Immer wenn der Zug am Bahnhof Kablow hält, diese drei Stationen von Königs Wusterhausen (KW) entfernt, im Südosten von Berlin, habe ich vor Augen, wie es hier aussah, als ich ein Kind war. Das alte Wärterhäuschen steht da noch, nur ohne Wärter. Dann das verfallene Haus, wo mal die Gaststätte mit Tanzsaal war. Abgerissen. Der Bäcker ist verschwunden, der Konsum, an den Fleischer erinnert nur noch ein Schild. Die mit Kopfsteinen gepflasterte Bahnhofstraße, die hin zum Dorfkern führt, wo wir an der Seite auf Sandwegen laufen, ist oft menschenleer.
An diesem Sonnabend ist Dorffest, es ist das 28. Vor der Wende gab es das nicht. Am Einlasszelt zahlt man 2 Euro 50, schaut auf die Kirchturmspitze. Vor der Pforte der freiwilligen Feuerwehr sitzen Männer in schwarzen Hosen und mit schwarzer Kappe auf dem Kopf, es gibt die Kablower Feuerwehr schon 95 Jahre, der Verein sucht Mitglieder, sagen sie.
Holzbänke werden postiert, Bratwurst und Steak brutzeln auf dem Grill. Auf der Bühne ist Soundcheck. Schlager. „Kablower Musikantenscheune“, so lautet dieses Jahr das Motto. Alle wichtigen Kablower sind da, alle sind hier engagiert, schon immer.
„Rede mit Meinert, das ist der Dicke, der Laute“, sagt mir ein Mann im „SG Askania Kablow“-Shirt, als ich frage, wie es dem Dorf so geht. Die Tischlermeisterei Meinert blieb nach der Wende bestehen, er ist Ortsvorsteher und in der CDU. Sein Vater hat die Tischlerei 1946 in Kablow gegründet, mittlerweile führt sie Meinerts Sohn. Man kann ihn kaum verfehlen, schwarzes T-Shirt, graues Haar, Goldkette. Lachen. Er hockt auf einer der Bierbänke, quatscht, schüttelt Hände. Er duzt mich sofort, wirkt kumpelhaft, dann rast er durch sein Leben, erzählt von seinen Aufträgen vor und nach dem Mauerfall.
Als Diplomingenieur für Holz-und Wassertechnik arbeitete er im großen Möbelwerk im benachbarten Zernsdorf, wurde dort leitender Angestellter und 1980 Reisekader. Er hat Exporttische für Ikea gebaut, war vor dem Mauerfall in England, Saudi-Arabien oder in Conakry, Guineas Hauptstadt, da hat er ein Hotel ausgebaut. 1990 setzte er in King’s Lynn, Englands größter Papierfabrik, Brandschutztüren ein, 2008/2009 war er am Möbelbau der neuen amerikanischen Botschaft in Berlin beteiligt.
17 Jahre fürs Gemeindehaus
Meinert war schon als Jugendlicher in der CDU, er sitzt seit Jahren im Kreistag in KW, kennt Andreas Kalbitz von der AfD, „ein schlimmer Finger“. Er hat Verbindungen und macht sie für Kablow nutzbar. Meinert schwärmt vom Kulturverein, der 2005 gegründet wurde, sie organisieren irische Abende, Tänze in den Mai, Seniorencafés. Er deutet auf das Gemeindehaus, hell, geräumig, mit Ziegeldach, Tanzsälen, Beamer. Im Mai dieses Jahres wurde es eingeweiht, da wo früher die alte Schule stand, in der Meinert eingeschult wurde, so wie alle alten Kablower. „17 Jahre hab ick dafür gekämpft, die Gemeinde hat es immer abgelehnt. Kablow ist der zweitkleinste Ort, aber der aktivste. Wir haben allein acht Tanzgruppen“, sagt Meinert. Es ist sein Prestigeobjekt. Bei der Kommunalwahl bekam Meinert so viele Stimmen, dass er nun zwei der drei Sitze im Ortsbeirat besetzt. „Sie haben nicht die CDU gewählt, sondern mich.“ Weil er was bewegt, weil die Leute das sehen. Geschäfte haben sie hier nicht mehr, aber einen Treffpunkt.
