„Mein Zugang zum Osten führt über Literatur“

Porträt Steffi Diez hat eine ehemalige Volksbuchhandlung der DDR übernommen – und redet mit Kunden auch übers Wasserfiltern
Ausgabe 06/2018
Steffi Diez fand in einer Krisenzeit Trost in Buchhandlungen
Steffi Diez fand in einer Krisenzeit Trost in Buchhandlungen

Fotos: Anne-Lena Michel für der Freitag

Er sei vor ein paar Tagen gerade im Amazon Bookstore in New York gewesen, sagt der Kunde, „direkt gegenüber dem Empire State Building“. Ein Mann um die 50, lässiger Schal, schwarzer Mantel. „Sehr übersichtlich“, man finde sich dort gut zurecht. Die Amazon-Mitarbeiter hätten viele Bücher sogar gelesen. „Das ist bei Ihnen hier ja ähnlich“, sagt der Mann. Steffi Diez lächelt.

An diesem Vormittag steht die 42-Jährige in ihrem Laden in Berlin-Prenzlauer Berg, eine eher nicht so große Frau, aber sie wirkt kraftvoll, selbstbestimmt. Sie sortiert gerade elektronische Bestellungen. Der Februar sei neben dem Juni eher schlecht fürs Buchgeschäft, sagt sie. „Es ist grau, die Leute gehen nicht mehr so gerne raus, es schwappt nichts mehr über vom Weihnachtsgeschäft, und Ostern ist auch noch zu weit weg.“ Sie weist auf das Mobiliar, massive Eichenholzregale, und auf die Schaufenstereinbauten. Diez und ihr Partner Matthias Holliger, der aus Basel stammt, haben die „Insel“ 2011 von den Vorgängern übernommen. Auf dem Verkaufstisch stehen Computer mit großen Bildschirmen; die Regale, der Warenbestand, Hardware und Software, vor allem der sogenannte good will, die Stammkundschaft und die gesammelten Daten im System, all die Posten gehörten zur Verhandlungsmasse beim Verkauf. Ihre ostdeutschen Vorgänger Astrid Blum und Uwe Siegel haben die frühere Volksbuchhandlung lange geführt und 1990 der Treuhand abgekauft. Es war eine der ersten Privatisierungen der Branche. Sie mussten aus privaten Gründen schließen und schauten sich verschiedene Bewerber an.

Der Einstieg sei sehr kollegial gewesen, sagt Diez, „unsere Vorgänger haben an alle Kunden einen Abschiedsbrief geschrieben und gebeten, dass sie dabeibleiben“. Sie wurden Stammkunden persönlich vorgestellt, die Vorgänger haben vor den Kunden gewitzelt, es sei eine „freundliche Übernahme“. „Nur haben wir uns natürlich trotzdem in diesem ostdeutschen Kontext wiedergefunden, der uns nicht vertraut war.“ Sie sind nach und nach in dieses Umfeld, in den Kiez hineingewachsen – durch die vielen Geschichten der Kunden, auch durch die Literatur, die verlangt wird. „Wir als Westdeutsche hören vor allem zu, fragen nach – da gibt es ja eine Empfindlichkeit.“ Sie wollten verstehen, was die Menschen hier bewegt hat.

Seit 1956 existiert die ehemalige DDR- Volksbuchhandlung, erst unter dem Namen „Thomas Münzer“. Steffi Diez holt zwei Bilder aus einer Schublade, auf einem sieht man eine Pferdekutsche für den Umzug 1990, auf dem anderen ein Schild, das an die Buchhandlung geklebt war: Ein Ende der zähen Verhandlungen zur Privatisierung der Buchhandlung ist endlich abzusehen.

Märchenlesungen, Buchhandelspreis und stabiler Umsatz

Die „Insel“versteht sich als Buchhandlung mit hohem literarischen Anspruch und kritisch-linksintellektuellem Sachbuchsortiment. Sie ist mittlerweile die älteste Buchhandlung in Berlin-Prenzlauer Berg und bildet eine Konstante in einem Viertel, das seit mehr als 25 Jahren einem rasanten Wandel unterworfen ist.Im Jahr 2011 fand mit der Autorin Annett Gröschner (Walpurgistag) die erste Lesung unter den neuen Inhabern statt.

In den vergangenen sechs Jahren veranstalteten Steffi Diez und Matthias Holliger jeden Sonnabend den Lesezirkus für Kinder, auch in der Vorweihnachtszeit werden Märchen vorgelesen und im Buchladen selber Waffeln gebacken. So sollen Bindungen aufgebaut und erhalten werden. Bibliotheken sind keine Konkurrenz, sondern Kunden und eine sinnvolle Ergänzung.

Trotz E-Books, E-Readern und Amazon ist der Umsatz des Ladens stabil, es gibt keine Rückgänge, sogar kleine Zuwächse – der E-Book-Anteil ist dabei eher gering. Die Festmiete steht bis 2021.

