Nicht Fußball, sondern Brecht

Porträt Toni Servillo verkörpert Politiker, Mafiosi, dekadente Klatschjournalisten – und hält Italien den Spiegel vor. Als Theatermann will er Neapels Jugend retten
Ausgabe 50/2017

An den Wänden der Agentur in einer ehemaligen Brauerei nahe dem Rosa-Luxemburg-Platz hängen Filmplakate: Barbara, Toni Erdmann und I Vesuviani. Darin erzählen neapolitanische Regisseure von ihrer Stadt. Toni Servillo spielt eine Hauptrolle. Hier kann man ihn treffen, da sitzt er, in einem hellen Raum. Wer ist dieser Mann, mit dunklem Haarkranz, schwarz umrandeter viereckiger Brille, schwarzem Rollkragenpullover? Das hellbraune Jackett, Lederschuhe und die halbgerauchte Zigarre, das erinnert an ... „Tut mir so leid, dass Sie heute nicht mich sehen“, grüßt Toni Servillo, „dabei bin ich so stolz auf meine weißen Haare.“ Berlusconi sei schuld, die neue Rolle, in ein paar Tagen muss er wieder am Set sein.

„Signore Servillo, haben Sie gestern das Spiel gesehen?“ „Welches Spiel?“ Italien wird kommendes Jahr nicht zur Fußball-WM fahren. „Ach, sie haben verloren? Und gegen wen? Ich saß gestern Abend in der Philharmonie, bei einem Konzert mit einer grandiosen französischen Violinistin. Die klassische Musik ist eine meiner größten Leidenschaften.“ Schon ist die Apokalypse beiseite gewischt.

Toni Servillo dreht Filme, die vom Zustand Italiens erzählen. Er hat den Christdemokraten Giulio Andreotti in Il Divo (der Göttliche) verkörpert, der siebenmal italienischer Ministerpräsident war und in allen Prozessen, die ihm Verwicklungen mit der Mafia nachweisen sollten, freigesprochen wurde. Aus Mangel an Beweisen, weil die Taten verjährt waren. Servillo spielte ihn mit gekrümmten Schultern. Kalt und steif. Er habe ihn wie einen Unmenschen konstruiert, sagt er, sei nach der Brecht’schen Methode vorgegangen, dem Verfremdungseffekt. In Gomorrha hat er einen Mann der Camorra gespielt, einen neapolitanischen Mafioso, der Geschäfte mit vergiftetem Müll betreibt. Und jetzt Berlusconi. Warum transportiert er diesen düstereren Blick auf Italien? „Ich habe diese Figuren nicht gesucht, da gibt es keinen Moment oder eine Strategie. Nach Il Divo und Gomorrha hatte ich plötzlich so ein Etikett: der ernste, engagierte Schauspieler. Ich möchte kein dunkles Bild von Italien zeigen, ich möchte ein reales, komplexes Bild vermitteln.“ Natürlich würden solche Filme von dunklen Perioden in der Geschichte des Landes erzählen, „von mysteriösen, schrecklichen Dingen, die bis heute nicht geklärt sind und unter denen unser Volk noch heute leidet.“

Der Film über Berlusconi ist die fünfte Arbeit mit Regisseur Paolo Sorrentino, und beschäftigt sich wieder mit den Schatten der italienischen Politik. „Berlusconi ist nur ein Spiegel des schlechten Gewissens der Italiener“, hat jemand auf eine Mauer in der Hafenstadt Livorno gesprüht. In allen steckt ein bisschen Berlusconi? „Wir wurden fast zwanzig Jahre lang von ihm regiert, das hat unser Land geprägt. Er hat einen empfindlichen Punkt der Italianità berührt, unserer italienischen Kultur und Identität. Er hat die schlechtesten Seiten zum Vorschein gebracht.“ Sexismus, den Stolz darauf, keine Steuern zu zahlen, cleverer zu sein als der Staat. Der Nichtglaube an den Staat. Machismo. Servillo sagt, viele Italiener würden sich noch mit Berlusconi identifizieren. In Sizilien hat das Rechtsbündnis der Forza Italia Anfang November knapp die Kommunalwahlen gewonnen, vor der 5-Sterne-Bewegung. Servillo steht auf, geht zum Garderobenständer, kramt in seiner Jacketttasche.

