„Ich war nie die sizilianische Mama“

Porträt Marilina Giaquinta wurde schon zu Einsätzen gerufen, wenn sie gerade Kindergeburtstag feierte. Sie sieht das nicht als Arbeit
Ausgabe 41/2018

Der Ätna ist hinter Wolken versteckt. Es ist ein heißer Septembertag, auf der Via Etnea gehen die Leute shoppen, ein Stadtstreicher sitzt auf dem Boden vor seinem Hut, raucht, ein Streifenpolizist fährt vorbei und winkt. Im kleinen Buchladen nahe dem Piazza Duomo sind die Erzählungen von Marilina Giaquinta vergriffen, „aber ich habe noch ihren Gedichtband über die Liebe“, sagt der Händler. Die Dottoressa sei in Catania eine sehr bekannte Person: „Eine Schriftstellerin und Polizistin!“ Doktorin ist sie nicht. Dottore oder Dottoressa darf sich in Italien jeder nennen, der einen Studienabschluss mit Magister oder Diplom hat.

„Gehen wir zusammen abendessen, du bist eingeladen!“, sagt Marilina Giaquinta am Telefon. Treffpunkt ist ein kleiner Platz am zentralen Corso Sicilia. Von terrakottafarbenen Fassaden bröckelt der Putz. Sie trägt ein blau-rot geblümtes Kleid, es ist nicht neu, aber edel, blondes Haar, auf dem Anhänger ihrer silbernen Halskette steht Oui. Schwarze Sonnenbrille, rote Lippen, hohe Schuhe. Wir biegen in eine schmale Straße, in ein ruhiges Wohnviertel mit 60er-Jahre-Bauten. Damals boomte Italien, sagt Marilina Giaquinta. Sie betritt einen Weinladen, Küsschen für den Inhaber. „Aperitivo per favore!“, sagt sie bestimmt, aber charmant. Der Mann bringt Salami, Schinken und Vino dell’ Etna, sizilianischen Rotwein, an den Tisch in der Mitte des Raumes. Wir sitzen auf Hockern, Marilina Giaquinta zieht ihr Smartphone aus der Tasche, macht schnell ein Facebook-Update. Eine junge Frau tritt in den Laden, starrt sie an: „Sind Sie nicht die, die das Buch geschrieben hat?“ „Si!“, sagt Giaquinta knapp und prostet ihr zu. Am Ende des Abends will sie mir unbedingt vier Flaschen Wein schenken.

Malanotte, ihre Erzählungen, sind nun auf Deutsch erschienen. Am ehesten könnte man den Titel mit „Böse Nacht“ übersetzen, es sind Geschichten vom Rand der Gesellschaft, Figuren, die rausfallen. Prostituierte, Clochards, Anstreicher in verlassenen Villen, die Essensreste aus Mülltonnen fischen, grausige Funde machen. Migranten, die stranden. Horrorgeschichten? „Es ist das Leben“, sagt Marilina Giaquinta. Sie habe zum Abendessen keine Trattoria ausgewählt, sondern ein lichtdurchflutetes Lokal, sie kenne die Inhaber und unterstütze sie. Der Cavolfiore affogato, sizilianischer Blumenkohlsalat, ist köstlich. Marilina Giaquinta schwärmt von dem Schriftsteller Javier Marias. „Er sagt, das Leben, das wir gerade leben, sei nur eine von Tausenden Möglichkeiten. Das gefällt mir.“

Der nächste Morgen. Die Questura von Catania hat nach offizieller Anfrage einen Besuch im Kommissariat erlaubt. Wir fahren zusammen. Marilina Giaquinta steht da im marineblauen Jackett, grauem kurzen Rock, Pumps. Ihre Körperhaltung wirkt straff, der Blick streng. Von der Bohemienne des gestrigen Abends ist wenig übrig. „Ciao, steig ein“, sagt sie und gibt dem Chauffeur Streckenanweisungen.

