Er war also subversiv, mein Schulkamerad Sascha, seit er eines Tages mit dieser Reklame-Tüte in der Hand in die Klasse schlenderte. Man konnte für so etwas festgenommen werden. Aber ich musste mich gut stellen mit Staatsfeind Sascha, der mir vor Augen führte, was ich nicht haben konnte. Ich war scharf auf diesen Plastebeutel, von dem ER mich während des Mathe-Unterrichts mit waidwundem Blick ansah. Michael Jackson, der seinen schwarzen Lederanzug wie eine Festung trug. Michael wirkte eher scheu als bad. Er war unerreichbar und dennoch: mit der Tüte hätte man uns zusammen sehen können.
Ausgenutzte Liebe
Sascha stopfte seine stinkenden Sportschuhe und verschwitzten T-Shirts hinein. Er knüllte die Tüte so sehr zusammen, dass das ohnehin schon zerbrechliche Gesicht von Michael auch noch Risse bekam. Ich musste es retten. Im Herbst 1988 fingen wir an, auf dem Schulhof zu verhandeln. „50 Mark“, sagte Sascha. Im Sommer darauf waren wir bei 10 Mark angekommen. Als im Herbst die Mauer fiel, warf Sascha mir die Tüte, von der alle Farbe abgeblättert war, gönnerhaft vor die Füße. Ich sah ihn voller Verachtung an. Wie hatte er nur versuchen können, meine Liebe zu Michael so schamlos auszunutzen? Mit einer Plastiktüte.
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