„Aber was mich persönlich am meisten besorgt, ist, dass die Linke immer mehr verliert“, sagt er, und kehrt mit leeren Händen auf seinen Platz zurück. Das geschieht überall in Europa. Wie erklärt er sich das? „In Italien kann die Linke weder Leute noch Ideen transportieren. Sie spaltet und zerreißt sich, anstatt an die Interessen des Landes zu denken. Die Linke verliert sich in Palastintrigen, sie ist abgehoben und verschlossen. Sie weiß seit vielen Jahren nicht mehr, wie sie mit den Leuten reden soll. Die Rechten und die Populisten können die Leute viel besser erreichen, aber dahinter ist nur Leere.“ Servillo redet mit sonorer Stimme, langsam und deutlich, man kann sein Italienisch gut verstehen. Er gestikuliert kaum. Gerade Figuren wie Berlusconi seien für ausländische Zuschauer interessant, weil man hofft, etwas von dem Land verstehen zu können.

„Wenn ich in diesen Tagen durch die Straßen von Ostberlin laufe, kommt mir immer wieder Das Leben der Anderen in den Sinn. Ein Film, der von einer Tragödie erzählt. Der war stark für uns Ausländer.“ In Deutschland war er begleitet von Debatten, der Film sei ein Märchen, kein wahres Abbild des Alltags. „Natürlich vermittelt der Film kein vollkommen realistisches Bild der DDR, aber er setzt Gedanken frei, das ist die große Kunst des Kinos.“ Und sein Paradox: Man will die Wirklichkeit erzählen, aber als erfundene Wirklichkeit. „Un imbroglio nel lenzuolo“ – eine Lüge im Laken sei das. Ein neapolitanisches Wortspiel, bei Servillo klingt es wie Singsang. Ursprünglich wurden in Neapel einfache Bettlaken als Leinwand benutzt, auf die die Filme projiziert wurden.

Seine Schule war das Café

Toni Servillo ist in Caserta, einer kleinen Stadt bei Neapel, groß geworden, in einfachen Verhältnissen. Der Vater war Fabrikarbeiter, seine Mutter Hausfrau. „Mein Vater war ein großer Beobachter und Zuschauer, er war ein Mann, der wenig geredet hat, aber wenn er sprach, dann leuchteten seine Augen, dann schwärmte er von einem Schauspieler oder einem Sänger. Er hat uns alle in dieser Bewunderung erzogen.“ Toni Servillo ging als Junge mit seinem Vater ins Theater, sie haben die großen neapolitanischen Schauspieler auf der Bühne gesehen. „Und so wurde meine Leidenschaft für dieses Metier geboren. Als Jugendlicher habe ich nicht wie die anderen Gedichte geschrieben, Fußball oder Gitarre gespielt, sondern ich habe mich mit einer Gruppe Gleichaltriger zusammengeschlossen, und wir probten das Stück Die Gesichte der Simone Machard von Brecht.“

Servillo ist Autodidakt, seine Schule war Neapel. Diese Stadt, wie ein großes Freilufttheater. Er habe sich einfach hingesetzt und den Leuten zugeschaut. „Schon an der Art, wie jemand in der Bar den Caffè bestellt, konnte man erkennen, ob ihn seine Frau verlassen hat.“ Er ahmte alles nach.

Ein Mann aller Bühnen und Formen

Marco Antonio „Toni“ Servillo, Jahrgang 1959, sieht sich schon immer als Mann des Theaters und kam erst relativ spät zum Kino. Spätestens mit dem Oscar für La Grande Bellezza wurde er zu einem der bedeutendsten italienischen Schauspieler der Gegenwart. Viele seiner Rollen sind Porträts der Macht unter den herrschenden gesellschaftlichen Verhältnissen.

