Wir treffen uns im Café Anita Wronski im Berliner Prenzlauer Berg – in der Gegend, in der Jutta Voigt geboren wurde und einfach immer geblieben ist. Sie trägt Lederjacke, Jeans und T-Shirt und nennt diese Kleidung die „lebenslange Uniform ihrer Generation“. Keine Generation zuvor sei so besessen gewesen von der Jugend und vom Jungbleiben, sagt sie. Der Grat zwischen Heroismus und Lächerlichkeit sei da ziemlich schmal.
Der Freitag: Frau Voigt, Sie feiern in Ihrem Buch Spätvorstellung das Älterwerden: Sie beschreiben eine Goldene Hochzeit in Venedig, einen Mann, der nach fünfzig Ehejahren immer noch charmant ist, junge Freundinnen, mit denen Ihr Alter Ego Sylvie tanzen geht. Als wäre auch im Alter das Leben voller Ereignisse.
Jutta Voigt: Alter schützt vor Leben nicht. Sylvie geht tanzen mit ihren jungen Freundinnen, weil sie Alter und Jungsein für untrennbar hält. Alter schützt vor Jugend nicht. Venedig steht ganz banal für die Sehnsucht nach einem Alter, das schön ist – trotz des drohenden Untergangs.
Alt und schön?
Das wäre es doch. Ich wollte kein dunkles Buch schreiben. Was da kommt im Alter an Seltsamkeiten und Freiheiten, das wollte ich ausleuchten, und nicht mit Sparlampen. Wenn man etwas heller macht, kommen auch die dunklen Stellen ans Licht. Und natürlich ist eine Feier des Älterwerdens, wie Sie das nennen, begleitet von einem Endzeitgefühl.
Die Geschichte des alten Paares Sylvia und Konrad, die in Venedig ihr Leben bilanzieren, bildet den Rahmen. Das Verhältnis zwischen den beiden hat mich besonders interessiert. Im Buch wechseln Sie zwischen „Sylvie“ und „Ich“. Sind Sie Sylvie?
Nein, ja. Nicht so. „Sylvie“ und „Ich“ sind schon verschieden, zwischen ihnen steht die Distanz der Stilisierung, es gibt kein eins zu eins. „Ich“ ist die erwachsene Variante von Sylvie, die eben jung bleibt, trotz Hängebäckchen, Falten und der nie abgelegten Marotte, kein Glas und keine Tasse bis zum Schluss auszutrinken – ein Rest muss bleiben. „Ich“ durchschaut die Dinge, „Sylvie“ bleibt naiv und verspielt, das lässt sie sich nicht nehmen. Aber natürlich lebt Sylvie von meinen Erfahrungen.
An einer Stelle sagt Konrad zu Sylvie: ‚Ich liebe dich, aber ich kann dir nicht treu sein.’ Der erklärte Ehebruch.
In jener Zeit, den sechziger Jahren, war alles im Umbruch, auch das Verständnis von Moral. Sylvie hat mit achtzehn geheiratet, der ältere Konrad holte sie aus Jungmädchenträumen.
Es gibt eine Passage im Buch, in der Sie Verständnis für Untreue formulieren.
Ich habe versucht, den Reiz des Fremdgehens zu erklären. Also etwa die Gelegenheit, sich vor jemandem neu darzustellen, ein Spiel zu spielen. Sich vor einem Fremden zu inszenieren und die Wirkung zu testen. Auch Seiten an sich selbst zu leben, die im Vertrauten unausgelebt bleiben. Man ist ja nicht der Eine oder die Eine, ein jeder ist Viele. In allen einschlägigen Frauenmagazinen ist neuerdings zu lesen, dass der Begriff der Treue sich gerade wandelt, dass körperliche Untreue verzeihlich ist. Wichtiger wird die soziale Treue.
Was soll das sein: soziale Treue?
Ganz einfach: menschliche Treue. Es handelt sich doch nicht nur um „Mann und Frau“, sondern auch noch um zwei Menschen. Dem Menschen, den man liebt, treu zu bleiben, zu ihm zu stehen und ihn zu schonen. Nichts ist verlogener als Männer oder Frauen, die ihrem jeweiligen Lebensgefährten Seitensprünge offenbaren. Das ist keine Wahrheitsliebe, sondern Egoismus.
Zwischen Sylvie und Konrad gibt es noch etwas „Drittes“ – Rollenspiele: Sie spielen ihr Leben lang, und als sie beide alt sind, spielt er den Diener, sie die Königin.
So lange wie die beiden zusammen leben, haben sie sich eine gemeinsame Bühne erschaffen. Wenn der Alltag heiter sein soll, muss man übereinander lachen können. Das Miteinanderspielen schafft das.
