Unten durch

Porträt Dimitrij Wall kam als russisches Kind ins deutsche Arbeitermilieu. Nun hat er einen Roman über sein prekäres Leben geschrieben
Ausgabe 18/2015
„Und plötzlich war kein Öl mehr unter den Nägeln“
„Und plötzlich war kein Öl mehr unter den Nägeln“

Foto: Christian Werner für der Freitag

Morgens um zehn, da sei er meist noch gar nicht munter. Dimitrij Wall ist trotzdem pünktlich im Café und bestellt leise, mit leichtem russsichem Singsang, einen schwarzen Tee. Sein Erbe, sagt er, als Kind kam er mit seiner russischen Arbeiterfamilie nach Osnabrück. Vor kurzem hat er ein Buch veröffentlicht, das als „Unterschichtenroman“ Aufsehen erregt hat. In einer klaren, nüchternen Sprache schildert er darin seine Erfahrungen als Leiharbeiter, mit prekären Jobs und Beziehungen. Mittlerweile lebt Wall in Berlin-Wedding, nahe der Uferhallen, wo wir uns treffen. Der Ort vereint zwei Welten, das Raue und das Kreative. Passt also.

Der Freitag: Herr Wall, Sie haben ein Buch veröffentlicht, sehen Sie sich trotzdem noch als Arbeiter?

Dimitrij Wall: Erst der Russe am Fließband und jetzt der Russe, der Zeilen schindet. Aber wenigstens macht mir die Arbeit jetzt Spaß.

Mein Opa war Arbeiter, mein Vater auch. Wie sollte ich dann da rauskommen, dachte ich früher. In der Sowjetunion hatte man keine Wahl. Da war man froh, dass man als Wolgadeutscher überhaupt arbeiten durfte.

Wie war es dann in Osnabrück, wohin Ihre Familie auswanderte?

Das war in den 90er Jahren, da habe ich das Proletariat in einer anderen Form erlebt. Die Arbeiter können sich jetzt auch Flachbildfernseher und Autos auf Kredit leisten. Wenn sie ordentlich dafür schuften. Mein Vater war aber für alle nur „der Russe am Fließband“. Das wurde ich dann auch.

Wie reagieren die Menschen in einer Fabrik auf Leiharbeiter?

Ich fing in einem Galvanik-Betrieb an, wo Metall veredelt wurde. Veredeln klingt schön, aber ich hab den ganzen Tag nur Metallteile geschleppt. Oder ich habe Steine für Öfen gepresst und musste den 20-Kilo-Stein dann auf einen Wagen stellen, damit er zum Brenn-ofen gefahren wird. Bei der Kosmetikfabrik musste ich acht Stunden lang kleine Fläschchen mit Wimperntusche aufs Band stellen. Man muss irrsinnig schnell sein. Man muss den Akkord schaffen, um den Bonus zu kassieren. Aber wenn man schneller wird als die anderen, kommt ein Kollege und sagt: Hör auf, du machst uns kaputt! Die haben den Akkord extra niedrig gehalten, damit sie nicht so viel tun mussten.

Sie waren eine Bedrohung?

Ja, anfangs sind die anderen Arbeiter abweisend: Ich komme dahin und mache dieselbe Tätigkeit für die Hälfte des Gelds. Ein Kollege hat mich regelrecht gehasst und mich nur als „Russen“ gesehen, der ihm den Job wegnimmt. Aber ich wusste: Ich werde nicht für immer bleiben. Ich bekam Zugang, indem ich ihnen gesagt habe: Es ist mir scheißegal, was ich hier mache. Mit der Zeit merken die anderen, der ist auch nur ein armer Junge, der von etwas leben muss. Man sagt dann, geh’n wir erst mal eine rauchen.

Vom Fließband

Seinen Roman Gott will uns tot sehen (Eichborn) hat Dimitrij Wall vor allem nachts geschrieben. In seinem autobiografischen Debüt erzählt er vom Leben in einer Parallelgesellschaft, von den russischen Freunden, den schlechten Jobs und der untreuen Freundin. Wall berichtet aus einer Welt, die in der deutschen Literatur eher selten vorkommt: der des Arbeitsprekariats.

Geboren wurde Dimitrij Wall 1986 in der UdSSR als Sohn eines Wolgadeutschen und einer Russin. Vor 25 Jahren siedelte die Familie nach Deutschland über. Nach dem Hauptschulabschluss job-bte er erst eine Weile und absolvierte dann eine kaufmännische Ausbildung an einer Handelsschule. Später holte Wall das Abitur nach und begann in Kassel, Wirtschaftspädagogik (Lehramt Berufsschule) zu studieren. Inzwischen ist er in Berlin und beim Fach Journalismus und Unternehmenskommunikation an der Hochschule für Medien, Kommunikation und Wirtschaft gelandet.

