Interview Leila Slimani wurde mit Romanen über die Scheinheiligkeit der Pariser Bourgeoisie zum Weltstar. Jetzt schreibt sie über ihre Familie in Marokko
Die Schriftstellerin Leïla Slimani über ihre Herkunft: „Ich war Araberin und Bourgeoise – das passte nicht zusammen“
Foto: Philippe Matsas/Opale Photo/Laif
Sie ist viel beschäftigt, aber Leïla Slimani nimmt sich Zeit für ein Gespräch über Zoom. Sie sitzt in ihrer Wohnung in Lissabon, wo sie mit ihrer Familie hingezogen ist. Sie trägt eine helle Bluse mit schwarzen Punkten, wirkt freundlich, etwas distanziert. Im Laufe des Gesprächs rufen ihre Kinder immer wieder nach ihr, was sie zu nerven scheint. „Fermez la porte!“, ruft sie streng, „Macht die Tür zu!“. Leïla Slimani stammt aus einer wohlsituierten Familie in Rabat, ging nach Paris und wurde zum literarischen Weltstar. Präsident Emmanuel Macron ernannte sie Ende 2017 zur persönlichen Beauftragten zur Pflege des französischen Sprachraums.
der Freitag: Frau Slimani, warum sind Sie nach Lissabon gezogen?
Leï
nd Sie nach Lissabon gezogen?Leïla Slimani: Weil ich Lust hatte. Ich wollte meine Bücher hier schreiben.In Ihrem neuen Roman, „Schaut, wie wir tanzen“, erzählen Sie vom Leben Ihrer Eltern und dem Marokko der 60er und 70er Jahre. Was war Ihr Motiv?Für mich war das eine ganz natürliche Folge, über Marokko und meine Familie zu schreiben. Wenn man seine Zeit mit Schreiben verbringt, erkundet man sehr intime Dinge. Alle meine Bücher gehen von Sachen aus, die ich nicht verstehe, die für mich mysteriös sind. Mich fasziniert die Komplexität der menschlichen Natur und ich verstehe mich auch oft selbst nicht: Wer ich bin, wo ich herkomme, warum ich auf bestimmte Art reagiere. Wieso ich schreibe.Sie suchen sich also selbst?Ja. Ich bin Französin und Marokkanerin, beides zu hundert Prozent. Marokko ist ein wichtiger Teil von mir, es ist das Land, in dem ich aufgewachsen bin, die intensivsten Empfindungen hatte. Dort habe ich Sprechen gelernt, meinen Mund aufzumachen. Aber ich hatte Angst vor diesem Thema.Warum?Weil es in der westlichen Welt eine sehr exotische Sicht auf Marokko gibt: Couscous, Schleier und Islam. Das Klischee. Also musste ich erst die Romane über die Pariser Bourgeoisie schreiben, deren Scheinheiligkeiten entlarven, um die Legitimität zu erlangen, mich Marokko zuwenden zu können. Meiner Familie, in der jeder ein bisschen verrückt ist, eine andere Kultur hat. Und ich sagte mir beim Schreiben: Mir wird es besser gelingen, diese Familie zu verstehen.Ihre Großmutter folgte ihrem Geliebten aus dem Elsass und kam in eine archaische Welt. Sie hatte von einer mondänen Farm à la Karen Blixen in Afrika geträumt.Ja, es war für sie ein Kampf, sich diesem neuen, völlig verschiedenen Leben anzupassen – und nicht zu fallen. Sie stellte sich magische Zustände vor – und landete dann auf einer abgelegenen Plantage. Sie passte sich völlig an das Leben ihres schönen und dominanten Mannes an. Aber ich habe sie nie als Opfer gesehen.Warum nicht?Sie ist stark, diese Figur der Mathilde, die ich anhand meiner Großmutter aufgebaut habe. Natürlich ist sie in gewisser Weise ein Opfer ihrer Zeit, in der Frauen nicht viele Rechte hatten. Es war normal, wenn ein Mann seine Frau ohrfeigt oder ihr sagt, sie