Auch an diesem Montag im Februar steht Felix Weitenhagen an der Weltzeituhr auf dem Berliner Alexanderplatz. Es sind 6 Grad unter Null. Ein Polizeiwagen hat sich postiert, ein Klapptisch ist aufgebaut, darauf eine Thermoskanne mit Tee und Plastikbecher. Eine Frau mit grauem Pferdeschwanz wandert hin und her. Auf dem Plakat, das sie sich umgehängt hat, fordert sie die Freiheit für Frauen. Ein Mann mit Dreitagebart hält die Botschaft des Abends als Transparent in den Händen: „Weg mit Hartz IV“ – die Losung der Montagsdemonstrationen.
Es ist 18 Uhr. „Hallo, mein Name ist Felix Weitenhagen. Ich bin der Moderator dieser Kundgebung. Es ist der siebte Winter im Kampf gegen die Hartz-Gesetze und die Bundesregierung“, sagt der junge Mann am Mikro und
Mikro und begrüßt ein paar Demonstranten persönlich. Er trägt Schnauzer, Armeejacke, Lederschuhe und wirkt eleganter als die anderen. Er beglückwünscht das ägyptische Volk zum Sturz von Mubarak: „Aber wir sind genauso mutig wie die Leute in Ägypten, es ist auch in Deutschland nötig, gegen den Sozialabbau mit der Rente mit 67 zu kämpfen.“ Dann richtet er eine Grußadresse an die italienischen Frauen, die gegen Berlusconi auf die Straße gehen. „Männer müssen auch kochen“, ruft eine Frau. Zum Klatschen ist es zu kalt, die meisten hier tragen dicke Handschuhe. Das nächste Thema: Hartz IV. Seit der Einführung 2004 gibt es Widerstand gegen das Gesetz und eine Dauerdiskussion. Alle debattieren, das Parlament, die Politiker in den Talkshows. Felix Weitenhagen reicht das nicht. Er hat im September 2004 vor 20.000 Menschen die Redebeiträge der Protestierenden moderiert, damals hat er gelernt vor einer Masse von Leuten zu sprechen. An diesem Februarabend ist das Moderieren leichter, es sind nur fünf Demonstranten gekommen.Als mache er sich selber Mut Im Dezember 2003 gründete sich das „Berliner Bündnis gegen Agenda 2010“ kurz bevor die Sozialreformen beschlossen wurden. Die Empörung über die Hartz IV-Gesetze trieb immer mehr Leute auf die Straße. Die bundesweite Montagsdemo-Bewegung, die ihren Namen von den Protesten in der DDR übernommen hatte, wurde eine politische Größe. Im Sommer 2004 protestierten deutschlandweit Hunderttausende. Jetzt sind es zehn, 40, höchstens mal 80 Demonstranten. „Die Montagsdemonstrationen leben“, ruft Weitenhagen. Es gibt sie noch, wie in Rostock, Köln, Hamburg, Dortmund, Dresden, Leipzig, Saarbrücken, Tübingen oder Stuttgart. Aber es klingt, als mache er sich auch selber Mut.„Gibt es Stimmen zur Politik der Bundesregierung?“ Weitenhagen geht mit dem Mikrofon herum. „Was meinen Sie?“, fragt er einen Mann, der die Kundgebung beobachtet. „Wat soll ick sagen“, antwortet der. Andere Statements folgen, „die Hartz-IV-Erhöhung von fünf beziehungsweise acht Euro im Monat ist eine Farce.“ Manche Wortmeldungen sind kaum verständlich. Die Kälte. Die Wut. „Dann hören wir erstmal ein Lied von Klaus Freudigmann“, sagt Weitenhagen. Der Mann ist auch von Anfang an dabei. Er schrammelt auf der Gitarre, singt: „Angela will Freiheit wagen und geht den Leuten an den Kragen/ Da ist der Wurm drin, da ist der Wurm drin/ wie kriegen wir den Dreck bloß weg!“ Alle singen mit. Freudigmanns Songs waren mal Hits, als die Bewegung noch nicht so geschrumpft war, als sie noch durch die Straßen liefen bis zur SPD-Zentrale. Weitenhagen war einer der Anführer, ein moderner Robin Hood. Heute muss er aufpassen, dass er nicht den Alleinunterhalter gibt.Er breitet eine Decke auf dem Boden aus, für Dinge, die „der Günther und ich“ zum Versteigern mitgebracht haben: DVDs vom Sternmarsch 2004 und eine neon-orangefarbene Ordnerweste: Raritäten aus der großen Zeit. Die Bewegung sei nach der Spaltung eben „etwas kleiner geworden“, sagt Weitenhagen sachlich. Ist er naiv? Oder blind? Idealist? Getriebener? Warum macht er immer weiter?Das große Abenteuer oder Helmut KohlWeitenhagen ist im Arbeiterbezirk Neukölln aufgewachsen. Als Kind besuchte er Integrationseinrichtungen mit Behinderten und Nichtbehinderten. Als er 12 Jahre war, bastelte er an Windrädern und lötete Solarmodule. Mit seiner Schwester schickte er einen Brief an den Supermarkt Bolle, man solle bitte die Plastikbecher markieren. Da gab es den Grünen Punkt noch nicht. An der Wende ’89 beeindruckte ihn, dass ein Volk gemeinsam etwas verändern kann. Wie viele Schüler demonstrierte er 1991/92 gegen den Irak-Krieg und spürte: „Ich muss mich einmischen und organisieren.