„Kinder sollen selbst entscheiden“

Interview Uta Rinklebe leitet das MACHmit! Museum in Berlin. Schon zu DDR-Zeiten folgte sie ihrem Freiheitsdrang
Ausgabe 23/2020
Ob das Museum diese Krise übersteht? Uta Rinklebes Blick geht immer nach vorn
Ob das Museum diese Krise übersteht? Uta Rinklebes Blick geht immer nach vorn

Foto: Paula Winkler für der Freitag

Es ist eine Institution, das MACHmit! Museum für Kinder in Berlin. Pädagogen aus der ganzen Welt kommen hierher, um Anregungen zu sammeln. Man kann Ameisen zusehen, wie sie Blätter transportieren, etwas über fremde Kulturen lernen, über Ökologie. Museumsleiterin Uta Rinklebe führt durch die leeren Ausstellungsräume, wegen Corona steht das Museum jetzt vor der Schließung. In ihrem schlichten Büro brüht sie türkischen Kaffee.

der Freitag: Frau Rinklebe, warum arbeiten Sie mit Kindern?

Uta Rinklebe: Viele Ideen von Pippi Langstrumpf fand ich immer logisch.

Sie wurden Kinderkrankenschwester, Ethnologin, dann Leiterin eines Kindermuseums.

Ich bin ja in den 1970ern groß geworden, in der DDR. Und ich habe früh etwas von Janusz Korczak gelesen ...

Einem polnischen Kinderarzt, Schriftsteller und Lehrer. Ich hörte als Kind dieses Lied über ihn, wie er mit den jüdischen Kindern aus seinem Waisenhaus in Warschau in den deutschen Waggon gestiegen ist. Obwohl er sich hätte retten können.

Ja, aber nur wenige wussten, dass er auch ein bedeutender Pädagoge war, der in den 1930ern ein demokratisch geführtes Waisenhaus und ein Kinderparlament gegründet hat. Wenn im Waisenhaus zum Beispiel jemand etwas geklaut hatte, entschied das Kinderparlament über die Bestrafung.

Wie sind Sie auf Korczak gekommen?

Ich war neun oder zehn und fand zu Hause ein Kinderbuch: Der kleine König Macius, ein Märchen. Und eins über Korczaks Leben, seine Vorstellungen von Gerechtigkeit. Ich fand es ungerecht, dass ich als Kind manche Dinge nicht machen durfte. Ich fühlte mich in der Schule unwohl, wenn mir gesagt wurde, was ich machen muss – zum Beispiel eine Meise malen, obwohl ich mir gerade angucken wollte, wie die Schneeflöckchen aussehen.

Sie wollten selbst entscheiden?

Ja, ich bin so ein Typ Mensch. Ich wurde dann Kinderkrankenschwester, weil ich aus politischen Gründen in der DDR kein Abitur machen durfte. Ich war als Jugendliche in der Umwelt- und Kirchenbewegung aktiv, in der DDR-Friedensbewegung „Schwerter zu Pflugscharen“. Ich habe diesen Aufnäher getragen, als ich in der achten Klasse war. Während meiner Ausbildung zur evangelischen Kinderkrankenschwester in Ludwigslust hatte ich eine Pädagogiklehrerin, die uns Literatur nahebrachte, die man anderswo nicht lesen konnte. Pädagogische Konzepte und progressive Kinderliteratur.

Dann ist die Mauer gefallen, da waren Sie 22.

Ja, ich kündigte meine sichere Stelle an der Charité auf der Kinderkrebsstation und holte mein Abitur nach, so wie die meisten aus meinem Freundeskreis, plötzlich waren wir alle wieder Schüler. Beim Studium bin ich dann in die kulturwissenschaftliche Richtung gegangen, habe mich mit Europäischer Ethnologie beschäftigt. Mich hat diese Auseinandersetzung mit dem Eigenen und dem Fremden interessiert: wie man Geschichten von einzelnen Gruppen und Ritualen erforscht, um dann auf die Gesellschaft zu schließen.

Sie sind auch Kindheitsforscherin.

Ja, ich habe mich weiter mit Kinderleben und Familiensituationen beschäftigt. Zusammen mit einer Kollegin machte ich eine große Studie über Ost-West-Paare, die Kinder erziehen.

Kulturschock.

So war das für viele, ja. Wir suchten aber beides, Gemeinsamkeiten und Unterschiede.

Welche waren das?