Wollen sie nur spielen oder sich damit gegenseitig etwas
mitteilen?
Eigentlich genügen sie sich selbst. Und doch: In jedem Spiel steckt Ernst. In diesem Fall womöglich Konrads Bekenntnis: Die Nummer eins, die Königin, warst immer du. Sylvie und Konrad spielen mit den Puppenlappen ihres Lebens.
Man braucht etwas Gemeinsames? Manche alte Paare schweigen sich lethargisch an beim Essen, manche hassen sich sogar.
Wenn der Mann am Tisch sitzt und schmatzt oder schlürft, schweigt die Frau, weil sie Angst hat, dass er eingeschnappt ist, falls sie sagt, dass ihr das nicht gefällt. Und wenn er ihren exaltierten Gesichtsausdruck nicht ertragen kann, während sie sich die Wimpern tuscht, schweigt er, weil er befürchtet, sie könne beleidigt sein. Bleiben die Animositäten unausgesprochen, kommt Aggressivität auf. Man kennt sich ja in- und auswendig, da gibt es einigen Stoff zum Hass, aber noch mehr zum Lachen. Das macht es einfacher.
Sie erzählen in Ihrem Buch Geschichten über alte Paare, über ungleiche Paare, Einzelgänger und Einsame – und von Lebensentscheidungen, die aus dem Rahmen fallen.
Alle Welt erwartet von Älteren, dass sie alt zu sein haben. Sie sollen nicht sie selbst sein, keine Individuen. Es ging mir darum, die Vielfalt des Alterns zu beschreiben, die Individualität des Alterns, nicht von „Rentnern“ sollte die Rede sein, sondern von Individuen, die statt ihren Lebensabend verstreichen zu lassen, lieber ihre Spätvorstellung zelebrieren.
Es gibt die Geschichte eines Mannes, der seine junge Freundin wegen einer älteren verlässt, weil die ältere „denselben Subtext in der Seele“ hat. Eher ungewöhnlich.
Bei Lesungen gibt es da immer Beifall. Vor allem von Frauen, aber auch von Männern, die bei ihren gleichaltrigen Frauen geblieben sind, die finden das richtig und verstehen den Mann, der seine junge Freundin verlassen hat. Große Altersunterschiede sind auf Dauer anstrengend. Ab einem bestimmten Alter schätzt man Übereinstimmung mehr als Widerspruch; dazu gehören auch die gemeinsamen Erinnerungen der gemeinsamen Generation, jener Subtext, den die Zeit in die Seele geschrieben hat.
Und die erotische Komponente? Filme wie Wolke 9 handeln vom späten Glück.
Das Modethema Sex im Alter interessiert mich nicht sonderlich. Soll jeder machen, wie er denkt und fühlt, nichts für die Öffentlichkeit. Ältere Paare in zerwühlten Betten wirken ausgeliefert. Alte Körper haben das Recht auf Diskretion, alte Liebe hat ein Recht auf Geheimnis.
Wie haben Sie sich auf das Alter vorbereitet?
Gar nicht.
Sie verdrängen es?
Ja, mache ich.
Sie müssen nun öfter Einladungen zu Beerdigungen folgen, die Sie „die Partys der Alten” nennen.
Man begreift, und akzeptiert auch, dass die eigene Existenz endlich ist. Das wird einem jetzt immer öfter vorgeführt. Es stirbt nun immer häufiger jemand, den man gut kannte. Das Leben ist nicht mehr so unbeschwert gesellig, wie es mal war. Es wird einsamer. Da nutzt man die Gelegenheit des Wiedersehens auf Friedhöfen und macht aus manch traurigem Anlass manch fröhliches Fest.
Was ist schwierig am Älterwerden?
Die Unfassbarkeit, dass es einen selber trifft, das Älterwerden: Wer ist der alte Kerl da in der Schaufensterscheibe? Oder die Alte da? Das bin nicht ich. Du wehrst dich gegen das Unfassbare, es kann nicht sein. Du doch nicht! Das Ich altert nicht, heißt es. Neulich habe ich im Fernsehen jemanden sagen hören: Das Ich, das nicht altert, ist das Kind in uns. Der Satz sprach mir aus der Seele. Das Kind will weiter spielen, auch wenn die Mutter von oben ruft: Komm rauf, Papa ist auch schon da.
Jutta Voigt, 71, wurde in Ostberlin geboren. Sie hat Philosophie studiert und als Reporterin, Essayistin und Kolumnistin gearbeitet, unter anderem für Wochenpost, Freitag und Zeit. 2000 erhielt sie den Theodor-Wolff-Preis. Ihre Bücher Der Geschmack des Ostens oder Westbesuch handeln vom Alltag in der DDR. Ihr neues Werk Spätvorstellung ist im Aufbau-Verlag erschienen
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