“ Andere Klassenkameraden machten Au Pair in den USA, er wollte nach Eritrea oder auf die Phillipinen, in den Befreiungskampf. Er suchte das große Abenteuer, ging aber erstmal in den Jugendverband „Rebell“ und wurde gegen Helmut Kohl aktiv. Als Lehrling lockte ihn IG-Metall, später wurde er Betriebsrat bei Siemens.Die angemeldete Demo-Stunde am Alex ist fast um, die Leute nehmen ihre Trillerpfeifen und machen den „Schwabenstreich“, ein Symbol der S21-Proteste. Passanten eilen vorbei, Touristen fotografieren die wundersame Aktion, ein Student aus Libyen nickt anerkennend. „Man muss kämpfen“, sagt er, auch wenn er nicht versteht, worum es hier geht. Die Demonstranten fassen sich zum Abschluss an den frostigen Händen, bilden den „Kreis der Solidarität“ und singen: „Hartz IV muss weg“. Die Weltverbesserer wirken seltsam weltfremd.„Felix, kommst Du noch mit ins COOP, zur Nachbesprechung?“, fragt Günther. Sie gehen immer dorthin, der harte Kern, sechs, sieben Leute, die jeden Montag kommen. Die Kunst-Bar am Hackeschen Markt mutet zwischen edlen Boutiquen und Restaurants an wie ein Relikt. An den Wänden hängt Revolutionsfolklore, Poster von Che Guevara, T-Shirts mit den Konterfeis von Lenin und Mao. Die Sofas sind abgewetzt.„Revolution ist Kleinarbeit“Weitenhagen nimmt einen Grog, wegen der Kälte. Der Barmann kennt ihn und die anderen, die sich zum Auswerten der Demo in den Kellerraum zurückziehen. Als Maschinen-Schlosser bei Siemens hat Weitenhagen jahrelang im Drei-Schicht-System gearbeitet, nun hat er seine Arbeitszeit auf 66 Prozent reduziert. Den Rest der Zeit „studiere ich, bilde mich politisch weiter, beobachte die aktuelle Politik, lese Marx und Lenin: Was man eben so braucht für die Revolution“. Seit er 2003 das erste Mal am Mikro stand und merkte: „Ich treffe den richtigen Ton“, möchte der 33-Jährige eine kämpferische Opposition aufbauen. Es wurde damals in den großen Montagsdemo-Zeiten immer rasanter, der Andrang aufs Mikro immer größer. Weitenhagen und seine Mitkämpfer wurden fast überrannt. Dann kamen Attac, Die Linke, die Gewerkschaft. Alle wollten Meinungsführer sein, die Demonstranten drifteten dann auseinander. Hat er nie resigniert?Dass die Montagsdemo geschrumpft ist, sei eine Niederlage, aber kein Grund zur Verzweiflung. „Revolution ist eben auch Kleinarbeit.“ Er habe einen eisernen Willen und Ausdauer. „Ich bin Marathon-Läufer.“ Er kommt auf die argentinischen Frauen am Plaza del Mayo zu sprechen, die seit vielen Jahren für ihre während der Militärdiktatur verschwundenen Söhne demonstrieren gehen. Buenos Aires, Berlin, Ägypten. Es hängt irgendwie alles zusammen.Momentan beschäftigen Weitenhagen die vielen Leiharbeiter in seinem Betrieb. Sie werden schlechter bezahlt und haben weniger Rechte. Es werden immer mehr, die meisten sind Ostdeutsche. „Ich kann von meinem Lohn leben, die nicht.“ Weitenhagen sagt, die Leiharbeiter müssten sich organisieren. „Ihre Hemmschwelle zu kämpfen ist aber erstmal größer.“ Seine Frau kommt auch aus dem Osten, sie war mal ein Jahr arbeitslos, „eine Katastrophe“. Nun arbeitet auch sie als Schlosserin in Dreischicht. Manchmal gingen sie zusammen tanzen, sagt Weitenhagen.Günther, der Demo-Mitstreiter, kommt an die Bar. Er trägt die Ordnerweste, die er eigentlich versteigern wollte, nun selbst. „Können wir die Themen für kommenden Montag durchgehen?“, fragt er. Angedacht sei Hartz IV unter besonderer Berücksichtigung der Situation alleinerziehender Frauen. „Wie war die Kundgebung heute?“, fragt Weitenhagen. „Gut, du warst gut“. Mittlerweile gibt er auch Workshops fürs offene Mikrofon, erklärt, wie man es hält, wie man Pausen überbrückt: „Immer an die Menschen denken, zu denen man spricht und nie vom Blatt lesen.“ Die Kunst sei, dass es nicht aufgesetzt wirkt und mobilisiert. Ist die Straße in Zeiten von Facebook und Twitter noch der geeignete Ort für Widerstand? „Auch wir haben Freunde bei Facebook – und eine Homepage“, sagt Weitenhagen. Aber auf der Straße hat er seine Aufgabe gefunden. Er klammert sich nun ein bisschen an sie. Immer wieder montags.
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