solle still sein. In diesem Sinne ist sie ein Opfer. Gleichzeitig ist sie eine Frau, die immer in Aktion ist, die immer weiter kämpfen will. Sie hat keine Angst vor anderen Menschen oder vor einer anderen Kultur. Sie hat nicht mal Angst vor ihrem Mann. Sie glaubt an ihr Schicksal. Und sie bekommt schließlich Dinge, für die sie gekämpft hat.Meinen Sie den Swimmingpool?Der Swimmingpool ist ein Symbol dafür, dass man Spaß haben kann. Und eines für sozialen Erfolg.Konnten Sie mit Ihrer Oma über ihr Leben reden?Ja, natürlich. Sie hat die ganze Zeit von ihrem Leben erzählt. Wir haben immer sehr viel gelacht. Sie war bereits gestorben, als ich mit dem Buch begann, aber ich hatte sehr viele Geschichten. Und ich habe meine Mutter befragt, Freunde, viele Historiker. Menschen, die in dieser Zeit gelebt haben. Ich war monatelang unterwegs, habe in Fotoarchiven, alten Filmen, alten Videos recherchiert. Und dann habe ich das alles mit meiner Fantasie vermischt.Ihre Mutter ging nach Straßburg studieren, sah die Franzosen 1968 auf die Straße gehen und kehrte in eine erstarrte Welt zurück, wo sie als eine der ersten Ärztinnen arbeitete. Wie waren Ihre Eltern?Meine Eltern haben uns Werte vermittelt. Es waren Menschen, die an Arbeit glaubten, an Respekt für andere und die uns aufforderten, uns umzuschauen. Das Elend zu sehen, das existierte. Es waren Menschen mit Idealen und klarem Verstand. Aber sie sahen, dass die Welt nicht so funktionieren würde, wie sie sich das wünschten.Dass die Welt hart war?Sie hatten es schwer, weil sie uns mit Werten erzogen hatten und wir in einem Land lebten, in dem man sich auf diese Werte wie Laizismus oder Körperfreiheit nicht berufen konnte. Man musste die ganze Zeit lügen. Das war für mich als Kind sehr verwirrend.Auch die Männer standen unter Druck: wirtschaftlich erfolgreich sein zu müssen. Sie schildern eindringlich deren Zerrissenheit. Mein Großvater war arm – und ist reich geworden. Er kam von ganz unten und gehörte später zur Bourgeoisie. Aber er fühlte sich nirgends am richtigen Platz. Und ich wollte auch zeigen, dass auch die Männer in der patriarchalischen und hierarchischen Welt manchmal keine Lust haben, dem Rollenmodell zu entsprechen. Männer, die mit Frauen mehr oder weniger gleichberechtigt leben wollen, die keine Gewalt gegen Schwächere ausüben, von einer moderneren, fortschrittlicheren Gesellschaft träumen.Sie leiden, weil sie gezwungen sind, eine Rolle zu spielen?Ja, so sind alle innerlich zerrissen, zwischen dem Wunsch, ein guter Mensch zu sein, und dem System, das sie letztendlich alle schädigt.„Karl Marx“, die Figur im Roman, ist an Ihren Vater angelehnt, der zur linken Jugend gehörte und dann ein hoher Finanzbeamter wurde. Sie schreiben in „Der Duft der Blumen bei Nacht“, der Grund, Schriftstellerin zu sein, ist die Wiedergutmachung am Vater. Was bedeutet das?Ja, das ist wahr. Und ich schreibe nicht nur als die Anwältin meines Vaters, auch als die meiner Mutter und als meine eigene. Es ist meine Rache an allen, die nicht an uns geglaubt haben. Und die nicht an mich geglaubt haben.Ihr Vater war als ehemaliger Bankdirektor in einen Politik- und Finanzskandal verwickelt, kam unverschuldet ins Gefängnis und verfiel hinterher in Agonie.Ja, aber ich