Der eine sagt: Das Kind geht mit einem Jahr in den Kindergarten, der andere: Rabenmutter. Oder: Wird das Kind getauft? Über so etwas hatte man sich vorher nie Gedanken gemacht, auf einmal war das ein Thema. Den Eltern war anfangs gar nicht bewusst, dass sie so unterschiedlich sind. Sie dachten: Wir reden eine Sprache, alles ist locker. Und dann ging es den Ostlern und Westlern so wie anderen multikulturellen Paaren. Diese Unterschiede wurden lange runtergespielt. Erst in den letzten Jahren wird darüber mehr nachgedacht.

Wie kamen Sie in das MACHmit! Museum für Kinder?

Ich habe hier ein Praktikum gemacht, stand an jedem Werkstatt-Tisch. Nach drei Monaten wurde ich gefragt, ob ich die pädagogische Leitung übernehmen kann. Nach acht weiteren Jahren wurde ich Museumsleiterin und Geschäftsführerin. Ich war damals alleinerziehende Mutter mit zwei Kindern – und hatte diesen Druck, zu beweisen, dass ich es hinkriege.

Sie verfolgen dort diesen Ansatz der freien Entfaltung: Warum ist der gut für Kinder?

Kinder sollen mitkriegen, dass sie selbst entscheiden können, was sie machen wollen. Wir machen nur Angebote. Wenn sie rausgehen und sagen: Die Wachsstifte waren cool, dann reicht das. Es wird nicht abgefragt: Hast du jetzt alle Baumarten kennengelernt?

Kindermuseum – nach einer amerikanischen Idee

Der Ursprung dieser speziell für Kinder geschaffenen Museen liegt im Jahr 1899. Im Dezember öffnete das weltweit erste Kindermuseum, das „Brooklyn Children’s Museum“ in Brooklyn, New York. Kinder aus Brooklyn und Queens sollten einen Platz bekommen, an dem sie fühlen könnten, dass er speziell für sie geschaffen wurde, und an dem ihre Interessen, ihre Neigungen sowie Wünsche gehört und gefördert werden sollten. 1913 folgte das zweite Kindermuseum, das „Boston Children’s Museum“, vier Jahre später im US-Bundesstaat Michigan das „Detroit Children’s Museum“.

1980 entstand das erste deutsche Kindermuseum in Nürnberg, 1992 das MACHmit! Museum in Berlin-Prenzlauer Berg, aus einem Bauwagen am Kollwitzplatz heraus. Die Idee: spielerisches Lernen in offenen Räumen, Selbermachen. Der Bauwagen wurde aufgegeben, die Idee blieb. 2003 eröffnete das Museum in der ehemaligen Elias-Gemeinde. Kindern zwischen drei und zwölf Jahren sollen gesellschaftlich relevante Themen nähergebracht werden, zum Beispiel „Energie bewegt uns“ – von Einstein bis zum eigenen Fahrradkraftwerk –und Recyclingpapier.
Das MACHmit! Museum wurde weltweit bekannt und bekam Preise. 63.000 Besucher aus aller Welt besuchten – in den Zeiten vor derCorona-Krise – jährlich das Museum.

Als gemeinnützige GmbH finanziert es sich zu 70 Prozent durch Eintrittsgelder, 20 Prozent sind Förderung von Bezirk und Senat. Wenn jetzt nur noch die Hälfte der Besucher kommen darf, droht die Schließung.

Es gibt im Moment eine Ausstellung über Holz und Kinderrechte.

Solange Kinderrechte nicht im Grundgesetz stehen, Kindheit nicht als gleichwertige Lebensphase angesehen wird – sondern nur als Vorbereitungsphase auf die Erwachsenenwelt –, so lange brauchen wir einen Ort, ein Museum für Kinder! Die Erwachsenen dürfen mitkommen. Jetzt, in Corona-Zeiten, haben auch viele Politiker begriffen, dass die Belange von Kindern mehr wahrgenommen werden müssen.

In der DDR ging es bei der Kindererziehung weniger um individuelle Unterschiede, mehr um den Kollektivgedanken. Heute scheint das umgekehrt zu sein, oder?

Also, ich bin wirklich kein Fan von kollektiver DDR-Erziehung. Aber ich erlebe manchmal Eltern, die nur ihr eigenes Kind am Werkstatt-Tisch sehen wollen. Hauptsache, es kriegt etwas von dem Eis ab, das wir im Sommer mit der alten Eismaschine herstellen. Sie kämpfen, damit ihr Kind an vorderster Front steht. Ich denke: Stopp!

Kinder sollen auf der richtigen Seite der Gesellschaft ankommen.