Die „Insel“ präsentiert sich auch auf Facebook und Instagram, um ihren Wirkungskreis zu erweitern. 2017 erhielt die „Insel“ den Deutschen Buchhandelspreis, der sich an unabhängige Buchhandlungen richtet, die sich „um das Kulturgut Buch verdient gemacht haben, etwa mit einem breitgefächerten literarischen Sortiment kleinerer und unabhängiger Verlage“.

Am 9. März 2018 findet die nächste Buchpremiere (Norbert Hummelt,Der Atlas der Erinnerung) statt. Zum Indiebookday am 24. März präsentiert Julia Hoße In meiner Erinnerung war mehr Streichorchester

Steffi Diez ist in Hessen groß geworden, sie wurde in Wiesbaden als Tochter einer Fremdsprachenkorrespondentin für Französisch und Englisch geboren. Nachdem sie die Kinder bekam, hat die Mutter nicht mehr gearbeitet. Der Vater war Physiker, er scherte aus der Musikerfamilie aus (sein eigener Vater dirigierte eine Zeitlang an der Deutschen Oper in Berlin). Diez hat in Mainz Theaterwissenschaft, Germanistik und Geschichte studiert. Nach dem Studium ging sie als Regieassistentin ans Kinder- und Jugendtheater in Heidelberg. „Das war mir aber zu passiv, da ging es vor allem ums Zuarbeiten.“ Sie hat gekündigt und eine Ausbildung als Buchhändlerin gemacht. Dann ging sie nach Bayern, da fand sie ihren ersten Job. Es ging ihr gut in München, aber ihr Lebensgefährte wollte unbedingt nach Berlin. Sie fand die Ausschreibung im Börsenblatt und dachte: Ich möchte diese Buchhandlung kaufen. Warum hat ihre Vorgängerin ausgerechnet die beiden ausgesucht? „Steffi und Matthias waren ein Glücksgriff. Sie hatte den buchhalterischen Durchblick, er war der Kunstliebhaber. Und sie waren ein Paar, so wie ich mit meinem Mann damals“, sagt Astrid Blum. Sie wollte Bindungen erhalten.

Steffi Diez führt durch den 45-Quadratmeter-Laden. „Die 1990er Jahre waren goldene Zeiten für Buchhändler im Osten, plötzlich konnte alles beschafft werden.“ Kurz nach der Wende sind noch Transporter mit den bestellten Büchern vorgefahren, und die Buchhändler konnten sie sich auf der Ladefläche raussuchen. Mittlerweile werden die Bestellungen im Morgengrauen in blauen Plastikwannen geliefert, aus einem Lager in Bad Hersfeld.

Immer noch top: Christa Wolf

Bücher konnten in der DDR immer auch eine politische Sache sein. „Einmal kam der Sohn eines früheren Verkaufsstellenleiters durch die Tür und hat seine Geschichte erzählt“, sagt Steffi Diez. Sein Vater hatte im Hinterstübchen so eine kleine Extrasektion mit politischen Büchern und bekam einen Hinweis, dass während seines Urlaubs Bücher verkauft würden, die auf dem Index standen. Und dass er vermutlich verhaftet werden würde. „Der hat dann Sack und Pack zusammengesucht und ist aufgrund dieses Gerüchts nach Westberlin geflohen.“

Ein älterer Mann mit Baskenmütze tritt ein. „Guten Tag, Herr Furtwängler, ich habe Ihren Artikel immer noch nicht gelesen, werde ich noch tun.“ Johann Philipp Furtwängler ist Psychiater im Ruhestand und Stammkunde. Er bringt manchmal seine Veröffentlichungen mit, wohnt mit seiner Frau hier um die Ecke in der Greifswalder Straße und kommt seit 1990 in den Laden.

Ein Regal voller Leben

Foto: Anne-Lena Michel für der Freitag

Diese Welt, in die Steffi Diez aus Bayern kam, war ihr aber nicht vollkommen fremd. Sie hatte Christa Wolf, Brigitte Reimann und viele Stücke von Heiner Müller gelesen und 2009/10 im Rahmen von „20 Jahre Mauerfall“ Vorträge über Schriftsteller aus der DDR an der Volkshochschule München gehalten. Ein Teil ihrer Familie kommt aus Thüringen: Aus dem Dorf Behrungen, an der Grenze zu Bayern, stammt ihr Vater. Er ging 1949 mit seinem Vater nach Westberlin. Ein Teil der Familie, die Tanten von Diez’ Vater, blieben dort und kamen in den 1980er Jahren als Rentnerinnen regelmäßig in Hessen zu Besuch. Die Lieblingspuppe, mit der sie und ihre Schwester spielten, hieß Heidi, sie kam aus dem Osten. Ihre Großmutter väterlicherseits stammt aus Radebeul bei Dresden. Diez’ Schwiegermutter ist Wienerin und lebt seit 50 Jahren in der Schweiz. Sie schwärmte von Wolfgang Hilbig, einem ostdeutschen Schriftsteller. „Mein Zugang zum Osten führt über die Literatur.“ Die verkauft sich noch immer wunderbar. In letzter Zeit werde wieder öfter Maxie Wander verlangt. „Und ich dachte: Warum habe ich das nicht am Lager?“ Christa Wolf ist noch immer Spitzenreiterin, viele Leser haben eine tiefe Bindung.

