Er wolle sich sein eigenes Bild davon machen, „wie die realen Verhältnisse 1990 waren“, sagt ein Student, der am Sonntagabend ins Kino Moviemento in Berlin-Kreuzberg gekommen ist. Er möchte sich ein Stück Geschichte anschauen, er war damals 11 Jahre alt. Der Saal ist mit 120 Leuten voll besetzt, es werden zusätzliche Holzbänke aufgestellt. Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag, die Mainzer wird geräumt! heißt der Film, der hier Premiere feiert. Es ist die Dokumentation der größten Straßenschlacht zwischen Polizei, Hausbesetzern und Sympathisanten im wiedervereinten Berlin.
Regisseurin Katrin Rothe hat 20 Jahre danach mehrere Zeitzeugen befragt: Besetzer aus Ost und West, den Lesebühnen-Star Ahne, den Fotografen Harald Hauswald oder die kürzlich verstorbene Bürgerrechtlerin Bärbel Bohley. Die Mainzer Straße war ein Symbol für Ostberlin. Wohnungsbesetzungen waren im Osten nicht so politisch aufgeladen wie im Westen. Wer illegal in eine Wohnung einzog, machte das nicht aus gesellschaftlichem Protest, sondern aus pragmatischen Gründen. Sogar Angela Merkel war mal Hausbesetzerin. Weil man ihr in der DDR nicht rechtzeitig eine Wohnung zugeteilt hatte, zog sie in Ostberlin einfach in eine leerstehende, erzählte sie in einem Interview. Sie zahlte, anders als westdeutsche Besetzer, sogar Miete. Nach dem Herbst 1989 gab es im Osten dann auch wegen der Ausreisewelle viele leerstehende Gebäude. Und es gab schnell mehr als 100 besetzte Häuser. Eine Zeit, in der die Stadt wie eine große Spielwiese wirkte.
Einfach mal besetzt
Eigentlich wollte er damals nur eine Kneipe gründen, erzählt Ahne. Es sei ihm nicht um eine politische Botschaft, sondern um Party gegangen. Als er die vielen freistehenden Wohnungen sah, haben er und seine Kumpels sie einfach besetzt.
Bastian Krondorfer kam mit anderen Westberliner Schwulen 1990 ins „Tuntenhaus“ in der Mainzer Straße 4. Nach und nach stießen auch politisierte, schwulenbewegte Ossis dazu. „Ost und West blieb bei uns immer Thema. Man wollte das Gleiche, war aber unterschiedlich sozialisiert, auch in der Sprache.“ Für erfahrene Westbesetzer sei die Welt voller Feinde gewesen, erinnert sich Christian Scholz. „Wir hatten dieses Runde-Tisch-Ding im Kopf und mussten uns nicht so produzieren wie die aus dem Westen“. Küchendienstpläne organisierten sie dennoch gemeinsam.
Als am 12. November morgens um 7 Uhr drei besetzte Häuser in Friedrichshain geräumt wurden, demonstrierten die anderen Besetzer und forderten politische Lösungen. Sie errichteten an den Enden der Straße Barrikaden. Molotowcocktails und Steine flogen, Straßenbahnen brannten. Am 14. November begannen 3.000 Polizisten mit Wasserwerfern, Hubschraubern und Tränengas, die Häuser zu räumen. Einige Besetzer hatten sich verbarrikadiert, andere – wie Ahne – versuchten über die Dächer zu fliehen. „Ich kam mir vor wie in einem Slap-Stick, wie bei Dick und Doof“, sagt er im Film. Viele Zuschauer lachen. Als der Abspann läuft, wird es sehr still im Saal, es folgt langer Applaus. Und weil Premiere ist, gibt es hinterher Sekt.
Rien ne va plus
In der Lounge versammeln sich einige Protagonisten des Films und jene, die nochmal deren Heldengeschichten hören wollen. Die Regisseurin hat selbstgebackenen Kuchen mitgebracht. „Bist gar nicht älter geworden“, sagt ein West- zum Ostbesetzer. Sie haben sich seit 20 Jahren nicht gesehen, rekonstruieren erstmal die Strategien von gestern. „Für mich war das damals eine große politische Niederlage“, sagt Bastian Krondorfer, der jetzt Ende 40 ist, in der Aids-Forschung arbeitet und wieder in Kreuzberg lebt. „Mit der Räumung war klar: Rien ne va plus, die sozialen Bewegungen sind am Ende.“ Es klingt wehmütig. Manche Besetzer seien daran zerbrochen, andere hätten sich ins Private zurückgezogen oder sind „Hauseigentümer geworden“. Krondorfer suchte lange nach einem neuen Platz. Er fand ihn in Berlins boomendem Techno-Underground. Viele Besetzer trafen sich in den Nullerjahren auf Raves wieder. Sie feierten erneut in leerstehenden Häusern, doch aus Politaktivisten waren desillusionierte Nihilisten geworden.
Harald Hauswald lehnt im Moviemento an der Bar und lauscht den Besetzern, er hat die Randale 1990 für den Stern fotografiert. Jetzt macht er Reisegeschichten in Osteuropa. „Castor? Vor 20 Jahren wäre ich dabei gewesen.“ Er prostet der Regisseurin zu, sie hat selber in einem besetzten Haus gelebt. 2009 sah sie Berichte über die G8-Ausschreitungen in London und wurde wütend: „Man kann Protest nicht nur auf Krawall reduzieren.“ Sie fing an, der Frage nachzugehen: „Waren wir 1990 militant? Und warum?“ Es klingt spannend, aber die Antwort bleibt aus. Im Film lassen die Veteranen nur die Tage der Anarchie aufleben.
Nur mit einer Telefonkette
Rothe glaubt, es sei wieder Zeit für Protest: „100 verletzte Demonstranten? Die darf es in Deutschland nicht geben“, spielt sie auf die Eskalation bei Stuttgart 21 an. Auf die früheren Hausbesetzer wirken die schwäbischen Bahnhof-Protestler super organisiert, mit modernster Technik und ganzen Schulklassen als Unterstützung. „Wir waren damals auf einfachste Kommunikation angewiesen, nur Telefonketten. Aber es lief“, sagt Christian Scholz. Ab und zu wandert er noch durch die Mainzer Straße, die ihm nun totsaniert erscheint. Am Straßenpflaster könne man aber noch erkennen, „dass es mal offen war“, sagt er. Jeder sieht, was er sehen will.
Für Bastian Krondorfer wird es nach den Ausflügen ins unpolitische Raver-Dasein nun wieder ernst: Er hat gerade eine Räumungsklage am Hals. Der Eigentümer möchte alle Bewohner eines mit Senatsgeldern sanierten Hausprojektes in der Köpenicker Straße loswerden. Krondorfer hat jetzt einen Anwalt. Er möchte politischen Druck nicht mehr mit dem Molly, sondern mit einer Lobby ausüben. Sollte das scheitern, müsse er sich etwas Neues einfallen lassen, sagt er. Die Verhältnisse holen ihn gerade wieder ein.
Die DVD mit derDokumentation Katrin Rothes Herzlichen Glückwunsch - die Mainzer Straße wird geräumt! inklusive des Spielfilms Die Ex bin ich, der sich auch um verlorene Ideale dreht, kann man auf www.goodmovies.de bestellen.
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