Fred Bedongué steht in einer Turnhalle neben dem Stadion von Vénissieux, einem Banlieue vor den Toren von Lyon. Der Choreograph ist von jungen Mädchen umgeben, die Züge ihrer nordafrikanischen Eltern im Gesicht tragen. Er wolle mehr Energie spüren, sagt Bedongué eindringlich, die Tänzerinnen nicken. Sie bewegen sich plötzlich wild durcheinander, tanzen anarchisch im Slalom, sie schreien, protestieren, lachen, rufen: „Mangez la vie“ – „Fresst das Leben“! Harlekin, Joker, Jongleure, Puppen, Marionetten, kleine Soldaten, die schrillen Kostüme wurden von Gefängnis-Insassinnen genäht.
Afrikanische Rhythmen, die an Karneval erinnern, werden abgelöst von Megaphonen. Die Tänzer formieren sich in Zweierreihen, sie nehmen die Straße in Besitz, aus dem Zirkus wird eine Demonstration. „Ein Volk lässt sich nicht mehr unterdrücken, das möchte ich zeigen“, sagt Bedongué. „Parler debout“ heißt sein Spektakel: „Ergreift die Parole“. Im September soll es bei der Biennale de la Danse, Frankreichs renommiertestem Tanzfestival, aufgeführt werden. Der Name sei ein symbolischer Gegenpart zu dem Motto „la vie en rose“, unter dem das Event dieses Jahr steht. Internationale Tänzer und Choreographen nehmen teil und Amateure, wie die aus dem Vorort Vénissieux. Die Stadt Lyon finanziert teilweise Bedongués Projekt, die andere Hälfte übernimmt das Haus der Biennale de la danse.
Der heiße Sommer von 1981
Dass Lyon nicht mehr gemeint ist, wenn Präsident Sarkozy den Vororten „den Krieg erklärt“, wie vor kurzem nach den Zusammenstößen in einem Vorort von Grenoble, hat nicht nur mit Künstlern wie Bedongué zu tun, sondern auch mit moderater und nachhaltiger Stadtplanung. In den neunziger Jahren wurden viele Wohnsilos vor der Stadt abgerissen, sozial benachteiligte Bewohner in weniger verrufenen Vierteln angesiedelt, um die „Mixité Sociale“, die soziale Mischung, zu vergrößern. Stadtkern und Vororte wurden miteinander verknüpft, es fährt nun sogar eine Métro und eine Tram nach Vénissieux.
Fred Bedongué ist dort, in einem der Wohntürme, groß geworden. Als Mischling: Sein Vater ist Kameruner, seine Mutter Französin. Er lungerte meist vor Hauseingängen herum, übte Breakdance und Hip-Hop-Bewegungen. Und er wurde entdeckt. „Er war wütend und gleichzeitig sehr talentiert“, sagt Marcel Notargiacomo, der auch Choreograph ist. Der grauhaarige, hagere Mann ist gekommen, um sich die Arbeit seines ehemaligen Schülers anzusehen. Fred Bedongué konnte sich auf dem Kopf drehen, aber das war nicht besonders kreativ“, sagt er, der ihn und die anderen Einwandererkinder überredet hat, neue Tanzchoreographien einzustudieren. Er wollte ihnen zuhören, sie öffnen, ihre Persönlichkeit entwickeln.
Notargiacomo hat Anfang der 80er Jahre „Traction avant“ gegründet, eine Tanzkompagnie und soziale Anlaufstelle. Es war seine Reaktion auf die Unruhen, die damals in Vénissieux und anderen Lyoner Banlieues ausbrachen. Es brannten mehr als 200 Autos, nie zuvor waren die Zusammenstöße zwischen Jugendlichen und Ordnungskräften so brutal. Der heiße Sommer 1981 war eine Premiere und zeigte: Die Grande Nation hatte einen Teil ihrer Bürger vernachlässigt. Die Einwanderungsgesetze waren repressiver geworden, jugendliche Maghrebiner aus Trabantenstädten wurden immer häufiger Opfer von Gewalt, die Strafen für rassistische Morde waren oft verschwindend gering. Fred Bedongué tanzte. Er wurde immer besser, er beherrschte afrikanische Tänze, kongolesische Rumba, ging nach Sao Paulo und gründete Mitte der 90er Jahre seine eigene Kompagnie. Als erster französischer Choreograph bekam er den amerikanischen Bessie-Award. Er hat es aus seinem Viertel herausgeschafft, nun ist er zurückgekehrt und arbeitet mit denen, die sonst nur sichtbar werden, wenn es um Burka-Verbot, Diebstähle oder mangelnde Integration geht. „Wir können den Leuten zwar keine Jobs verschaffen oder mehr Bildung. Aber wir können ihn zeigen, dass man als Mensch und als Künstler ernst genommen werden kann“, erklärt Bedongué.