Die Läden seien verschwunden, es gebe kaum Infrastruktur, „aber das Dorf ist nicht tot“, sagt Monika Schrobback. Sie betreibt auf dem Gehöft ihrer Schwiegereltern eine Beautyfarm, den hinteren Teil der Scheune hat sie zur Pension ausgebaut. Sie führt durch ihr Anwesen, mit Massageräumen, Terrasse, Blick übers Land. Sie war früher für die Abendshow beim Dorffest zuständig, hat es mitbegründet. Man helfe sich hier beim Einkaufen, den Leuten gehe es gut, „wir sind hier im Speckgürtel“.
Schon vor 1989 kamen Ostberliner und hatten ihre Wochenendhäuschen, das habe der Region geholfen. Sie sind noch immer da, unten am Krüpelsee, da wo das Dorf endet. Manche meckern, wenn einer das Auto zu nah am Zaun parkt oder Fremde auf den Steg gehen. Manchmal, wenn wir auf der kleinen Bank am See saßen und leichter Wellengang war, dann schwärmte meine Mutter: „Ist fast wie am Atlantik, oder?“
Wenn es den Leuten so gut geht, warum haben dann 88 von 451 Kablower Wählern und Wählerinnen bei der Europawahl im Mai AfD gewählt, fast 20 Prozent? „Keiner weiß, wer die AfD-Leute sind in Kablow“, behauptet Meinert. Schrobback sagt, sie höre in Dorfgesprächen hin und wieder solche Sätze, die Migranten sollen wieder raus. In Kablow waren nie welche. Ihr Sohn arbeitet in Singapur bei VW, das halbe Dorf sei schon da gewesen – auch eine Form von Gemeinschaft.
Viele märkische Dörfer ziehen sich an einer Straße entlang. Kablow ist ungewöhnlich, weil es ein Runddorf ist, von Wasser umgeben. Ein altes Fischerdorf mit seinem erhaltenen Dorfkern um die gotische Backsteinkirche herum, und ihre 300 Jahre alten Ulmen. 3000 v. Chr. kamen die ersten Steinzeitmenschen in die Gegend, 300 n. Chr. siedelten hier slawische Germanen. Es ist eine der größten Ausgrabungsstätten germanischer Siedlungen. Fontane hat das Dorf in seinen Wanderungen nur in einem Satz erwähnt: „Die Landschaftsbilder blieben dieselben und wechselten erst, als wir, bei Dorf Kablow, aus der bis dahin befahrenen Seenkette der Wendischen Spree in diese selbst gelangten.“
Kablow hat heute rund 900 Einwohner, seit das Dorf 2003 eingemeindet wurde, gehört es zu Königs Wusterhausen. Es wurden Straßen gebaut und saniert.
Viele Betriebe sind eingegangen seit der Wende – die Werkzeugmaschinenfabrik in Wildau, wo viele gearbeitet haben, das Beton-Zementwerk Zernsdorf. Andere haben expandiert. So wie FSG Fernsteuergeräte, ein Hersteller industrieller Mess- und Automatisierungstechnik. Klaus-Dieter Schulz, damals der Geschäftsführer, kam 1990 aus Berlin nach Kablow und machte da einen Betrieb auf. Er sei „ein Wessi“ gewesen, „dem man in die Augen gucken konnte“. Ein Mann, ein Wort, sagen sie hier. Meinert und seinen Projekten spendete er Geld: 100.000 Euro für die Renovierung der Fontanestraße, 25.000 Euro für die Küche des Gemeindehauses.
Bei der Abendshow, dem Höhepunkt des Dorffestes, steht eine Frau im Dirndl auf der Bühne und moderiert – auf Bayrisch. Sie habe sich angesiedelt in Kablow, höre ich später, sie habe ein Grundstück. Die Leute, die meisten sind aus dem Umland gekommen, schunkeln zu Helene-Fischer- und Andrea-Berg-Covern. Meinert steht beim Dorffest als Roland Kaiser auf der Bühne, in ein paar Tagen will er nach Liverpool fliegen, zum Beatlemania-Festival.
