Entglaste Schaufenster, eine Reihe verbrannter Autos, ein Schaden von einer Million Euro: das hinterließ eine Gruppe von über 200 vermummten Personen im Hamburger Elbchausseeviertel bei den G20-Protesten. Acht Menschen sollen aufgrund der Ereignisse Schocks erlitten haben. Die strafrechtliche Aufarbeitung der G20-Proteste widmet sich nun diesem „Elbchausseekomplex“. Konkret sind vor dem Landgericht Hamburg fünf junge Männer wegen Landfriedensbruchs in einem besonders schweren Fall, Brandstiftung, gefährlicher Körperverletzung und Verstößen gegen das Waffengesetz angeklagt.
Das Besondere an diesem Fall: Die Staatsanwaltschaft kann den Angeklagten die konkreten Taten gar nicht nachweisen. Das ist auch nicht das Ziel ihrer Anklageschrift. Bereits die bloße Anwesenheit der Angeklagten reiche aus, argumentiert sie, um ihnen die Taten im Rahmen der Mittäterschaft zuzurechnen. Auch eine psychische Beihilfe könnte in Betracht kommen, meinte das Gericht im Dezember, am ersten von über 30 Verhandlungstagen. Die Strategie der Staatsanwaltschaft ist kein Einzelfall, sondern folgt einer Tendenz innerhalb des Straf- und Versammlungsrechts, einzelne für das Verhalten anderer haftbar zu machen und dafür eine Einschränkung der Grundrechte hinzunehmen.
Gruß von Bismarck
Bis 1970 enthielt das Demonstrationsstrafrecht noch Bestimmungen aus der Zeit der Sozialistenverfolgung unter Bismarck. Ihr Zweck war es, größere Aufläufe von Personen grundsätzlich strafrechtlich zu verfolgen. Gefängnisstrafen musste fürchten, wer sich nach polizeilicher Aufforderung nicht aus einer Menschenmenge entfernte oder wer passiv an einer „Zusammenrottung“ teilnahm. Erst das von der sozial-liberalen Koalition verabschiedete Straffreiheitsgesetz von 1970 setzte dieser pauschalen Bestrafung von passiv Teilnehmenden ein Ende. Das Gesetz stand gleichsam für den Versuch einer Befriedung der 68er-Proteste und sah Amnestien für Straftaten bei politischen Demonstrationen vor.
In der Folge gewann der Nachweis konkreter Tathandlungen wieder an Gewicht: eine liberale Entwicklung. Im Kontext der ersten großen Anti-Atomkraft-Proteste entschied das Bundesverfassungsgericht in seinem wegweisenden Brokdorf-Urteil von 1985: „Steht kollektive Unfriedlichkeit nicht zu befürchten, ist also nicht damit zu rechnen, dass eine Demonstration im Ganzen einen gewalttätigen oder aufrührerischen Verlauf nimmt oder dass der Veranstalter oder sein Anhang einen solchen Verlauf anstreben oder zumindest billigen, dann muss für die friedlichen Teilnehmer der von der Verfassung jedem Staatsbürger garantierte Schutz der Versammlungsfreiheit auch dann erhalten bleiben, wenn einzelne andere Demonstranten oder eine Minderheit Ausschreitungen begehen.“ Die Exekutive ist also verpflichtet, bei all ihren Maßnahmen differenzierend, kooperativ und verhältnismäßig vorzugehen, pauschale Einschränkungen der Versammlungsfreiheit sind hingegen grundrechtswidrig.
Die in den 1970er und -80er Jahren im Parlament und vor Gericht erkämpften Rechte und Entkriminalisierungen werden nicht erst seit der strafrechtlichen Aufarbeitung der G20-Proteste infrage gestellt. Die Sicherheitsbehörden arbeiteten nach 1970 zusammen mit Teilen der Rechtsprechung daran, den Gewaltbegriff des Landfriedensbruchs extensiv auszudehnen. Einen vorläufigen Höhepunkt markiert dabei das Urteil des Bundesgerichtshofs von 2017 zu einer Schlägerei zwischen Fußballfans. Der strafrechtliche Umgang mit Hooligans ist häufig ein Experimentierfeld der Exekutive, um erprobte Repressionen auf andere Bereiche anzuwenden – etwa stadtweite Aufenthaltsverbote für potenzielle Demonstrationsteilnehmende. Der Bundesgerichtshof bestätigte, dass eine Strafbarkeit wegen Landfriedensbruchs selbst dann gegeben sei, wenn die Beklagten nicht selbst die Gewalthandlungen begangen haben, sondern lediglich psychische Beihilfe getätigt hätten. Eine Argumentation, die im Elbchausseeprozess genutzt wird.
