Juni 2010 fand ein erstes Treffen statt – von da an debattierten sie regelmäßig, Ost-und Westdeutsche gemeinsam, und veranstalteten im Juli 2011 im Collegium Hungaricum in Berlin eine Konferenz. Mittlerweile hat sich ein Netzwerk aus mehr als 1.000 Menschen, Vereinen und Institutionen gebildet.
Bei diesem Projekt soll es nicht um die eine große Sache gehen, sondern um einzelne spezifische Themen wie etwa um Ostdeutsche, die sich mit der Frage konfrontiert sehen, ob sie sich eine berufliche und private Zukunft in Ostdeutschland vorstellen können. Um Fach- und Führungskräftemangel, demografischen Wandel, um das Verhältnis zwischen Eltern und Kindern, vor allem was die verschiedenen Lebenswege der Generationen vor und nach der Wende betrifft, und um Biografiearbeit. Eine Übersicht aller Projekte und Lesetour-Termine gibt es auf dritte-generation-ost.de.
ML
In der Freitag-Serie „Herkunft: Bestimmt“ erscheinen Beiträge über die Gründe und Folgen der abnehmenden sozialen Mobilität in Deutschland – und was man dagegen tun kann. Zu den weiteren Beiträgen der Serie
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