Knollennase, Bauch
Der Feuerwehrgruppenführer verteilt noch ein paar Urkunden an Löschmeister. „Mein Gott, Walter“ singen sie – und da taucht Walter Blanck auf, im Bademantel. Er ist der alte linke Bürgermeister, der mit dem Biergarten, den er mal hatte.
Ein paar Tage später treffen wir uns. Blanck, Jahrgang 46, Knollennase, Bauch, steht am Tor seines Hauses in der Dorfaue, und Kablow ist wieder so leer und still wie sonst. Auf der kleinen Terrasse hatte Blanck seinen Biergarten, einfach ein paar Tische aufgestellt. Alle Kablower kamen, neue und alte. Er stellt eine Flasche Fanta auf den Tisch in seinem Kabuff, da wo sie früher Bier zapften, die Krüge thronen in Regalen an der Wand. 1990 fingen sie an, es lief, ein Bier vom Fass – 0,4 Liter – kostete 2 Mark 40. „Und bei Aldi in Zernsdorf gab es dann die Büchse für 42 Pfennig. Dann hast du abends aufgemacht, es kamen zwei, drei. Die Versicherungskosten waren höher als die Einnahmen.“ Ende 1999 machte er dicht. Wieder eine Anlaufstelle weniger, wo man in Ruhe mal Witze reißen konnte, streiten, Karten spielen.
Walter Blanck stammt aus Aschersleben, seine Frau ist aus Kablow. Von 1990 bis 1992 war er hauptamtlicher Bürgermeister, bis 2000 war er im Rollladenbau in Wildau beschäftigt, dann war kein Bedarf mehr, er fing in der Spedition an, bis zur Rente mit 67. Eine Periode saß er in der Stadtverordnetenversammlung in KW, machte aber keinen Spaß, diese Machtspiele. „Kablow hat einen entscheidenen Vorteil“, sagt er, „es gibt hier kein Parteidenken.“ Für das Dorf sei es egal, wer wen wähle, es gehe um die Sache. „Hier ist Kablow, dann beginnt der Rest. Es gibt diesen Zusammenhalt.“ Die Leute binden sich nicht mehr an Parteien, an eine Gesellschaft, die für sie immer unübersichtlicher wird. Eher an Typen wie Meinert oder Blanck, die das "Wir" erhalten wollen. Nach der Wende wurde in Kablow versucht, die „Neubürger“, die hergezogen sind, miteinzubeziehen – übers Dorffest! Das klappte auch, die kamen auch in den Biergarten.
„Wie kann man im Dorf nur die Kneipe sterben lassen“, wundert sich mein italienischer Mann, der es in Kablow nicht lange aushält, weil er raus muss, unter Leute.
Die meisten haben keine Sorgen, haben Haus, Hof, Auto, sagt Blanck. Es gebe kaum Abwanderung, einen guten Jugend- und Kinderstand. Woher dann der Unmut? „Die Leute schimpfen, weil das, was versprochen wurde, nicht mal annähernd eingehalten wurde“, sagt Blanck. Nie wieder Funkloch? Es werde Breitband ausgebaut, ja, aber nur in Zeesen, Senzig, Niederlehme. „Und der Rest bleibt liegen, wie immer.“ Für den Schulweg nach Zernsdorf, wo die Grundschule heute steht, sei man nicht mal in der Lage, einen Radweg anzulegen, „die müssen auf der Hauptstraße fahren“. Außerdem häuften sich im Umland die Einbrüche. „In Kablow brauchst du dein Haus eigentlich nicht abschließen. Aber wenn du hörst, was in KW los ist – da kommt ein Unsicherheitsgefühl auf.“ Es könnte schlimmer kommen, man könnte verlieren, was man sich aufgebaut hat. Er kenne AfD-Wähler, denen gehe es nur um diese angeblichen Probleme, nicht um Ideologie. „Was die anderen Parteien bisher gemacht haben, das hat sie nicht erreicht.“ Blanck kämpft jetzt um den Erhalt der Kablower Feuerwehr. Das Depot ist nach Zernsdorf gewandert, niemand wollte das. „Ein Dorf ohne Feuerwehr, das ist der letzte Husten“. Blanck will sie als historisches Fahrzeug erhalten, wenigstens das.
Was ist Ihre Meinung?
Kommentare einblendenDiskutieren Sie mit.