Denen, die aus der Gesellschaft fallen

Ihre Figuren sind einsam, sie stehen am Rand, fallen aus der Gesellschaft. Marilina Giaquinta, 55, erzählt von ihnen in ihrem neuen Buch Malanotte: Stimmen in der Nacht (Launenweber, Übersetzung Barbara Pumhösel, 159 Seiten, 20 Euro). Es ist eine Ansammlung von 23 Geschichten aus der Ich-Perspektive, die den täglichen oder nächtlichen Horror ihrer Figuren umkreisen.

In kurzen, trockenen Sätzen, lyrisch, fragmentarisch, manchmal mit Einschüben im Dialekt von Catania nähert sie sich im Crescendo-Stil einem oft schockierenden Schluss. Die Erzählungen heißen schlicht „Blech“, „Mauern“ oder „C.A.R.A.“.Man könnte das italienische Wort cara als Anrede für Liebe dahinter vermuten. Gemeint ist jedoch das Auffangzentrum für Asylsuchende im Gemeindegebiet von Mineo, in der Provinz Catania, ein von Stacheldraht umgebenes Areal von vierhundert Reihenhäusern. Dort mussten sich zeitweise bis 7.000 Asylsuchende zusammendrängen. Als Oberst der Polizei von Catania weiß Marilina Giaquinta, wovon sie erzählt. Außerdem ist sie Dichterin. Auf Facebook postet sie alle paar Tage ein neues Gedicht. Poesie sei ohne Regeln, ohne Struktur. Das sei Freiheit. Sie zitiert häufig Guiseppe Ungaretti, den berühmten italienischen Dichter: „Wir leben alle am Rande des Abgrunds. Durch das Schreiben verhindern wir, dass wir fallen.“

2014 erschien in Italien ihr Gedichtband Farfalle, 2015 L’amore non sta in piedi.Für das sizilianische Radio hat sie Formate entwickelt und moderiert (Scusi, le piace Brahms?) Marilina Giaquinta ist Gast der diesjährigen Frankfurter Buchmesse.

Normalerweise laufe sie zur Arbeit, sie will mir aber Hafen und Bahnhof zeigen. Ihr Ufficio liegt nördlich der Stadt und ist von Schornsteinen umgeben. Es ist das Gelände der ehemaligen Schwefelraffinerie. Schwefel war für lange Jahre das gelbe Gold Siziliens: Noch 1900 kamen über 90 Prozent der Weltproduktion von der Insel. Die letzten aktiven Tagebaue machten in den 1980ern dicht.

„Buongiorno, Dottoressa“, sagen die Männer am Eingang. Giaquinta winkt, eilt durch die schmalen Gänge, in winzigen Büros stapeln sich abgegriffene Aktenordner in Regalen. Polizisten sitzen an drei Schaltern, lange Schlangen davor. Hier werden alle Genehmigungen für Waffen, Gewerbe oder Restaurants in Catania erteilt. Im Hinterhof hocken junge Migranten und warten auf ihre Permesso del giorno, die Tagesaufenthaltserlaubnis.

Marilina Giaquinta checkt ihr Handy, grüßt Kollegen mit Spitznamen. „Und jetzt zeige ich dir mein Büro.“ Vier Treppen zu Fuß. Marilyn Monroe lächelt einem entgegen, sie sieht glücklich aus auf der Fotografie, die da auf dem Boden an der Wand steht. Durch die Fenster geht der Blick aufs Meer. Filmplakate von Jungle Fever und Il Grande Lebowski stehen herum. An der Wand hängen Zeichnungen eines befreundeten italienischen Malers und ein Zitat des Marquis de Sade. Ein Kollege aus der Migrantenabteilung hat ihr das Schwarz-Weiß-Bild eines afrikanisches Kindes geschenkt, das im Hafen von Catania ankam.

Sie nimmt eine Tafel mit arabischer Schrift vom Tisch, die erste Sure des Koran, erklärt sie. Die habe sie selbst mit einer Feder aufgeschrieben, als sie einen Arabischkurs belegt hat. Urkunden und Medaillen für die „herausragende Polizistin“ hängen an der Wand, unterschrieben von Staatspräsident Sergio Mattarella.