Da sollten wir eher das Gemeinschaftsgefühl fördern. Außerdem werden die Kinder, die hierherkommen, immer jünger. Manche Eltern sagen: „Diese Ausstellung ist für Dreijährige? Also, meine Tochter ist zwei, aber die ist schon ganz weit.“ Aber eine Holzausstellung für Zweijährige, das ist absurd. Die Eltern haben Angst, etwas zu verpassen, wenn das Kind nicht jetzt schon alle Baumarten aufsagen kann. Aber mit zwei Jahren ist es auch toll, Holz zu riechen, zu fühlen.

Was meinen Sie konkret mit: Kinder auf Augenhöhe behandeln?

Man muss genau wahrnehmen, was sie wollen. In den Kinderrechten steht, sie haben das Recht darauf, dass die Eltern sich um die Kinder kümmern. Aber sie haben keine Pflichten. Es geht dabei nicht darum, dass sie den Geschirrspüler ausräumen müssen. Denn selbst wenn sie den Geschirrspüler nicht ausräumen, haben sie das Recht, dass Eltern sie – zum Beispiel – den Jahreszeiten entsprechend anziehen. Dass sie ihnen eine Mütze aufsetzen, wenn es draußen zehn Grad sind. Eltern haben die Pflicht, dafür zu sorgen, dass das Kind nicht krank wird. Es hat auch das Recht auf Fürsorge und Gesundheit.

Kinder können den Fahrradhelm blöd finden, müssen ihn aber trotzdem aufsetzen. Sie brauchen Haltung, Regeln.

Ja, das stimmt, aber manche Kinder trauen sich nicht mal, zu sagen, dass sie den Helm blöd finden. Weil sie nicht gelernt haben, zu sagen, was sie denken. Darum geht es: dass sie ihre Meinung sagen können.

Wie war Ihre Kindheit?

Ich lebte mit meiner Familie in Hasselfelde, einer kleinen Stadt im Harz. Ich war sehr freiheitsliebend. Ich wollte nicht in den Kindergarten. Meine Mutter hat es so organisiert, dass ich zur Nachbarin gehen konnte. In der Schulzeit war ich ein „Hauskind“, ging nicht in den Hort.

Was machte Ihr Vater?

Er war technischer Leiter in einem Volksgut. Wir hatten einen privaten Weihnachtsbaum-Verkauf, den meine Mutter gemanagt hat.

Was prägte Sie noch?

Das Buch Die wunderbaren Jahre von Reiner Kunze. Das war ein Schriftsteller, der ja wegen Repressionen in der DDR 1977 ausgereist war. Er hatte so kleine Gedichte, Texte und Impressionen übers Schulleben und die Situation von Jugendlichen und Kindern geschrieben. Es war in der DDR verboten, aber eine Freundin von mir aus Greiz hatte das Buch.

Greiz – wo gerade Corona ist?

Ja. Dann habe ich das ganze Buch handschriftlich abgeschrieben, weil ich es unbedingt haben wollte. Das hat für mich etwas mit Freiheit zu tun, jedes Buch kaufen zu können. Kunze hat ja dann im Westen gelebt, und meine Tante aus Starnberg ist mal zu einer Lesung gegangen. Sie hat mir dann ein signiertes Buch in den Osten geschmuggelt.

Sie erlebten die Umbruchjahre der 1990er, sehen Sie da Ähnlichkeiten zur Corona-Zeit?

Ein Bekannter von mir sagte, er könne sich von der Polizei nicht kontrollieren lassen, weil er aus der DDR komme. Aber ich sehe da keinen Zusammenhang. Ich fahre jetzt lieber mal eine Weile runter, als später auf der Intensivstation zu liegen. Als die Mauer gefallen ist, habe ich einen Kunsthistoriker aus Westberlin kennengelernt und bin mit ihm durch die DDR gereist. Ich habe vieles durch seine westdeutschen Augen sehen können und er durch meine ostdeutschen. Vor dem Deutschen Historischen Museum stand damals ein großer Container, und da schmissen sie alles rein, die Utensilien, die nicht mehr gebraucht wurden. Dieses Gefühl: Wir wissen gar nicht, was kommt, das erinnert mich an diese Zeit damals. Es ist heute wieder so, aber meine Angst vor Veränderungen ist nicht mehr so groß.

Sie kämpfen gerade um den Erhalt des MACHmit! Museums, also auch um Ihre Existenz.

Ja, es sieht im Moment echt dramatisch aus. Wenn wir jetzt mit einer begrenzten Besucherzahl wieder aufmachen, haben wir große Einnahmeverluste. Ich suche gerade händeringend nach einer staatlichen Unterstützung. Ich hatte kein gutes Wochenende, weil ich das erste Mal dachte: Wir schaffen’s vielleicht doch nicht, das Museum für Kinder als Kinderkulturort zu erhalten.

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