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Porträt Hamid Rahimi hat als Kind den Krieg in Afghanistan erlebt, flüchtete nach Hamburg und wurde dort zu einem kriminellen Schläger. Heute kämpft der Boxer für den Frieden
Ausgabe 37/2013
Hamid Rahiimi: „Du kannst niemals den Krieg aus deinem Herzen holen“
Hamid Rahiimi: „Du kannst niemals den Krieg aus deinem Herzen holen“

Foto: Wahid Rahimi

Eine junge blonde Frau parkt vor einem Steakrestaurant gegenüber des Hamburger Hauptbahnhofs, sie öffnet die Tür ihres Cabriolets: „Hey, ich bin Adriana, Hamids Assistentin. Ich hoffe, die Hundehaare im Auto stören Sie nicht, oder haben Sie eine Allergie?“ Sie biegt dann in eine schmale Seitenstraße in St. Georg, von Weitem sind Boote auf der Alster zu sehen. Da jogge Hamid Rahimi jeden Tag, sagt sie und hält vor einem Altbau mit zitronengelber Fassade. Betritt man Rahimis Wohnung, wird man von einer Boxerhündin begrüßt, die ein Lederhalsband mit glitzernden Steinen um den Hals trägt und Tyson gerufen wird. Sitz, sagt die Assistentin, die auch Rahimis Freundin ist.

Rahimi trägt Jeans und T-Shirt. Er verabschiedet gerade zwei Männer, mit denen er „was Geschäftliches“ besprochen hat, vorher war er trainieren. Er grüßt lächelnd, mit weichem Händedruck. Sein Leben sei zurzeit verrückt, redet er los, er komme gerade aus Budapest von der Box Convention, „fast die ganze Welt war da: Puerto Rico, Russland, Deutschland. Und alle Boxer, die man so kennt.“ Rahimi zieht sein Smartphone aus der Tasche und zeigt ein Foto, auf dem er im Anzug neben dem ungarischen Präsidenten steht und neben Don King – dem legendären Boxpromoter, der schon Mohammed Ali vertreten hat. „Der möchte mich jetzt unterstützen“, ihn, den Jungen aus Afghanistan, den bis vor einem Jahr kaum jemand kannte. Den afghanischen Kriegsflüchtling, der nach Hamburg kam und auch da erst ganz unten sein musste, bevor er sich wandelte und sich nicht mehr als Versager fühlte.

Mit Karzai in Kabul

Rahimi führt in sein Wohnzimmer. Von dem eleganten weißen Ledersofa kann man auf einen riesigen Flachbildschirm schauen, an der Decke hängen Kristallkronleuchter. Es ist die Wohnung von einem, der es geschafft hat, oder besser: von einem, der das zeigen will. Auf dem Fensterbrett steht ein Schwarz-Weiß-Porträt, ein ergrauter Mann mit dunklen Augen lächelt sanft, eine Schleife klebt am Rahmen: „Ingenieur Aminullah Rahimi – wir vermissen dich“. „Das ist mein Vater“, sagt Rahimi. Er sei im vergangenen Juli in Kabul gestorben – ein paar Tage vor seinem großen Kampf.

Rahimi zeigt die Pokale, die er auf einer Kommode im Schlafzimmer aufgereiht hat. Auf einem Tisch liegt ein druckfrisches Exemplar seiner Autobiografie: Hamid Rahimi – Die Geschichte eines Kämpfers. Er hat sie zusammen mit seiner Exfreundin, die Autorin ist, verfasst.