Während seines Studiums arbeitet Wall journalistisch, unter anderem als freier Autor beim Magazin Vice. Dort hat er gerade beschrieben, wie er wieder jobben geht, um seinen Studienkredit zurückzuzahlen. Dieses Jahr sind außerdem mehrere Lesungen geplant, zum Beispiel beim Birlikte-Kulturfest im Juni in Köln.

Dimitrij Wall hat einen jüngeren Bruder und eine jüngere Schwester. Wenn er Ruhe sucht, fährt er auf einen Bauernhof und macht mit alten Freunden Schaschlikspieße nach dem russischen Rezept seines Vaters.

Entsteht in der Zigarettenpause eine Solidarität?

Ja, 15 Minuten lang. Nach der Pause endet sie wieder. Ich bekam dann irgendwann die Kündigung per Post und fing danach in einem Handyverkaufsshop an.

War das ein Aufstieg?

Ja, ich habe das so empfunden.Raus aus dem Blaumann, rein in den Anzug. Ich hatte plötzlich saubere Hände, kein Öl unter den Fingernägeln, auch der Umgangston war gepflegt. Das war seltsam, plötzlich hab ich den Typen, die ich am Fließband kennengelernt hatte, Handyverträge verkauft. Natürlich habe ich grundsätzlich immer mehr verkauft, als die Kunden brauchten. Irgendwann spürst du, wie du die Leute zu packen kriegst. Du hast den Dreh raus und denkst: Warum bekommst du die? Ist das überhaupt gut?

Ich habe Leuten schon Buchclubverträge angedreht, als Studentin, sogar mal einem Türken, der kein Wort Deutsch konnte.

Und ich hatte diese Momente bei alten Frauen. Die konnten ja gar nicht mit dem Handy umgehen und hatten auf einmal eine Internet- oder SMS-Flatrate, obwohl sie nie SMS geschrieben haben. Oder ich habe sie nicht informiert, dass es noch eine Anschlussgebühr von 25 Euro gibt – weil es nicht meine Pflicht war. Einer kam wieder und ist mir an die Gurgel gegangen. Ich habe das hingenommen und einfach weitergemacht. Ich wollte beim Chef einen guten Eindruck hinterlassen. Bloß nicht wieder rausfliegen, meinen Anzug verlieren und in die Fabrik gehen müssen. Irgendwann habe ich gemerkt, es ist im Grunde dasselbe Fließband. Nur muss man eben Handyverträge verkaufen.

Fanden Sie Halt bei Ihrer Familie?

Mein Vater konnte keiner sein. Er war ein Trinker. Ich habe ja eigentlich schon seit zehn Jahren keine richtigen Eltern mehr, seit der Autounfall passiert ist. Meine Mutter war danach, im Alter von 30 Jahren, körperlich behindert. Mein Vater ist daran zerbrochen. Eigentlich war er ja Fernfahrer. Aber dann konnte er nicht mehr für mehrere Tage weg sein. Also ging er in der Fabrik arbeiten.

Weil er den Haushalt schmeißen musste?

Ja, und Elternsprechtage besuchen, das tat er ein Mal in zehn Jahren. Wenn er abends heimkam, hat er immer gesagt: „Ich bin ein Roboter.“ Er hat das nicht ausgehalten, wurde arbeitslos und fing an zu trinken. Damit musste ich mich irgendwann abfinden. Mein Vater und sein Selbstmitleid machten mich wütend. Aber ich konnte ihn irgendwie auch verstehen.

Was konnten Sie verstehen?

Für einen russischen Mann ist es das Schlimmste, wenn er nichts auf die Beine stellen kann. Er muss ja, ganz klassisch, ein Haus bauen, einen Baum pflanzen. Etwas schaffen. Alle meine Cousins und Onkels haben das gemacht. Mein Vater hat in der Hinsicht nichts zustande bekommen.

Im Roman beschreiben Sie auch eine Beziehung, irritierend hart. Nach einem Discoabend gibt es Streit wegen eines Flirts mit einer anderen, und Sie werfen die Frau aus dem Auto. So ist die Wirklichkeit?

Ja, das ist kein Stereotyp, genauso läuft es ab in diesem Milieu. Wir sind schon hart miteinander umgegangen.

Es geht oft um Fingernägel, Kleidung, Schönheit.

Äußerlichkeiten sind wichtig, wenn alles um dich herum hässlich ist.

Ein Kritiker auf „Spiegel Online“ nannte Sie einen Schulmädchenreporter.

Es war keine gute Kritik. Ich vermute, er hat das Buch nicht wirklich gelesen. Er wollte politisch korrekt sein, hat dieses Leben aber nicht gelebt.

Ihre Freundin im Roman will statt „rumliegen und vögeln“ lieber Urlaub machen.

