Der Verlag schickt ein Paket, man will sich ja vorbereiten auf ein Treffen mit Hanns Zischler, von dem es heißt, er sei eine Art Universalgelehrter oder -interessierter. Kein Humboldt, der Mann ist Schauspieler, aber einer, der vergessene Forscher gern ausgräbt. Man schaut sich den eleganten Band über Schmetterlinge an, den Hanns Zischler eimal herausgegeben hat, diese farbenprächtigen neotropischen Falter. Wer interessiert sich für Schmetterlinge?
Es gibt auch dieses Buch über Kafka und das Kino. „Und er hat Derrida übersetzt!“, sagt ein Kollege. Mon Dieu!Ich kenne Zischler aus Krimis im Fernsehen, sein Gesicht kann etwas Unheilvolles haben, oder Väterliches. Der Schauspieler-Intellektuelle, weltläufig, aber nicht exaltiert, es ist fast schon ein Klischee.
Wegen der Nasskälte will sich Zischler lieber drinnen treffen, im Gartencafé der Königlichen Gartenakademie, nicht weit vom Botanischen Garten. Dahlem – Dorf, bürgerliches Westberlin, mit der Freien Universität, hübschen Villen und einer historischen Gewächshausanlage, in der früher die von Lenné gegründete Königliche Gärtnerlehranstalt residierte. Man trinkt seinen Kaffee unter glasüberdachten Kolonnaden, kann alles für Garten und Balkon bekommen in den sich anschließenden Gewächshäusern. Zischler erscheint auf die Minute pünktlich, trägt graue Schiebermütze, schwarzen Mantel und einen sandfarben Schal: „Never delegate understanding“ – gib nie deinen Verstand ab –, steht in orangefarbenen Lettern darauf. Zischler legt Mantel und Ledertasche ab. „Ist wie auf dem Bahnhof hier“, sagt er mit gesenkter Stimme. Er bestellt Tee. „Assam bitte, Indisch-Siberia.“ Dazu Apfelkuchen.
Sein Debütroman Der zerrissene Brief, den er nach zehn Jahren Arbeit endlich „rausgelassen“ habe, ist im Kern ein Gespräch, das die 84-jährige Pauline kurz vor ihrem Tod mit Elsa führt, ihrem früheren Ziehkind (sie hatte sie nach dem Ersten Weltkrieg bei sich aufgenommen). Elsa ist mittlerweile Biologiestudentin, hat eine schmerzhafte Affäre mit einem Mineralogen hinter sich und sucht Trost.
„Es gibt unter Frauen eine andere Art, sich auszutauschen. Das ist intimer“, sagt Zischler, das hat ihn interessiert. Wir seien alle Mischwesen, hätten weibliche und männliche Anteile – neugierig machte ihn, wie die Ältere auf das Liebesdesaster der Jüngeren reagiert. „Da hat sie eine gewissermaßen männliche Haltung, kühl und pragmatisch: ‚Was willst du eigentlich? Ich hoffe, dass du klug wirst, diese Naivität verlierst, diese schiere Verliebtheit, die so erkenntnislos – und blind ist.‘ Man ist ja blind verliebt.“ Es klingt so vernünftig, redet da ein Wissenschaftler? Was macht sie aus, wahre Liebe, eine echte Beziehung? „Es ist das Schwierigste, einen verlässlichen Gesprächspartner zu finden“, sagt Zischler
Briefe, die heute eher aus der Mode gekommen sind, spielen eine große Rolle in seinem Buch, früher war oft das ganze Leben in Briefen überliefert. Zischler schreibt sie immer noch an Freunde.
Er ist zugewandt, wach, gleichzeitig umweht ihn etwas Melancholisches.