Rahimi will von Kabul erzählen. Er klappt sein Macbook auf, klickt durch lauter bunte Fotos. Sommer 2012. Auf den Bildern reckt er die Faust in den Himmel, umgeben von kleinen Jungs, Frauen, alten Männern, die ihn bejubeln. „Sie wollen Autogramme, schreien sich fast die Kehle aus dem Hals, und keiner schießt“, sagt Rahimi, und dass er dort als Held gelte, „weil sie wissen, ich bin einer von ihnen, und dass ich da nicht freiwillig weggegangen bin“. Der Krieg habe ihn zum Flüchtling gemacht. Rahimi sitzt auf anderen Bildern beim Tee mit afghanischen Kommandeuren, die aus allen Bevölkerungsgruppen kommen. Er bereitete sie auf den Kampf vor, damit kein Attentat geschehe. Es war der erste Profikampf in der Geschichte Afghanistans. Auf einem anderen Bild sitzt er neben Präsident Hamid Karzai. Damals nach dem Fight sei ein weißhaariger Mann zu ihm gekommen: „Noch nie hat man sich in unserer Geschichte so viele Sorgen um einen Hazara gemacht und für ihn gebetet“, sagte der Mann. Hazara – ein Stamm, der lange wegen des asiatischen Aussehens diskriminiert wurde, dem aber ein Fünftel der afghanischen Bevölkerung angehört. Auch weil sie zu den Schiiten zählen, galten sie als minderwertig, bekamen keinen Zugang zur Universität, zum öffentlichen Leben. „Das waren bei uns die Diener, die Sklaven“, sagt Rahimi. Es könne niemandem etwas Schlimmeres passieren, als in diesen Stamm geboren zu werden, da sei der Schmerz vorprogrammiert. „In Kabul war ich das ‚Schlitzauge‘, in Hamburg dann das ‚Ölauge‘“, fasst er knapp zusammen. Es klingt routiniert, so als streue er den Satz häufiger ein, wie eine Anekdote. „Aber du kannst ja deine Augen nicht abschneiden.“

Die Stimme verloren

Rahimi, Sohn einer Lehrerin und eines Ingenieurs, ist mit Bomben groß geworden. Sie waren drei Freunde in Kabul, einer, Khalil, war noch mehr. „Ich habe ihn geliebt, er war mein Blutsbruder.“ Bis zum Sommer 1992, als sein bester Freund stirbt. Rahimi war acht Jahre alt und hörte auf zu sprechen. Eine Eisdiele war explodiert, er konnte nur noch den Splitter in Khalils Herz sehen, dann war er monatelang wie gelähmt, und stumm. „Solange dein Freund noch da ist, deine Mutter, gibt es auch im Krieg eine heile Welt, einen Alltag“, sagt Rahimi. „Man spielt Murmeln, auch wenn drumherum Bomben explodieren.“ Warum war dieser Schmerz keine Wunde, über der sich eine Kruste bildete, die verheilte und verschwand?, schreibt er in seinem Buch. Die Mutter tröstete ihn: „Leid gibt uns Substanz, und ein Mensch, der nicht leidet, findet nicht zu sich selbst.“ Es half nichts. Rahimi schaute sich nur noch die Videokassette an, die ihm Khalil zum Geburtstag geschenkt hatte: Bruce Lee. Es ist so weit weg, hier in seinem Hamburger Wohnzimmer.

Rahimi zieht sich seinen Strumpf aus, zeigt den nackten Fuß: Man sieht Spuren von Kugeln, die er abbekommen hat, er zieht das T-Shirt hoch und zeigt die Narben auf seinem Bauch. Dabei wirkt er fast ein bisschen stolz. Dieser physische Schmerz sei nichts gegen die Angst, „dass man mir noch mal das Herz rausreißt“. Der Verlust des Freundes begleitet ihn bis heute: „Wenn man jemanden liebt und verliert, hat man Angst, wieder einen Menschen zu verlieren. Vielleicht bin ich deswegen ein bisschen beziehungsgestört.“ Seine Freundin sage immer: „Mit dir ist es so schwer, man kommt nicht an dich ran.“

1994 kam er nach Hamburg, St. Georg. Rahimis Mutter war mit den vier Kindern aus Afghanistan geflüchtet. Der Vater lebte schon zwei Jahre dort, im fernen alman. St. Georg stand damals für Nutten, Puffs, Drogen. Sie mieten sich im „Hotel Kabul“ ein, einer Asylantenpension, die auch als Stundenhotel genutzt wird. Der Vater steht an der Rezeption und trägt Koffer. Heute sieht man in dieser Gegend kaum noch Prostituierte, es ist verboten, offen auf der Straße über Sex zu verhandeln. Rahimi nimmt ein Blatt Papier und zeichnet das Viertel, wie er es damals wahrgenommen hat – mit Strip-Läden, Sex-Shops, Zuhältern, die in Mercedes-Cabrios ihre Runden drehten.

