Das ist kein Artikel

Realität Was genau ist eigentlich Fiktion? Und was ist es nicht?

Bei diesem Beitrag handelt es sich um ein Blog aus der Freitag-Community.
Ihre Freitag-Redaktion

Das ist kein Artikel

Foto: Edward Miller/Keystone/Getty Images

Was folgt ist ein Sachtext, versprochen.

***

Nur aus einem Fenster im Haus flackert Licht. Mal ist es ganz dunkel, mal blau, grün oder rot, mal grell und mal nicht. Der Mann drückt auf seiner Fernbedienung herum, springt von Sender zu Sender. In seiner anderen Hand eine Cola-Flasche. Schwarze Flüssigkeit tropft von seinem Kinn. Im Fernsehen zeigen sie brennende Fontänen. Waberndes Feuer. Ein Blick auf die Ölfelder von Kuwait. So viel Potenz. So viel aufgesparte Energie. So viel Sachen, die er jetzt noch machen könnte, doch er macht sie nie.

Er springt zum nächsten Sender. Ein Schriftsteller erzählt von seiner Schreibblockade. Wie er vor einem leeren Bildschirm sitzend auf den blinkenden Strich blickt. Dorthin wo etwas Schlaues stehen könnte, doch stattdessen ist da nichts.

Zum nächsten Sender. Talkshow mit Markus Lanz. Zu Gast ist Richard David Precht, mal wieder. Dem Land fehle es an Utopien, die Politik sei einfallslos. Seit Jahren sagt er das in jeder Talkshow.

Nächster Sender. Ein Forscher erklärt, wie sich in der Natur die kleinsten Muster im Großen wiederholen. Der Forscher sagt, wenn jede Verästelung eines Baumes so aussieht wie ein eigener Baum, dann spricht man von Fraktalen.

Nächster Sender. Es läuft ein Film. Vor ein paar Monaten lief er noch im Kino. Die Figuren im Film wissen um ihr Figur-Sein im Film, schauen ab und zu direkt in die Kamera und kommentieren das Geschehen.

Nächster Sender. Eine Dokumentation über eben jenen Film ist zu sehen. Die Schauspieler kommentieren ihre kommentierende Rolle im Film. Der Regisseur schaltet sich ein und kommentiert die Kommentare zu den kommentierenden Rollen im Film. Ein Voice-Over ist zu hören und kommentiert den Kommentar des Kommentars des Kommentars.

Nächster Sender. Werbung. Bald erscheint die neue Playstation. Neue Grafikkarte, Festplatte, Controller und neue Farbe. Der Mann blickt auf seine alte Spielekonsole und die vielen Spiele, zu denen bald keine neuen hinzukommen werden. Vor ein paar Jahren gab es große Updates, Softwareverbesserungen und immer besser aussehende Spiele für seine Konsole. Jetzt nicht mehr. Die Hardware ist ausgereizt. Die Spiele sehen so gut aus wie sie nur können, die Software läuft so flüssig wie es nur geht.

Der Mann denkt sich nichts dabei. All die verschiedenen Bilder, die ihm entgegenflimmern, sind nur das: Bilder. Neben dem Mann sitzt ein Junge. In seinen Händen befinden sich ein Notizblock und ein Stift. Er blickt zu dem Mann auf dem Sofa, zu dem Fernseher und dann wieder auf seinen Notizblock. Dabei schreibt er so schnell, wie man nur schreiben kann.

Er hält es für einfallsreich, einen Text über den Mann und die Bilder im Fernseher zu schreiben. Die Sendungen und Filme hängen zwar nicht direkt zusammen, doch der Junge möchte aus ihnen ein Narrativ basteln. Er hält sich für besonders kreativ, auch wenn das scheinbar zusammenhangslose Zappen als Erzählwerkzeug natürlich schon tausende Male verwendet wurde. Der Junge denkt darüber nach, so die Grenzen zwischen Sachtext und Fiktion verschwimmen zu lassen. Schließlich seien diese beiden Genres doch schon lange genug voneinander getrennt.

Wo ist der rote Faden? Was hat die neue Playstation mit der Gesellschaft zu tun? Ist es nicht so, dass auch die Gesellschaft eine neue Hardware gebrauchen könnte? Ist es nicht so, dass die Gesellschaft schon ewig in ihrer derzeitigen Konsolengeneration festhängt. Dass die Spiele sich nicht mehr wirklich verbessern? Dass die Software nicht mehr grundlegend überarbeitet wird? Dass sich alles auf winzige Änderungen beschränkt, Updates und Patches? Ist es das, was Precht mit den fehlenden Utopien meint? Ist es diese Einfallslosigkeit, die auch den Schriftsteller plagt?