Elsbeere und Bürgerkrieg
Aufgewachsen ist er in Langenaltheim, einem fränkischen Dorf mit heute knapp 2.300 Einwohnern. Mit zehn Jahren kam er auf ein protestantisches Internat, seine Mutter war zuvor gestorben. „Die ersten Jahre im Internat in den Bergen waren schwierig. Bereits damals, in den 50er Jahren, gab es schon einen Konsumismus, der eine bestimmte Form von anti-sozialer Ausgrenzung mit sich bringt. Später dann auf einem Alumnat in Ingolstadt wurde alles sehr viel einfacher, weil wir eine sehr kleine Gemeinschaft waren, 24 Schüler.“ Eine bescheidene, freundliche Welt.
Sein Vater besaß Steinbrüche von seinen Vorfahren her, und diese Steinbrüche wurden im Tagebau ausgebeutet, die Solnhofner Platten. „Als Kind waren es für mich diese seltsamen Augenblicke, wenn in diesen tiefen Schächten, die von oben einsehbar waren, etwas entdeckt wird. Die hatten schon etwas Unheimliches, im romantischen Sinne: eine bewaldete, hügelige Landschaft, mittendrin diese Steinberge und Schluchten, die aus der Erde herausgewachsen sind, das hat nichts mit normalen Landschaften zu tun. Ich bin viel in diesen Steinbrüchen herumgewandert.“
Der Zugang zu Sprache und Gedichten kam durch die Schule, er hatte sehr gute Lehrer in Deutsch und Englisch, Musik, sagt er. „Das sind so Glücksfälle. Lehrer sind Türöffner. Sie gewähren einem Eintritt und man findet sich neu zurecht.“
Zischler hat Charme, oder eher Esprit, er will nicht verführen, und wenn, dann durch das Wort. Er schwärmt vom französischen Schriftsteller Francis Ponge, spricht das sehr französisch aus, es hat langsam was Meditatives, Zischler zuzuhören, die Monotonie in der Stimme fängt. Hm, erzählen Sie mehr, von Ponge. „Es gelingt ihm, eine unerhörte Spannung und Erregung zwischen Wort und Gegenstand zu erzeugen, das Wort wird vom Gegenstand förmlich infiziert. Wer – beispielsweise – seine Texte über den Klatschmohn oder die Feige liest – wird diese Pflanzen für immer mit anderen Augen sehen.“ Im Ernst, wir plaudern über Klatschmohn, in diesen Zeiten? „Wenn man überhaupt durch Sprache zusammengehalten und gehalten werden kann, dann bei so etwas. Es sind hellsichtige Meditationen, die er macht.“ Zischler könnte sicher einen herrlichen Zen-Lehrer abgeben. Was er sagt, ist nicht von hier, und langsam, aber sicher taucht man in seine Welt.
1968 kam Zischler von München nach Westberlin, er war ein bisschen haltlos, der Vater schon schwer krank. Zischler hatte Vorlesungen in Ethnologie, Literatur -und Musikwissenschaften besucht, Fächer, die man niemals „abschließen“ könne. Durch eine zufällige Begegnung kam er als Dramaturg an die Schaubühne, blieb da bis 1975. Palästinensertücher hat er in diesen Zeiten nicht getragen, las mehr Romane und betrachtete Bilder. 1976 kam er zum Film, spielte in Wim Wenders’ Im Lauf der Zeit, drehte mit Claude Chabrol, Steven Spielberg, István Szabó, Rudolf Thome. Gleichzeitig wurde er in Derrick oder Tatort eine eigene Größe.