Ein Name im Milieu

Einmal war er mit seinem Onkel im Karstadt, eine bunte Welt mit Computerspielen. Wie kamen seine Eltern mit der neuen Welt klar? „Sie waren wer in Afghanistan. Jetzt waren sie wie Kinder, sie konnten nicht lesen und schreiben“, sagt Rahimi. Es tat ihm weh, sie schwach zu sehen. Der Vater, in Afghanistan ein angesehener Mann und Agraringenieur, hatte die Straße von Mazar-i-Sharif nach Herad mit gebaut, er liebte Edith Piaf, trug stets Anzüge und Krawatten, hatte sogar einen Chauffeur. Und nun Flohmarktklamotten. Seine Mutter, in Kabul Schulleiterin, ist in Hamburg putzen gegangen. Sie machte drei Jobs parallel, um das Geld für die Familie zu verdienen.

Als der Asylantrag genehmigt wurde, zog die Familie an den Rand, in den Osten Hamburgs, nach Jenfeld. Das sei für viele ein Getto gewesen, „aber für uns war es toll, wir hatten eine Küche, eine Toilette, die wir nicht teilen mussten“. Doch in der Schule wurde Rahimi gehänselt und attackiert, er stotterte, die Folgen des Stummseins, und er sprach kaum Deutsch. Erst als er selbst die Anführer vermöbelte, wurde er akzeptiert und beim Sport ins Team gewählt. Er hat gelernt: Gewalt bringt Anerkennung.

Einmal, bei einem Streifzug durch Blankenese, verguckte sich Rahimi in ein Mädchen und sprach sie an. Sie lebte in einer Villa, sie trennten Welten, aber die beiden wurden ein Paar.

Mit 15 Jahren trifft Rahimi einen alten Freund aus Kabul wieder. Er fuhr ein großes Auto, hatte Geld und eine Knarre. Alles, was Rahimi eigentlich verachtete. Aber er wollte auch kein Versager sein. „Ich wollte dazugehören.“ Deshalb wird er mit 16 Geldeintreiber – und verfällt dem Kokain. Er wird Profischläger für Dealer, Zuhälter, Baulöwen. Wenn er von jemandem bedroht wurde, rief er: „Halt die Fresse, du Hurensohn; ja, du Hurensohn ... schieß doch! Wenn du ein Mann bist!“ Er imitiert sich nur, aber er kann das noch ganz gut. Sie machten sich damals schnell einen Namen im Milieu, als Zuhälter der Zuhälter. Dass er brutal sein konnte, das machte ihn jetzt reich. Wenn Hemmungen kamen, nahm er Koks. „Mein Gewissen hat mich zum Junkie gemacht. Denn mit Koks konnte ich es töten.“ Rahimi holt sich ein Nasenspray, kaputte Schleimhäute, das sei noch übrig von der Sucht. „Man verachtet sich. Man sagt, man macht es nicht mehr, und tut es trotzdem. Ich habe meine Seele verkauft.“

Eines Morgens findet er seine Freundin zugerichtet vor. Rahimi ist 18 und schießt auf den vermeintlichen Vergewaltiger. Er hat den Falschen getroffen, der überlebt schwer verletzt. Rahimi will sich das Leben nehmen. „Aber die Knarre hatte einen Ladefehler.“ Er stellt sich der Polizei. Im Gefängnis sieht er den TV-Boxkampf von Dariusz Michalczewski, der Auslöser, sein altes Leben hinter sich zu lassen und Profiboxer zu werden. Anfangs wollte ihn kein Boxstall haben, aber er suchte weiter, bis ihm ein Hamburger Boxpromoter unter der Bedingung, 500 Karten zu verkaufen, seinen ersten Profikampf anbietet. Da ist sie, die Chance, seine Aggressionen zu kanalisieren. Die größte Kämpferin der Familie sei aber seine Mutter, sagt Rahimi, ein bisschen pathetisch. „Fahren wir sie besuchen.“ Der Weg nach Jenfeld, da wohnt sie heute noch, führt ein Stück über die Autobahn, dann kommt man in eine typische Sozialbausiedlung. „Salam“, ruft ein Junge mit weißem Hemd, Weste und Vollbart, der Rahimi erkennt. „Wieso sagt er nicht Hallo?“, fragt sich Rahimi, das sei gefährlich, der Rückzug in den Glauben.