Polizei, das sei nicht nur Repression. „Es ist ein Dienst am Bürger. Der Repräsentant des Staates muss ihn inspirieren, damit er den Staat respektiert. Ich übe meine Arbeit einfach als Bürgerin aus“, sagt sie und unterschreibt routiniert Dokumente. Wie konnte sie so erfolgreich werden, als Frau, in einem Männerberuf?

Kant und Anstand

„Ich war fleißig“, sagt Marilina Giaquinta. Sie hat studiert, einen concorso, einen öffentlichen Wettbewerb gewonnen, sie war landesweit unter den ersten fünf. 1981, ziemlich spät, wurden in Italien solche Wettbewerbe auch für weibliche Polizeianwärterinnen zugelassen. 1986 durften Frauen dann auch ins Kommissariat, als Leiterinnen arbeiten. Marilina Giaquinta hat fünf Jahre lang den gleichen Dienst wie Männer geleistet („wenn Sie dazu in der Lage sind“, hieß es).

Sie fuhr stundenlang im Streifenwagen, selbst wenn sie ihre Menstruation hatte, kaum Essen, wenig Körperpflege. Sie war bei der Sitte, bekam es mit Prostitution zu tun, sah die Bilder minderjähriger rumänischer Prostituierter, deren Leichen im Meer gefunden wurden, brutal zugerichtet. Ein Kollege steht schweigend neben ihr im Büro, hört zu, nickt. Will er auch mal was sagen? „Nein, jetzt redet die Dottoressa. Sie weiß sowieso viel besser Bescheid.“ Giaquinta spricht sofort weiter. In diesem Büro ist Italien kein Macholand. Eine Kollegin tritt durch die offen stehende Tür. Von 100 Leuten in der Abteilung sind die Hälfte Frauen. Marilina sei „rigoros, präzise und sehr professionell“, lobt sie ihre Chefin. Sie habe es nicht leicht gehabt, aber konnte sich bei den Männern Respekt verschaffen. Sie kenne die menschliche Seele.

Marilina Giaquinta hat drei erwachsene Kinder. Wenn sie früher vom Dienst nach Hause kam, ging sie erst mal duschen, Sachen wechseln, die Kinder betreuen. Ihr Mann arbeitet als Anwalt in einer anderen Stadt, er ist nur am Wochenende da. „Ich war nie eine Madre siciliana, eine klassische sizilianische Mutter“, sagt sie, sie habe sich auch nicht auf die Großeltern verlassen können. Sie hat Geld verdient und konnte Nannys bezahlen. Sie wurde zu Einsätzen gerufen, wenn sie gerade Kindergeburtstag feierte oder mitten in der Nacht. „Ich habe das nie als Arbeit empfunden, sondern als Leidenschaft. Aber es vereinnahmte mich, 24 Stunden am Tag.“

Das Logische, Rationale, Zielgerichtete bei der Polizei – und das Träumerische, Empfindsame, Kreative der Poesie – es sind zwei entgegengesetzte Welten. Woher kommt das bei ihr? „Meine Mutter hat mir statt Spielzeugen Bücher geschenkt“, sagt sie. Sie wurden ihr Refugium.

Marilina Giaquinta wurde in Catania geboren, die Mutter war Grundschullehrerin und hat ihr früh geraten, unabhängig zu sein. Arbeit sei ein Wert an sich. Mit 12 Jahren fing Marilina Giaquinta zu schreiben an. Sie habe als Kind am Strand oft etwas abseits gesessen, in ein Buch vertieft, erzählt eine Freundin aus Kindergartentagen, die wir beim Mittagessen treffen. Der Beruf habe sie verändert, härter gemacht. Als Polizistin dürfe sie nicht zögern, müsse sekundenschnell Entscheidungen treffen.„Ich beschütze“, ruft Giaquinta, als müsse sie sich verteidigen. Ihr Vater war Finanzbeamter, von ihm habe sie gelernt, was Anstand sei. Dass es Dinge gab, die man nicht machte. Man hinterzieht keine Steuern. „Ich bin mit der Aufklärung, mit Kant und Rousseau groß geworden. Mit Vernunft, ohne Vorurteile.“

