ZersetzerIn der Zivilisation

Erinnerung Zum Tod von Genesis Breyer P-Orridge, der Front-„S/he“ von Throbbing Gristle
Genesis Breyer P-Orridge, 2009
Genesis Breyer P-Orridge, 2009

Foto: Michael Buckner/Getty Images

Sprechen Musikfreunde heute von „Industrial“, meinen Sie alles Mögliche. Bands wie Rammstein, Nine Inch Nails oder Ministry zählen sie häufig zu diesem Genre; in der Clubszene meint man derart verkürzt einfach „Industrial Techno“. An seine ursprüngliche Bedeutung, an das was dieses Wort vor gut 45 Jahren im Kontext der Popkultur zu bedeuten hatte und welche Idee die Maschinenmusik einmal in sich trug, erinnert nun der Tod ihres Erfinders. Vergangenen Samstag (14.3.) verstarb Genesis Breyer P-Orridge, einstmals Sänger- und Frontwesen der Band Throbbing Gristle, im Alter von 70 Jahren an Leukämie.

Als 1979 ihr berühmtestes Album 20 Jazz Funk Greats erscheint, ist die Gruppe schon seit einem guten Jahrzehnt in ganz England berüchtigt. Bereits drei Jahre zuvor beschimpft sie ein britischer Member of Parliament als „Zersetzer der Zivilisation“ – ein Spitzname, den sie sich fortan gerne selbst geben. Musikalisch bewegen sich die vier Musiker stets an der Grenze zum erratischen Lärm, durch den seltene lichte Momente zuckersüßer Fahrstuhlmusik dringen. Selbstgebaute Synthesizer, automatisierte Rhythmen und verfremdete Field Recordings sorgen für „Unmenschlichkeit“ in der Klanglandschaft. P-Orridge entwickelt seinen markanten Singsang, ständig an der Grenze zum atonalen Gesäusel oder Geschrei. Textlich wechselt er flüssig von brachialem gesellschaftlichen Kommentar hin zu spirituellen Mantren oder Koketterie mit Serienmördern und Sektenführern. Sein Beitrag zum Schlagwort „Industrial“ ist die kühle Analyse einer Gesellschaft, die sich stets philanthrop gibt, im Kern aber verfault und heuchlerisch ist – "Industrial Music for Industrial People“ druckt man als zynischen Slogan auf die Plattenhüllen.

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Bereits zwei Jahre später trennen sich Throbbing Gristle. Aus den Überresten entsteht die vielleicht erste programmatisch transgressive Popgruppe der Geschichte. Man covert die Beach Boys, tanzt aud LSD zu Acid House, besingt Roman Polanski, zeigt Affinität zu den Kompositionen von Charles Manson, nimmt ein Album in immersivem Mehrkanalton auf. Das Endlosprojekt namens Psychic TV dreht sich Anfangs weniger, dann immer mehr, fast ausschließlich um die Personalie P-Orridge. „Temple Ov Psychick Youth (TOPY)“ nennt sich der religiöse Arm, der sich mit esoterischen Konzepten wie Sigillenmagie und Sexritualen beschäftigt. Für den Kabelsender Channel J produziert man Videos mit obszönen Grausamkeiten zur Abschreckung des Nachtpublikums. In den 1980ern scharen sich sämtliche Obskuranten der internationalen Musikerszene um den Mann aus Manchester und sein Kuriositätenkabinett: Boyd Rice (NON), Douglas Pearce (Death in June), Marc Almond (Soft Cell), FM Einheit (Einstürzende Neubauten).

Mindestens als schwierig, gar als egomanisch beschreiben verschiedene verärgerte musikalische Weggenossen Genesis P-Orridge. Die Reunion-Tour von Throbbing Gristle beispielsweise, bricht er 2010 einfach ab. Zu diesem Zeitpunkt ist „Er“ aber eigentlich schon „Sie“. Von 1993 bis 2007 betreibt er das Körperkunstwerk „Pandrogyne“ am eigenen Leib. Mit dem Ziel der absoluten körperlichen Angleichung, legen sich Frau Lady Jaye und er unzählige Male unters Messer – ein spirituelles Unterfangen; es wird durch den frühen Tod der Partnerin jäh unterbrochen. Seitdem spricht GPO, wie man sie gerne abkürzt, von sich im Plural, fordert „S/he“ als korrektes Personalpronomen. Zuletzt coverten Psychic TV Krautrockklassiker, während das Frontwesen sein Publikum von der Schönheit astraler Liebe zu überzeugen versuchte. Es ist nun wieder vereint mit seinem Gegenstück.

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