Die „Jenfelder Kaffeekanne“, das Jugendzentrum, ist geschlossen. Rahimi öffnet die Tür zu seiner alten Wohnung, in seinem früheren Zimmer stapeln sich jetzt Gästematratzen. Seine Mutter steht in der Küche und kocht Reis mit Hühnchen, ein paar Cousins aus Afghanistan sind gerade zu Besuch. „Hallo“, grüßt Fatimah Rahimi, sie wirkt fast intellektuell, ganz in Schwarz gekleidet und mit Brille. Sie küsst Rahimi. „Er macht mich glücklich“, sagt sie, mit nur leichtem Akzent. „Dank ihm hält uns die ganze Welt für eine gute Familie.“

Sie habe immer an ihn geglaubt, sagt sie. Als er im Gefängnis saß, habe sie Kaugummis und Bargeld eingeschleust. Jetzt, mit 60, möchte sie in die Politik gehen und 2014 den afghanischen Präsidentschaftswahlkampf unterstützen. Von Männern habe sie genug. „Ich möchte meine Freiheit haben und nicht jemanden, der mir sagt: Wasch meine Wäsche!“ Rahimi lächelt stolz. Schaut sie sich die Boxkämpfe ihres Sohnes an? „Nein, viel zu brutal“. Rahimi muss los, zu seinem nächsten Termin. Er wirkt rastlos. Warum? „Jetzt lebe ich in einem friedlichen Land, aber es gibt etwas, das mich täglich fickt: die Kindheitserinnerung. Du kannst ein Kind aus dem Krieg holen, aber niemals den Krieg aus seinem Herzen.“ Warum er in Kabul kämpfe, nicht in Las Vegas, fragen Freunde.

Weil die Menschen ihn brauchen, sagt er. Sie bräuchten in Kabul Vorbilder wie ihn.

Als Boxer nennt sich Hamid Rahimi „The Dragon“ – nach seinem Vorbild Bruce Lee. Rahimi wurde 1983 in Kabul geboren und erlebte dort den Bürgerkrieg. 1992 flüchtete er mit seiner Familie nach Hamburg. Mit 15 geriet er in die Unterwelt von St. Georg und saß zweimal im Gefängnis, einmal wurde er unschuldig wegen eines Dolmetscherfehlers verurteilt. Das Urteil ist mittlerweile revidiert.

Rahimi fing an, sich Kenntnisse des Thaiboxens anzueignen und wechselte 2002 zum Amateurboxen. Ein Jahr später wurde er von Trainer Owen Reece entdeckt. Im November 2006 kämpfte Rahimi seinen ersten Profikampf und ist bisher ungeschlagen. Er steht derzeit auf Platz sechs der WBO-Liste. Im Juli 2012 wurde er weltweit berühmt, als er in Kabul den ersten offiziellen Profikampf in Afghanistans Geschichte kämpfte – den Fight for Peace, zu dem sich alle Gruppen der Bevölkerung versammelten.
Nun erscheint seine Autobiografie Hamid Rahimi – Die Geschichte eines Kämpfers (Osburg Verlag), die er zusammen mit Mariam Noori verfasst hat. Rahimi versteht sich auch als Botschafter, er redet in Moscheen und auf globalen Konferenzen davon, dass Sportler bessere Vorbilder seien als Soldaten. In Kabul hat er das Projekt „Clean City“ für eine saubere Stadt gegründet, und sein Energy-Drink-Unternehmen „Hale Rock“ fördert innovative Entwicklungsideen von Studenten.

Hamid Rahimi will 2014 in Bamiyan einen Boxkampf austragen, vor der größten Buddha-Statue der Welt – einst von den Taliban zerstört, wird sie momentan wieder aufgebaut. Dank Rahimis Erfolg wolle jetzt selbst der Sohn von Präsident Hamid Karzai Boxer werden.

Der digitale Freitag

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Geschrieben von

Maxi Leinkauf

Redakteurin Kultur

Maxi Leinkauf studierte Politikwissenschaften in Berlin und Paris. Sie absolvierte ein Volontariat beim Tagesspiegel. Anschließend schrieb sie als freie Autorin u.a. für Süddeutsche Zeitung, Tagesspiegel und Das Magazin. 2010 kam sie als Redakteurin zum Freitag und war dort im Gesellschaftsressort Alltag tätig. Sie hat dort regelmäßig Persönlichkeiten aus Kultur und Zeitgeschichte interviewt und porträtiert. Seit 2020 ist sie Redakteurin in der Kultur. Sie beschäftigt sich mit ostdeutschen Biografien sowie mit italienischer Kultur und Gesellschaft.

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