Vögel an Neuköllner Wänden
So ähnlich sieht es auch Halim Bensaid. Er hat nicht nur Häuserfassaden, sondern einem gesamten Stadtteil einen neuen Charakter verpasst. Bensaid wirkt lässig, aber abgekämpft, er komme gerade aus Shanghai, abends werde er zu einem Empfang im Rathaus erwartet, erklärt er mit algerischem Akzent. Sein Vater, ein algerischer Einwanderer, hat im Banlieue Briefe ausgetragen, seine Mutter hat Stoffe für algerische Frauen genäht. Bensaid studierte an der Kunsthochschule und gründete dort Mitte der 80er Jahre eine Künstlergruppe. Sie wollte auch sozial Benachteiligte und Einwanderer für Kunst sensibilisieren, Leute, die sonst kaum Zugang zu ihr fanden. Also gingen sie mit Pinsel und Farbe auf die Straße, bemalten Schulen und Krankenhäuser, animierten zum Mitmachen.
In Mexiko hat Bensaid dann die populären Fresken der Muralisten entdeckt. „Ich wollte diesen Stil auf Lyon übertragen“, sagt er, aber der öffentliche Platz war sehr reglementiert. Die einzigen Viertel, in denen man etwas kreiieren konnte, waren die Quartiers difficiles, die vernachlässigten Gegenden. Die „Cité Creation“, so nannte sich Bensaids Kooperative, suchte den Kontakt zu Bewohnern der Tony-Garnier-Siedlung im Stadtteil États-Unies. Dort baute Garnier, der visionäre Lyoner Architekt und Stadtplaner, zwischen 1920 und 1933 die 49 Gebäude mit Sozialwohnungen, die ihm für die „Cité idéale“ vorschwebten, eine ideale Stadt, in der Arbeiten, Wohnen und Erholung klar voneinander getrennt werden, durch Bäume und den Verzicht auf Zäune oder Barrieren. Garnier hatte sich von Emile Zolas Roman Arbeit inspirieren lassen, der Visionär erhoffte sich von seinen Plänen auch konkrete sozialpolitische Folgen.
In den 60er Jahren drohte das Viertel zu verfallen, wer es sich leisten konnte, zog weg, die Probleme verdichteten sich. Bensaid und seine Mitstreiter kamen auf die Idee, es zu renovieren. Sie beschlossen, die Wände der Gebäude mit großen Gemälden zu bemalen und versammelten die Anwohner in einer großen Halle: Kellner, Chauffeure, Taxifahrer, Verkäufer, Arbeitslose, Migranten. „Was wollen sie?“, wunderten die sich über die Künstler. „Der Wert einer Betonwand: Man kann sie anmalen“, rief Bensaid. Wer das Viertel heute besucht, schlendert durch ein Freilichtmuseum mit 25 farbigen Wandgemälden. Ein Jahr nach dem Ende der Malerarbeiten haben dort Läden und Boutiquen eröffnet, nach und nach hat sich eine kleine Ökonomie herausgebildet. „Seitdem möchte hier niemand mehr hier wegziehen“, weiß eine ältere Madame, die seit vierzig Jahren in dem Viertel lebt, das mittlerweile zum UNESCO-Weltkulturerbe gehört. In Künstlerkreisen werde er aber kaum ernst genommen, sagt Bensaid. In Frankreich sei Kunst eben individuell, nicht kollektiv.