Das war so. Aber wie denn? So ein Urlaub für zwei Personen kostet schnell mal mehr als 1.000 Euro, jedenfalls der, den sie sich vorstellte. Sie wollte Zypern. „Man muss einer russischen Frau etwas bieten, sonst ist man ja kein Mann“ – das war für mich nicht nur ein Spruch. Ich habe mich dem verweigert. Mein Urlaub waren die Drogen.

Inwiefern?

Es ging bei mir ja immer um Zeit. Früh aufstehen, zur Arbeit, den Akkord schaffen, in soundsoviel Stunden soundsoviele Handyverträge abschließen. Wenn ich dann abends geraucht oder etwas eingeschmissen habe, konnte ich Raum und Zeit verlassen.

Woher kam der Kampfgeist, es weiter zu bringen?

Von meiner Mutter. Sie war die einzige Akademikerin in unserer Familie. Sie hat in Moskau Chemie studiert und für die Armee geforscht. Sie sagte immer: Du sollst mal studieren! Und ich antwortete: Mama, das ist so weit weg. Das schaffe ich nie. Als es dann niemand mehr gesagt hat, wollte ich es plötzlich selber. Ich suchte mir eine Ausbildung zum Einzelhandelskaufmann. Als Hauptschüler musste ich da penetrant sein. Ich bin jeden Tag hingefahren und sagte: Ich will das hier machen! Trotz meines Zeugnisses.

Heute werden Auszubildende massiv gesucht.

Aber wenn man vor zehn Jahren eine gute Ausbildung bekommen hat, war man ein gemachter Mann. Ich hab das ja alles in einer Mordsgeschwindigkeit durchgezogen: Ausbildung, Fachabitur, Studium. Ich dachte: Bald bist du 30. Ich saß dann im Audimax in der Uni Kassel und studierte Berufsschullehramt. Da sah ich Leute, die ich dort niemals erwartet hätte. Dieser Ghetto-Slang. Früher dachte ich, wenn du an die Uni kommst, kannst du stolz auf dich sein. Nun saß ich da und spürte, so besonders ist das gar nicht.

Waren Sie schon als Jugendlicher in Bücher vertieft?

Meine Mutter schenkte mir die Liebe zur Literatur. Sie hat dicke Wälzer, große Klassiker, in ein oder zwei Tagen durchgelesen. Viel Puschkin, aber auch kitschige Liebesromane. Es wurden immer mehr Bücher. Sie war ja nach ihrem Autounfall viel zu Hause. Als ich in der siebten Klasse war, da fing sie an, mir Kyrillisch beizubringen, ich musste diese Schrift trainieren. Von meinem kasachischen Nachbarn habe ich Puschkin-Gedichte bekommen, bevor wir nach Deutschland gegangen sind. Er wollte, dass ich meine Wurzeln, meine Kultur nicht verliere. Der Band lag jahrelang herum, dann hat mich der Ehrgeiz gepackt, das auf Russisch zu verstehen. Meiner Oma habe ich dann zum ersten Mal einen Brief auf Russisch geschrieben, sie war sehr stolz. Inzwischen lese ich immer noch viele Russen, allerdings meist auf Deutsch. Etwa Die Reise nach Petuschki von Wenedikt Jerofejew und Wladimir Makanins Underground oder Ein Held unserer Zeit.

Die Parallelwelt von Osnabrück ist weit weg. Fühlen Sie sich hier in Berlin, das ja als besonders kreativ gilt, zu Hause?

Ja, Sie interviewen mich schließlich! Ich bin integriert in die Gesellschaft, in den Berliner Kulturbetrieb. Ich kannte vorher nicht eine Person, die ein Buch geschrieben hat, jetzt kenne ich ungefähr 20. Ich profitiere von der Stadt. Ich habe bei meiner Buchpremiere Leute zusammengebracht, die sich normalerweise niemals begegnet wären. Meine Jungs, die sonst einen Stapler fahren, sitzen auf einmal mit Schriftstellern zusammen.

Wie wurde die Literaturszene auf Sie aufmerksam?

Zuerst habe ich in einem Artikel in einem Magazin von meinen Erfahrungen als Leiharbeiter berichtet. Dann rief ein Verlag an und fragte, ob ich einen Roman daraus machen möchte. Ich sagte, gern, ich habe sowieso schon 50 Seiten. Die habe ich denen geschickt. Aber dann wollten sie ständig etwas verändern. Sie haben nicht an mich geglaubt und gesagt, ich hätte nicht genug Erfahrung. Ich fand dann einen anderen Verlag.

Und nun sind Sie der Russe, der schreibt.

Ich werde jetzt viel häufiger gefragt, was ich von Putin halte. Oder: Wie seid ihr Russen denn so? Na ja, wir sind alle verschieden. Mein Bruder ist anders als ich.

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