Theaterregie habe er auch mal gemacht und irgendwann gemerkt: Ich kann’s wahrscheinlich gar nicht richtig. „Das muss man sich eingestehen. Dinge müssen auch scheitern, es ist wie ein Zersetzungsprozess, der auch unerwartete Ergebnisse hat.“
Dieses sinnvolle Scheitern, ist das Inszenierung oder Lebenserfahrung? Es gibt auf beruflicher Ebene wenig, das er in den Sand gesetzt hat. Zischler geht seinen Neigungen nach, dass er das kann, ist der größte Luxus. „Mit so schrecklichen neuen Wörtern wie ‚ergebnisorientiert‘ oder ‚alternativlos‘ kann ich nichts anfangen“, sagt er, „das ist amerikanisch tuendes Geplapper, Kauderwelschkürzel, das ist mir sehr fremd.“ Aber wie schafft man das, sich dem Info-Universum zu entziehen, dieser kaputten Welt, sich in die Schönheit von „Orangenpapieren“ zu versenken? „Die Elsbeere, einen seltenen Baum, und ein Gedicht von Wulf Kirsten – das sollte man weitertragen, es sind alles Übersetzungsvorgänge, signierte Erinnerungen, mit denen ich mich auseinandersetze“, sagt Zischler mit hörbarem fränkischen Einschlag.
Wie nimmt er wahr, was um uns herum gerade geschieht? Nicht nur Klima, auch das Politische? „Klar, das nehme ich sehr genau wahr, vor allen Dingen, wie es verhandelt und wie es dargestellt wird, interessiert mich außerordentlich. Es nimmt ja an Heftigkeit unglaublich zu.“ Er sagt, seine Wahrnehmung orientiere sich an den Gedanken von Freud im Mann Moses. „Es gibt eine lineare Geschichte, die erzählt man nach, man ordnet sie ein und glaubt über sie zu verfügen. Freud sagt, das ist zwar eine Betrachtungsweise, die von vielen geteilt wird, tatsächlich aber verschiebt sich eine Welt, die bekommt Risse. Es tauchen Grenzen auf, die längst überwunden schienen, und diese muss man mit bedenken, ihrer gewärtig sein.“ Er antwortet mit Freud, welche Risse sieht er, Zischler? Die CDU zum Beispiel sei 50 Jahre lang als einheitliche Volkspartei aufgetreten, und plötzlich wunderten sie sich: Was sind denn das für Risse? „Die sind doch nicht von gestern oder von heute … die sind tradiert. Mich interessieren Prozesse, wo das Überdeckte, Überformte wieder sichtbar wird.“ Das kann für Zischler in verlassenen Gebäuden sein, Kellern oder Katakomben, am Trümmerberg von Berlin.
Er erzählt, wie er als Westberliner seit den 70er Jahren „Tagesreisen“ in die DDR unternahm, immer begleitet von dem Gefühl, „eine verlorene Zeit ahnungsweise wiederzufinden, fast einem Heimweh nach etwas, das nie Heimat war.“ Das gleichnamige schmale Bändchen, in dem seine Erlebnisse notiert sind, will er mir mit der Post schicken, sagt er, drei Tage nach dem Treffen liegt es im Briefkasten. Mal macht er knappe Beobachtungen, mal tiefergehende Betrachtungen. Am 4. November 1989 war Zischler auf der Großkundgebung am Alexanderplatz, auf der er die Demonstration einer „genuin politischen Kultur“ beobachtet hat, für die der Westen kein Vorbild sei. 1990 hat ihn Jean Luc Godard gebeten, eine Reiseroute für Ostdeutschland aufzustellen. Der französische Regisseur wollte einen Film über die Einsamkeit eines Volkes machen. Zischler fuhr mit ihm nach Bitterfeld, ins Braunkohlerevier, sie entdeckten das Dorf Werbellin, inmitten von Brachfeldern gelegen und menschenleer, „ein von Zeit und Geschichte abgesonderter Satellit“. Godard beschreibt in Deutschland Neu(n) Null den Prozess der unversöhnten, der scheinbar nicht mehr kohärenten Welt, in der wir heute sind.
In die Prärie, bitte
Zischler ist von Landschaften geprägt, in Deutschland, der Bretagne, der Provence. „Das kann bei Nevers die große Brücke sein, die über die Loire führt. Da bin ich beglückt. Ich habe mal eine Ballonfahrt über die Loire gemacht, die liebe ich über alles. Das werde ich nie vergessen. Denn sie ist der letzte große Fluss in unseren Breiten, der nicht begradigt ist.“
Reisen ist Welten sammeln, hat Susan Sontag gesagt, es hat etwas Einseitiges. „Ich will es weitergeben“, sagt Zischler. Das Telefon summt, er kramt es aus der Tasche, seine Schwiegertochter fragt, wann er heute die Enkel holen kann. Sein Sohn starb mit Mitte 30 an Krebs, ein Jahr später verlor Zischler seine langjährige Lebensgefährtin.