Mit dem Regisseur Paolo Sorrentino verbindet ihn eine langjährige Zusammenarbeit, die 2001 mit L’uomo in più begann. In Deutschland bekannt wird Servillo 2008 mit Il Divo, in dem ein Teil des Lebens des mehrmaligen italienischen Ministerpräsidenten Giulio Andreotti dargestellt wird. Im selben Jahr erhält Toni Servillo den Europäischen Filmpreis, für seine Rolle im Mafiafilm Gomorrha (nach der Vorlage des Autors Roberto Saviano) und in Il Divo.

Im Moment dreht er wieder mit Paolo Sorrentino: Loro handelt vom ehemaligen Ministerpräsidenten Silvio Berlusconi. Toni Servillo ist auch Theater- und Opernregisseur, er gab mehrmals Gastspiele an deutschen Theatern, stand etwa mit Gomorrha auf der Bühne des Berliner Ensembles.

Das 4. Italian Film Festival Berlin widmete Toni Servillo diesen November eine Hommage. Noch bis zum 24. Dezember wird jeweils wöchentlich ein anderer Film mit Toni Servillo in folgenden Kinos gezeigt: im Bundesplatz-Kino, im Lichtblick-Kino und im Il Kino.

Als er 27 Jahre alt war, zerfiel die Truppe, alle gingen in verschiedene Richtungen. Toni Servillo machte eine Krise durch. Dann hat er in Neapel gemeinsam mit anderen Theatermachern eine Kooperative gegründet, die Teatri Uniti. Sie soll ein Vorposten der Kultur sein, dort wo sie eigentlich gar nicht existiert. In einem depressiven, randständigen Terrain, weit weg von den großen Bühnen. „Jeder glaubt in Caserta: Von hier aus wird man es nirgendwohin schaffen, man kann gar nichts machen. Und wir wollen beweisen, dass es doch geht! Wir wollen auch in solch einer „Zone“ Theater machen, junge Leute motivieren, sich zusammenzutun, etwas zustande zu bringen.“ Warum solle einer, der Schauspieler werden will, nach Rom oder Milano gehen? Servillo hängt der Brecht’schen Idee an, dass das Theater ein sozialer, auch pädagogischer Ort sein soll. „Es ist ein Ort, an dem man die Werte der Kultur verteidigt, die die Werte des Lebens sind: Und wir wollen, so wie Brecht, unser Publikum erziehen. Wir wollen, dass es sich beschäftigt. Und ich würde sagen, dass es funktioniert.“ Er selber habe auf der Bühne gelernt, was Moral bedeutet, Kollegialität. Theater solle „der Kultur des Todes“ und der Korruption der Seele entgegentreten, sagt er, und spricht von der Verzweiflung, der Unterdrückung durch die Camorra, der organisierten Kriminalität in Kampanien. Toni Servillo hat sich entschieden, in Caserta zu bleiben, da steht sein Haus, und es hat mit der Arbeit am Theater zu tun.

Wie viele Italiener definiert er sich mehr über seine Stadt als über das Land, das verbindet ihn mit Regisseur Paolo Sorrentino, der ihn früh entdeckt hat. Er hat ihn in La Grande Bellezza als Gesellschaftskolumnisten Jep Gambardella, 65 Jahre alt, schmerzvoll ernüchtert, besetzt. Die Augen immer wässrig vom Gin Tonic. Der Film ist wieder ein Abgesang, auf Rom, sterbende Diva. Nach den Europäischen Filmpreisen gewann er 2014 noch den Oscar, seither sind Regisseur und Schauspieler so etwas wie nationale Heiligtümer. „Sorrentino und ich kommen beide aus Neapel. Wir treffen uns nur manchmal, aber dann passiert was. Wir teilen eine gewisse Ironie. Wir lieben, aber haben gleichzeitig eine Distanz zu dem was wir lieben.“ Was ist Liebe, Herr Servillo? „L’amore?“ Er hält inne, überlegt. „L’amor che move il sole e l’altre stelle.“ Die Liebe, die die Sonne und die anderen Sterne bewegt. Dante. Auch der gehört zur Italianità.