Heinz Buschkowsky hat sein Projekt beeindruckt. Der Neuköllner Bürgermeister dachte sofort an die High-Deck-Siedlung in Neukölln, eine Zone, in der sich ältere Menschen nicht mehr aus dem Haus trauten, aus Angst, von meist arabischstämmigen Jugendlichen attackiert zu werden. Buschkowsky telefonierte mit Bensaid und erzählte ihm davon. Der Franzose flog nach Neukölln und erklärte dort den Anwohnern, was er, „zusammen, mit euch“, schaffen möchte. So entstand „La Volière“, eine bunte Fassade mit 150 gemalten Vogelarten auf einer grauen Wand. Nun machen die Älteren regelmäßig eine Häusertour, erklären den Schülern und anderen Nachbarn, welche Vogelarten sie an der Wand sehen. Einige Jugendliche haben einen Ausbildungsplatz in der Malerfirma bekommen. „Lyon oder Neukölln, der Prozess ist derselbe“, sagt Bensaid, der seine soziale Kunst auch nach Shanghai, Jerusalem oder Moskau exportiert. „Ich animiere die Menschen, ihre Identität und die ihres Viertels wiederzufinden“, sagt er. Es scheint ihm zu gelingen. In Berlin-Teltow beispielsweise sieht man eine solche Freskenwand mit gemalten familiären Alltagsszenen, privaten Ereignissen wie Hochzeiten oder Kinderkriegen. Aber was ändert das? „In einer uniformen globalisierten Welt, in der überall Gucci und McDonald’s existieren, zählt die kleine Bäckerei um die Ecke“, insistiert Bensaid. Er klingt nun ein bisschen wie ein Globalisierungskritiker, einer, der selber ständig um die Welt jettet.
Erinnern an Martin Luther King
Im Herbst aber kommt erstmal Buschkowsky nach Lyon, er möchte die Fassadenmalerei auf die Nachbarsiedlung des High-Deck-Viertels ausweiten: In der Köllnischen Heide sollen weitere sieben Giebel verschönert werden, neue Maler-Ausbildungsplätze sind auch vorgesehen.
Lyon ist vom Schmuddelkind zu einer Vorzeigemetropole geworden – die Stadt, durch die viele Touristen nur durchfahren, ist ein Beispiel sozialer Inklusion geworden: Fast 30 Jahre nach den düsteren Revolten sind an der Rhône und Saône und um sie herum neue Häuser entstanden, der Anteil an Sozialwohnungen liegt in Lyon über den gesetzlich vorgeschriebenen 20 Prozent. Die Resultate der Abiturienten zählen zu den besten in Frankreich. Dennoch wird immer wieder an die Missstände erinnert, auch die der Flüchtlinge. „Je marche, moi non plus“ heißt beispielsweise das Stück einer jungen Choreographin mit Einwanderer-Herkunft, sie wird es ebenfalls bei der Tanzbiennale aufführen. „Es ist eine Hommage an die großen historischen Märsche, an Martin Luther King, Mahatma Gandhi oder den Marche des Beurs“, erklärt Abiba Cherguy, eine Schülerin von Fred Bedongué, die im Lyoner Banlieue groß geworden ist. Nun ist sie von der Stadt beauftragt worden, Flüchtlinge und Immigranten in ihre kulturellen Projekte einzubinden.
1983, nach den neuen Revolten, waren maghrebinische Einwanderer sechs Wochen lang von Marseille nach Paris gewandert. Erst waren es 20, dann 80.000. In der Kapitale wurden sie dann sogar von Ministern empfangen. „Die junge Generation weiß davon leider kaum noch“, sagt Cherguy, die ihren freiwilligen Tänzern Hip-Hop, Flamenco, Oriental, Salsa und Zigeunerschritte beibringen möchte. „Marschieren, das heißt für mich träumen“, sagt sie und klingt etwas wehmütig.
Eine dickliche schwarze Frau in rotem T-Shirt steht neben ihr, sie sei vor einem Jahr aus Kinshasa hierher nach Lyon gekommen. Im Kongo habe sie sich für Frauenrechte eingesetzt, sagt sie, aber sie wurde verraten. Ihren Namen will sie nicht nennen, sie hat immer noch Angst, man könnte sie aufspüren. Lieber lässt sie sich wieder in den Rhythmus fallen. Beim Tanzen, sagt sie, sei sie in ihrem Element und könne für einige Momente alles vergessen. So wie die anderen um sie herum. Sie ist am richtigen Platz in einer Stadt, die nicht an ihren Rändern endet, sondern sie aufweichen möchte, und die um ihre Menschen kämpft, jeden Tag.
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