Beim letzten „Stadt Land Buch“-Festival war Diez Gast in der „Arbeits- und Forschungsstelle Privatbibliothek Christa und Gerhard Wolf“, es wurden erste eingetroffene Bücher vorgestellt, die die Wolfs der HU als Schenkung überlassen haben. Foto-Bildbände mit Schwarz-Weiß-Aufnahmen aus dem früheren Ostberlin werden nachgefragt – oder das neue Buch von Flake, „nicht weil er Keyboarder bei der Band Rammstein ist, sondern weil sich die Leser mit ihm identifizieren, als einem, der in Ostberlin seine Wurzeln hat und auf dem Boden geblieben ist“ (siehe Seite 17).

Jenseits der Bücher, was bedeutet ihr so ein Ort? „Ich ging vorher schon gerne in Buchläden, eine Weile war das fast manisch. Ich habe gestöbert und Orientierung gesucht. Buchläden waren ein Halt, als ich dachte, dass eigentlich nichts als das Theater mein Arbeitsplatz und Arbeitsort sein kann.“ Sie war auf der Suche nach Literatur über Lebenswege, hat das gesamte Werk Peter Schellenbaums gelesen, eines Schweizer Psychoanalytikers. Sie habe sich gefragt: Wo will ich hin, wo kann es weitergehen? Während der Zeit in München hat sie in einer Buchhandlung in Ebersberg, in einer ländlichen Gegend, gearbeitet. Der Laden lag klassisch am Marktplatz, machte früh auf und während der Mittagspause zu. Bestellungen wurden in tiefster bayrischer Mundart aufgegeben. „Da war alles konstanter, weniger Wegziehen und Zuziehen, keine ständig wechselnden Geschäfte so wie hier in Berlin.“

Manchmal ergeben sich Debatten in ihrem Laden. „Im Januar habe ich mit verschiedenen Kunden über die Ausstellung im Museum Barberini in Potsdam gesprochen: Hinter der Maske. Wie die Bilder dort in die Kunstgeschichte eingeordnet werden und ob die Werke ostdeutscher bildender Künstler in westdeutschen Sammlungen eigentlich vertreten sind.“ Als ihr Lebensgefährte Matthias Holliger noch im Laden stand, war er es, der am meisten gesprochen und nachgefragt hat, am Ende hatte er profundes Wissen über die Kunden. „Ich merke, dass er bestimmten männlichen Kunden fehlt, weil er viel Ahnung von Philosophie hat, und da gibt es eine recht große Leserschaft.“

Als „linksintellektuelle“ Buchhandlung wählen sie gesellschaftskritische Bücher aus, die eher aus einer linken Perspektive geschrieben sind. Im Laden werde oft über Öko-Konsum geredet. Sie besitze selbst kein Auto, aber immer wieder dieses Gefühl, das sei für andere ein totales No-Go: „Wie kommt ihr denn dann von A nach B? Wie bitte, ihr geht zu Fuß?“ Bücher über Plastikvermeidung laufen gut. Manche Kunden erzählen ihr, wie sie ihr Wasser filtern. „Aber: ‚Wie komme ich klar ohne Auto?‘ Das kauft keiner.“

Gott zum Gruße, Genossen!

Die Frage nach dem Wesen von Männern, nach ihrem Selbstverständnis und den verschiedenen Rollen sei gerade ein großes Thema: Wie die Frau sich sieht, aber auch die Selbstanalyse der Männer schlage sich nieder in den Buchveröffentlichungen, vor allem auch in der Belletristik: 2016 war Michael Kumpfmüller mit seinem Roman Die Erziehung des Mannes zu Gast, „und die männlichen Zuhörer der Lesung haben sich extrem angesprochen gefühlt, gerade hinsichtlich der Behandlung der Vaterbeziehung. Die spielt bei Knausgård ja auch eine wichtige Rolle.“

Holliger ist mittlerweile weg, heute betreibt Diez gemeinsam mit ihrer Kollegin Judith Thierkopf den Buchhandel, die sich vor allem um Kinder- und Jugendliteratur kümmert. „Steffi verkörpert die richtige Mischung aus Chef-Sein und Füreinander-da-Sein. Wir laden uns zu den Geburtstagen ein, weil wir das wollen.“ Als Buchhändlerin sei Diez bemüht, abseits der ausgetretenen Pfade zu suchen und Titel kleinerer Verlage zu fördern. Darin bestehe die Kunst eines Buchhändlers, „zu entscheiden, was man NICHT ins Sortiment aufnehmen möchte“, schrieb der britische Schriftsteller Mark Forsyth in seiner Broschüre Lob der guten Buchhandlung oder Vom Glück, das zu finden, wonach Sie gar nicht gesucht haben (2015).

Sie habe Kunden anfangs mit „Grüß Gott“ begrüßt, sagt Diez. „Ein totaler Fauxpas!“ Ein alter Ostberliner Kunde, der mittlerweile weggezogen ist, betrat die Buchhandlung regelmäßig mit dem Spruch: „Gott zum Gruße, Genossen!“

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