Es ist Dienstschluss an diesem Nachmittag, sie legt die Uniform ab, schlüpft in ihr Sommerkleid, schminkt die Lippen nach. „Gehen wir ans Meer.“

Diesen August hat das Flüchtlingsschiff „Diciotti“ am Hafen von Catania angelegt. Die Migranten durften laut Anordnung des Innenministers Matteo Salvini nicht von Bord gehen. Wie hat sie das empfunden? War das inhuman? „Il mio ministro? Der ist nicht das Problem“, antwortet sie nach kurzem Zögern. „Sondern es ist ein europäisches.“ Sizilien ist seit Jahren der Anlaufhafen für Migranten, sie hatte als Polizistin oft mit ihnen zu tun. Es gibt Fotos, auf denen man sie mit afrikanischen Kindern im Arm sieht.

Sizilianer sind Inselbewohner, da kommen und gehen die Menschen seit jeher. „Die Migranten, die hier ankommen, die bleiben nicht in Catania“, sagt Marilina Giaquinta. Sie würden nach ganz Italien weitergeschickt, weil sie in der Hafenstadt keinen Job finden. „Wir haben keine Tomaten, Zucchini oder Auberginen, die sie ernten könnten.“ Im ganzen Land schlägt ihnen Feindseligkeit entgegen, rassistische Aggressionen. Wie geht sie damit um? Marilina Giaquinta weicht aus, sie will nicht politisch Stellung beziehen, auch nichts gegen ihren Chef Salvini sagen. „Italien war immer ein Land der Auswanderer, nun ist es auch noch eines der Einwanderer geworden. Es findet noch keinen Weg, damit umzugehen.“

Rassimus gebe es auf Sizilien, das von Griechen und Arabern geprägt ist, nicht. „Wir sind offen, wir sind am Meer, wir sind gastfreundlich.“ Trotzdem hat Catania jetzt einen rechten Bürgermeister. Empathie oder Nächstenliebe, die sie als Polizistin oft nicht zeigen kann, lebt sie nach Feierabend aus. In ihren Geschichten von Taumelnden. „Ich will nicht stehlen. Es gibt nichts, was ich will, nur meine Freiheit, die Freiheit gleich zu sein, ein gleiches, ein wirkliches Leben zu haben“, sagt ein Migrant in einer ihrer Erzählungen. „Man muss sich in die Haut der anderen versetzen. Jeder hat seine Geschichte, sein Leben. Ich stelle mir diese Leute vor. Man liest in den Zeitungen von ihren Schicksalen, aber es interessiert keinen.“ Marilina Giaquinta gibt ihnen eine Stimme. Auch ein Weg, die Widersprüche auszuhalten.

Plastikbarbarei

Wir spazieren die Promenande entlang, was heißt spazieren, sie galoppiert. Das azurblaue Meer glitzert, auf schwarzen Lavafelsen bräunen sich die Leute. Es könnte malerisch sein. Wenn nur dieser Plastikmüll nicht wäre, Flaschen, Tüten, Becher, achtlos auf Steine, Kakteen, die Erde geworfen, natürlich auch ins Wasser. „Die Leute regen sich über Salvini auf“, sagt Giaquinta, „aber hier fängt die Barbarei an.“ Sie schimpft auf fehlenden Gemeinsinn, die Ignoranz der Italiener.

Auf dem Heimweg trinken wir Erdbeergranita. An ihrer Wohnungstür springen zwei Hunde an ihr hoch. „Sitz!“, der Ton ist noch schärfer als im Kommissariat. Ihr Sohn verabschiedet sich kurz, im Flurregal stehen Dostojewski, Musil, Stefan Zweig, Freud, Mann, Dürrenmatt. Sie lese auch „La Wolf“. Eine amerikanische Küche, Kunst an der Wand. In einer Ecke des großen Wohnzimmers, in dem ihre Tochter gerade fürs Jurastudium lernt, steht ein Minitisch.

Darauf thront der Computer, auf dem sie schreibt. Nachts, wenn sie wieder nicht schlafen kann.

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