Toni Servillo ist meist unterwegs, er habe 200 Theaterauftritte im Jahr. Und er suche täglich nach Gründen für seinen Beruf. Wenn er reise, könne er sein Ego in Frage stellen, sich mit sich selber konfrontieren und mit den anderen. „Ich fahre sehr oft mit dem Auto nach Portugal. Und wenn ich dann auf das Ende von Europa schaue, auf das Meer, fühle ich mich ganz klein.“

Il Maestro macht Komödie

Bei so einem Wanderdasein, wie kann er da im privaten Leben Stabiles schaffen? „Oh, das ist nicht leicht!“, lacht er. „Wie man das macht? Ich weiß es nicht. Das lernt man einfach, während man lebt.“ Wie hält er den Kontakt zu seiner Familie? „Ich habe weder eine E-Mail-Adresse noch Facebook noch Twitter. Aber meine Frau ist fast immer bei mir, sie reist so oft wie möglich mit. Und meine beiden Söhne auch. Sonst telefonieren wir.“ Was möchte er seinen Söhnen beibringen? „Sie sollen sich für die richtigen Dinge begeistern. Es gibt heute so eine permanente Attacke aus der Konsumwelt – und dagegen stehen die wahren Wünsche. Man muss die realen von den künstlichen unterscheiden lernen. Das ist ein täglicher Kampf.“

Abends ist Filmvorführung, gezeigt wird die Komödie, die er zuletzt in Italien gedreht hat, anschließend ist Publikumsgespräch. Der Saal ist überfüllt, ein zweiter muss aufgemacht werden, viele Italiener sind gekommen, manche sind gerade für ein paar Monate Praktikum in der Stadt. „Il Maestro“, so begrüßt ein Organisator des Filmfestivals seinen Gast (Servillo liebt Opern), er nennt ihn „eine Ikone unserer Zeit“. Der italienische Botschafter tritt auf, schwärmt von dem Schauspieler. „Er hat manchmal schmerzhafte Figuren gespielt. Er hat unsere Ängste dargestellt!“

Als Toni Servillo dann auf die Bühne tritt, müssen viele im Saal erst mal lachen. Si, si, Berlusconi ist schuld, kokettiert er wieder. Er sei ja mittlerweile irgendwie festgelegt auf die Rolle als sozial engagierter Schauspieler, aber nach Gomorrha und dem Giulio-Andreotti-Film habe er bewusst nach einer leichten, intelligenten und sensiblen Komödie gesucht, in der Tradition von Ernst Lubitsch, Billy Wilder und Woody Allen. Darin spielt er einen etwas kauzigen Psychoanalytiker, der trägt Italien-T-Shirts aus den 1980ern, ist am liebsten allein, wird aber von seiner Umwelt ins Chaos gerissen. „Mir gefällt es, das Leben der Dilettanten“, erklärt Toni Servillo.

Der Regisseur der Komödie drehe jetzt übrigens eine Geschichte über Umberto Bossi, den Lega-Nord -Gründer. Er finde das mutig. Er muss es nicht sagen, aber es scheint, als würden sie ihn nicht loslassen, die Politiker, die Mächtigen seines Landes. Nicht nur als Schauspieler. „Herr Servillo, wie schafft man es, zum Theater zu kommen?“, fragt eine junge Italienerin aus dem Publikum. Toni Servillo erzählt wieder von Neapel. „Es kann der Himmel werden oder das Inferno. Du musst an dich glauben, und du brauchst eine Idee.“

Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Geschrieben von

Maxi Leinkauf

Redakteurin „Kultur“

Maxi Leinkauf studierte Politikwissenschaften in Berlin und Paris. Sie absolvierte ein Volontariat beim Tagesspiegel. Anschließend schrieb sie als freie Autorin u.a. für Süddeutsche Zeitung, Tagesspiegel und Das Magazin. 2010 kam sie als Redakteurin zum Freitag und war dort im Gesellschaftsressort Alltag tätig. Sie hat dort regelmäßig Persönlichkeiten aus Kultur und Zeitgeschichte interviewt und porträtiert. Seit 2020 ist sie Redakteurin in der Kultur. Sie beschäftigt sich mit ostdeutschen Biografien sowie mit italienischer Kultur und Gesellschaft.

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