benutze meine Bücher nicht als Kampfplatz, jedenfalls sollte man es nicht zu offensichtlich tun. Denn dann werden sie schlecht. Aber ich hoffe, dass meine Leser:innen vielleicht anders auf Marokko schauen können, oder „die Nanny“ ...Diese Figur, die im Roman „Dann schlaf auch du“ die Kinder tötet.Dass sie ihre eigenen Vorurteile überdenken, auch über jemanden, der zum Beispiel mal linke Ideale hatte und sich schließlich entschieden hat, Banker zu werden.Gibt es diese Extreme zwischen Arm und Reich noch in Marokko?Das Marokko von heute hat nichts mit dem meiner Kindheit zu tun. Als ich ein Kind war, waren 80 Prozent der Frauen Analphabetinnen. Auf dem Land konnte niemand lesen und schreiben. Es gab überall Slums, Menschen im Elend, ganz schrecklich. Diese Slums aus meiner Kindheit wurden größtenteils abgerissen. Damals gab es keine Autobahnen und keine Supermärkte, keine Infrastruktur, keine Sportplätze, keine öffentlichen Schwimmbäder. Nichts.Die Analphabetenrate liegt heute noch bei 25 Prozent.Heute gehen etwa 98 Prozent der Kinder zur Schule. Es wurden große Fortschritte gemacht, auch wenn es immer noch eine sehr ungleiche Gesellschaft ist. Wenn man in eine Stadt wie Casablanca fährt, fühlt man sich wie in Brasilien. Es gibt riesige Gebäude, noble Restaurants, Museen, Luxusautos – und gleichzeitig Kinder, die auf der Straße betteln oder Zigaretten verkaufen. Diese Gesellschaft hat es immer noch schwer, ihrer Jugend Arbeit und Hoffnung zu geben.König Mohammed VI. hat 2005 das Familienrecht reformiert, was hat sich konkret verändert?Frauen bekamen vorher nicht das Sorgerecht für ihre Kinder, sie konnten nicht geschieden werden, wurden verstoßen. Es war eine ganze Reihe vollkommen ungerechter Gesetze. Das Verbot der Polygamie gab es nicht, als ich noch klein war. Für uns waren die neuen Gesetze also eine Revolution. Aber das war vor bald zwanzig Jahren. Wir müssen viel weiter gehen, beim Schutz der persönlichen Freiheiten, des Rechts über den eigenen Körper, der Sexualität, der Homosexualität.Sie sind Ende der Neunziger aus Rabat weggegangen, um an der Pariser Eliteschule Sciences Po zu studieren. Wie war das?Wir hatten nicht die gleichen Codes und nicht die gleiche Denkweise. Aber ich verstand den französischen Habitus sehr gut. Die Franzosen hingegen hatten Schwierigkeiten, mich zu verstehen, weil ich eine Araberin war – und gleichzeitig eine Bourgeoise. Das passte nicht zusammen. Ich wusste mehr über sie, als sie über mich wussten. Das Leben war hart. Aber ich habe mich durchgesetzt. Es war eher eine Art Melancholie, ich vermisste meine Familie.Sie sind Teil des Bürgertums und wurden während der Coronazeit hart kritisiert, jemand nannte sie „weltfremde Bourgeoise“, weil Sie sich ins Landhaus zurückgezogen haben, Tagebuch schrieben, weit weg von den Sorgen vieler Leute. Hat Sie das getroffen?Um ganz ehrlich zu sein, ist mir das völlig egal.Wirklich?Ich bin nicht in den sozialen Netzwerken. Aber es gibt Menschen, die zu allem eine Meinung haben, sie ständig äußern müssen. Ich versuche, die anderen zu verstehen. Wenn ich nach meiner Meinung gefragt werde, sage ich meist: Ich weiß es nicht. Ich brauche mehr Zeit.Placeholder authorbio-1
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