Es geht jedoch noch weiter. Der Bundesgerichtshof fügte hinzu, dass auch derjenige zu bestrafen sei, der die Menschenmenge verlässt. Die Hamburger Staatsanwaltschaft knüpft hier an: Den Angeschuldigten sollen nicht nur Straftaten zugeordnet werden, die während ihrer Teilnahme an der Demonstration verübt wurden, sondern auch jene, die nach ihrem Verlassen noch verübt worden sind. Argumentiert wird hier mit einem „gemeinsamen Tatentschluss“ der über 200 Menschen umfassenden Gruppe. Die Staatsanwaltschaft geht aber noch weiter als der BGH, weil sie die Beklagten als Mittäter bestrafen will.
Einen Bruch mit der Brokdorf-Rechtsprechung vollzog indes selbst das Bundesverfassungsgericht, als es im November 2016 beschloss, eine Klage gegen die Einkesselung einer Gruppe von Demonstrierenden im Rahmen der Blockupy-Proteste gegen die europäische Krisenpolitik in Frankfurt am Main nicht anzunehmen. Das Gericht ging davon aus, dass die bloße Anwesenheit einer Person in einer aus polizeilicher Sicht verdächtigen Gruppe ausreiche, um das Versammlungsrecht einzuschränken und ihre Identität festzustellen. Es teilte die Blockupy-Demonstration also ein in jene, die ihr Grundrecht auf Versammlungsfreiheit in Anspruch nehmen durften, und andere, die aufgrund eines mutmaßlich „planvoll-systematischen Zusammenwirkens“ zur Begehung von Straftaten für neun Stunden festgesetzt werden durften. Vom grundrechtsermöglichenden Charakter des Brokdorf-Urteils ist in diesem Verfahren kaum etwas übrig geblieben.
Das kennzeichnende Merkmal des Rechtsstaates ist der Schutz des Einzelnen in Rechtsverfahren vor drakonischen Strafen und Gewaltexzessen der Exekutive. Das erfordert Abwägung – zwischen strafrechtlicher Verfolgung von Straftaten und dem Schutz der Grundrechte. Die juristische Aufarbeitung des G20-Gipfels fügt sich in eine Entwicklung, in der rechtsstaatliche Maßstäbe aufgeweicht werden.
Öffentlichkeit unerwünscht
Das Hamburger Landgericht hat nun zu entscheiden, ob es die Rechte Einzelner vor dem strafenden Staat schützt oder Einzelne in Kollektivhaftung nimmt. Dabei steht das Gericht schon jetzt unter großem medialen und politischen Druck, der auf Bestrafung der Angeklagten drängt. Als das Landgericht für zwei der Angeklagten im Elbchaussee-Prozess die Untersuchungshaft aussetzte, weil es das vermummte Mitmarschieren nicht als Mittäterschaft qualifizierte, reichte die Staatsanwaltschaft einen Befangenheitsantrag gegen die Kammer ein: Sie hätte sich erkennbar auf die Seite der Beklagten gestellt. Zwar wurde der Befangenheitsantrag abgelehnt – aber die Staatsanwaltschaft legte nach und beantragte, die Öffentlichkeit vom Prozessgeschehen auszuschließen. Als Begründung nannte sie die Solidaritätsaktionen für die Angeklagten im Gerichtssaal zu Prozessbeginn. Das Gericht stimmte diesem Antrag nun zu, der Ausschluss sei im erzieherischen Interesse der jungen Männer. Auf diese Weise wird ein Prozess der politischen Justiz hinter verschlossenen Türen weitergeführt. Das ist kein gutes Zeichen für die Angeklagten, aber auch kein gutes Zeichen für das Rechtsstaatsprinzip.
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