Helfen ihm seine verschiedenen Neigungen, mit Verlusten umzugehen? Zischler schweigt kurz. „Ich bin im Austausch, mit den Lebenden und mit denen, die mir nahe waren, die nicht mehr unter uns sind“, sagt er leise. „Man ist durch die Träume – und durch Erinnerungen – immer mit ihnen im Gespräch.“
Die Sonne ist aufgegangen, wir machen doch noch einen Abstecher in den Botanischen Garten. Zischler schiebt sein Fahrrad. „Wir wollen nach Nordamerika, in die Prärie“, sagt er zu dem Mann am Einlass, „haben Sie einen Plan?“ Er klingt bestimmt, er hat jetzt ein Ziel. „Mich fasziniert die Suggestion, man könnte die Flora der ganzen Welt hier abbilden, in einer begrenzten Klimazone“, erklärt er. Eine Gärtnerin erkennt ihn, er erzähle immer so schöne Geschichten, sagt sie. Zischler nimmt’s zur Kenntnis, muss weiter. Dann ist er weg. Und bleibt im Geist präsent. Nach dem Treffen spürt man eine konzentrierte Versenkung. Man mag noch eine Weile in ihr verharren, mag Gedanken nachhängen, manchen Bezügen, die Zischler findet. Man sieht die Tagesthemen jetzt anders.
Von Derrida zu Kafka zu Spielberg
Christoph Johann „Hanns“ Zischler, Jahrgang 1947, hat mehrere Leben: Er ist Fotograf, Essayist, Vorleser, Dramaturg, Regisseur, Hörspielsprecher, Übersetzer, Filmschauspieler. Seine Forschungsarbeit Kafka geht ins Kino (1996) wurde in viele Sprachen übersetzt und 2017 bei Galiani neu aufgelegt. Zischler ging über Jahrzehnte anhand der Texte Kafkas der Frage nach, welche Kinos dieser wohl besuchte, welche Filme, Szenen und Schauspieler ihn nachhaltig beschäftigten. Zischler sammelte Fotos, Programmzettel, Plakate, durchblätterte in Bibliotheken die damalige Tagespresse nach Filmkritiken und -titeln, er stöberte in Archiven nach den alten, längst vergessenen Filmrollen. Im selben Verlag erschienen außerdem von Hanns Zischler Der Schmetterlingskoffer (2010, gemeinsammit Hanna Zeckau), Berlin ist zu groß für Berlin (2013) und seine Erzählung Das Mädchen mit den Orangenpapieren (2014).
Zischler hat Jacques Derridas Grammatologie übersetzt und pflegt eine gewisse Weltläufigkeit, er ist an amerikanischen Universitäten zu Gast, begreift das Schauspielerdasein eher als „Spielaufgabe“, Ruhm interessiere ihn weniger. Dabei arbeitete er mit Regiegenies wie Claude Chabrol, mit dem er 1990 die Fritz-Lang-Hommage Dr. M. drehte. Steven Spielberg holte ihn für München (2006), in dem Film spielt Zischler einen Mossad-Agenten. Godard hat ihn in Deutschland Neu(n) Null besetzt, er spielte in Caroline Links Im Winter ein Jahr und in Babylon Berlin. Hanns Zischler taucht außerdem regelmäßig in Fernsehkrimis auf und ist mehrfach preisgekrönt. Nachdem er zehn Jahre lang daran gearbeitet hat, erschien diesen Februar Zischlers Debütroman Der zerrissene Brief (Galiani, 2020). Zischler lebt in Berlin-Westend.
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