Der Junge macht sich Sorgen darüber, dass der Leser diese Mehrdeutigkeit der Fernsehsendungen nicht durchschauen würde. Dass der Leser nicht bemerken würde, dass es sich um einen Sachtext handele. Vielleicht sollte er ganz am Anfang eine Anmerkung anbringen, dass es sich tatsächlich um einen Sachtext handele. Das wäre bestimmt eine interessante Weise einen Text zu beginnen. Aber was, wenn das nicht ausreichen würde? Ein Sachtext, das ist schließlich ein solcher, bei dem der Autor und der Erzähler eines Textes die selbe Person sind. Bei dem die Handlung nicht durch fiktive Charaktere oder irgendeinen fiktiven Außenstehenden, Allwissenden erzählt wird.

Der Junge überlegt sich, deshalb eine Metaebene einzubauen. So könne der Leser erkennen, dass der Junge sowohl Autor als auch Erzähler sei. Er hält das für besonders kreativ, auch wenn Metaebenen als Erzählwerkzeug natürlich schon tausende Male verwendet wurden. Diese Metaebene taucht zum ersten Mal in den Fernsehendungen auf, denkt sich der Junge. Irgendein Forscher, der über Fraktale redet oder so. Und einer dieser Filme der ständig die vierte Wand bricht und sich selbst kommentiert. Und dann könne er sich selbst in den Sachtext schreiben.

Er würde sich einfach nur als „den Jungen“ einführen und beschreiben wie er den Mann auf dem Sofa beobachtet und auf die Idee kommt, diesen Text zu schreiben. Und um das Ganze noch auf eine neue Stufe zu heben, würde er darüber schreiben, wie er auf die Idee kommt, eine Metaebene einzubauen und sich selbst in den Text zu schreiben. Wie er auf die Idee kommt, sich als „den Jungen“ einzuführen und wie er auf die Idee kommt auf die Idee zu kommen den Mann auf dem Sofa zu beobachten und diesen Text zu schreiben.

Der Mann auf dem Sofa war schon lange zu Bett gegangen. Der Junge blieb sitzen und schrieb und schrieb. Er öffnete eine Meta-Ebene nach der anderen, wandte die Regeln des einen auf das andere an. In der Playstation, der Waschmittelwerbung, der Frisur der Tagessprecherin, der Verästelung eines Baumes und der Anmoderation einer Quiz-Show sah er Muster die sich auf den Menschen und schließlich auch auf die Gesellschaft als Ganzes übertragen ließen. Die Regeln, die für das Kleine gelten, müssten auch für das weniger Kleine, das Mittelkleine, Mittelgroße und das Ganzgroße, für alle Stufen also gelten. Er könnte ewig weiterschreiben, aber zur letzten Stufe würde er so trotzdem nicht gelangen.

Die letzte Stufe, seine eigene Realität blieb das, was sich seinem Narrativ, den Mustern und Deutungen schließlich immer wieder entzog. Ein Film wird nicht „realer“ wenn er die vierte Wand bricht und die Charaktere einen direkt ansprechen. Denn das Brechen der Wand ist selbst schon eine inszenierte, eine ausgedachte Handlung in einer ausgedachten Welt. Und so blieb auch das, was er schrieb Fiktion, eine ausgedachte Geschichte, und kein Sachtext.

Er konnte Metaebene über Metaebene öffnen, Muster über Muster legen und Theorien verknüpfen. Doch das worüber er reflektierte, war eben nicht die Realität. Um über die Realität zu reflektieren, musste er sie in eine Box packen. Eine Box, die so groß war, dass er sie umfassen konnte. So groß, dass sie sich den Mustern, Theorien und Erklärungen fügte, die er auf sie anwendete. In dieser Box konnte er niemals Erzähler und Autor zugleich sein. Denn der Autor baut die Box, aber nur der Erzähler kann aus ihrem Inneren berichten.

So schrieb der Junge eine Geschichte, die ihn als Erzähler brauchte. Und mich als Autor. Ölfelder brennen nur, wenn sie entfacht werden. Er hatte sein Versprechen gebrochen und keinen Sachtext geschrieben. Am Ende wusste er nicht mal mehr, ob so etwas überhaupt möglich war.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Max Pieper

Geschichten über den Fortschritt und uns.

Max Pieper

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden