Den Fortschritt gibt es nicht

Politik Wir sollten aufhören, nach dem Fortschritt zu streben. Denn seine Geschichte ist zwar schön, aber auch falsch

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Steven Pinker ist der bekannteste Erzähler der modernen Fortschrittsgeschichte
Steven Pinker ist der bekannteste Erzähler der modernen Fortschrittsgeschichte

Foto: Glenn Chapman/AFP via Getty Images

Er gilt als einer der erfolgreichsten Wissenschaftler und bekanntesten Optimisten. Mit seinen lockigen weißen Haaren und seinem aufgeweckten Blick sieht er wie der freundliche Professor aus dem Bilderbuch aus. Wie könnte man ihm böse sein? Er bringt der Welt die frohe Botschaft: Alles wird gut. Die täglichen Katastrophen in den Zeitungen und im Fernsehen verfälschen unser Bild der Wirklichkeit.

In den Nachrichten geht es schließlich um Ausnahmen, und nicht um die Regel. Das Alltägliche, die 99% der Zeit, in der alles funktioniert, finden in den Nachrichten nicht statt. Und deshalb denken wir fälschlicherweise, die Welt könnte jeden Moment untergehen, wenn es doch in Wirklichkeit ganz anders ist: Der Menschheit geht es so gut wie niemals zuvor. Noch nie gab es weniger Gewalt, weniger Armut, weniger Ungleichheit und mehr Wohlstand. Ein Jahrhundert-Ereignis wie die Corona Pandemie ist in diesem Trendverlauf nur ein kleiner Knick im unaufhaltsamen Anstieg des allgemeinen Lebensstandards.

Es ist eine schöne Geschichte. Sie wird rauf und runter erzählt, von den großen Philanthropen dieser Welt aber auch von den wichtigsten internationalen Institutionen wie der UN oder der Weltbank. Der Fortschritt ist eine mächtige Geschichte. Denn für den Status-Quo ist es die Legitimation schlechthin. Kapitalismus funktioniert. Wirtschaftswachstum und Globalisierung dient dem Wohle aller. Wenn es im Großen und Ganzen doch bergauf geht, dann muss man im Großen und Ganzen auch nichts verändern.

Die Geschichte ist schön. Doch leider ist sie falsch. Wem gehören tatsächlich die Früchte des Fortschritts, wenn es sie denn gibt?

Weniger Gewalt?

Der freundliche Professor, um den es hier gehen soll, heißt Steven Pinker. Die moderne Fortschrittsgeschichte wird von vielen verschiedenen Intellektuellen erzählt, doch Pinker ist der bekannteste unter ihnen. Der Evolutionspsychologe landete 2011 mit seinem Buch „Gewalt: eine neue Geschichte der Menschheit“ einen Welterfolg. Die Hauptthese des Buches: Gewalt hat sich im Laufe der Geschichte verringert. Noch nie gab es so wenig Gewalt wie heute.

Pinker baut sein Argument auf einer Fülle von Statistiken auf. Aber woher nimmt er die Zahlen, um einen Gewaltrückgang über die gesamte Geschichte der Menschheit zu belegen? Hier liegt das erste Problem von Pinkers Argument. Damit Pinker für einen stetigen Rückgang der Gewalt argumentieren kann, muss er zeigen, dass die Menschheit in der fernen Vergangenheit besonders gewalttätig war. Und wer sich in die ferne Vergangenheit wagt, der muss mit recht spärlichen Daten rechnen.

Pinker versucht die hohe Gewalttätigkeit aufzuzeigen, indem er sich auf zweideutige und unvollständige Daten stützt. Pinker verwendet beispielsweise die Zahlen von historischen Chronisten, um die Eroberungszüge Dschingis Khans einordnen zu können. Es ist aber zweifelhaft, ob diese Chronisten tatsächlich darum bemüht waren, die historischen Gewalttaten exakt darzustellen. Viel wahrscheinlicher ist, dass die Chronisten lediglich die Grausamkeit und Ungeheuerlichkeit der Ereignisse verdeutlichen wollten, und deshalb viel mehr Tote nennen, als es faktisch gegeben hat.

Auch in Bezug auf die Gewalttätigkeit von Jäger-und-Sammler-Gesellschaften bewegt sich Pinker auf dünnem Eis. Pinker bezieht sich auf 21 historische Ausgrabungen, von denen er ableitet, dass 15 Prozent aller prähistorischen Todesfälle auf Gewalt zurückzuführen seien. Archäologen haben Pinkers Methode mehrfach kritisiert. Die 21 ausgewählten Ausgrabungen seien in keiner Weise repräsentativ für das Gewaltverhalten von Jäger-und-Sammler-Gesellschaften. Tatsächlich existieren über 400 Ausgrabungsstätten aus prähistorischer Zeit. Es ist schon verdächtig, dass Pinker den Großteil dieser 400 Ausgrabungen ignoriert. Denn bei einer Betrachtung aller Daten wäre sein Forschrittsnarrativ wohl ins Wanken gekommen. Betrachtet man alle 400 Ausgrabungsstätten, kommt man zu dem Schluss, dass es sehr wenig Hinweise auf Gewalt und Krieg in prähistorischen Zeiten gibt [1]. Pinkers bescheidener Datensatz spiegelt die Ausnahme, nicht die Regel wider.

Die Kernthese von Pinker ist, dass moderne demokratische Institutionen, die Wissenschaft und die Philosophie der Aufklärung zu einem stetigen Gewaltrückgang führen. In Bezug auf die Gegenwart nennt Pinker den langen Frieden zwischen den Großmächten seit 1945 als weiteren Beweis für diese These. Die These selbst sei einmal außen vorgelassen. Obwohl man sich natürlich schon fragen kann, ob die aufklärerische Philosophie so einheitlich in ihrer Ablehnung gegenüber Gewalt war, ob die Wissenschaft nicht auch für Massenvernichtungswaffen verantwortlich ist, oder ob die „aufgeklärten“ Großmächte ihre Konflikte zwar seltener direkt, dafür zunehmend über Stellvertreterkriege austragen.

Aber widmen wir uns dem Befund: Seit dem Ende des zweiten Weltkriegs hat es keine kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen Großmächten mehr gegeben. Ein nunmehr 75 Jahre andauernder Gewaltrückgang ist einmalig in der Geschichte. Ist dieser lange Frieden nicht der beste Beweis dafür, dass die Menschen friedlicher werden? Nicht so schnell! 75 Jahre klingt nach einer langen Zeit, aber einen langfristigen Trend kann man daraus nicht ableiten.

Wie Pasquale Cirillo und Nassim Nicholas Taleb zeigen, sind Todeszahlen durch Krieg und Gewalt keine normalen Variablen. Der Durchschnitt an Todeszahlen über einen bestimmten Zeitraum wird von wenigen fatalen Ereignissen geprägt. Ein solches Phänomen wird häufig dem Pareto-Prinzip zugeordnet, benannt nach dem Ökonom Vilfredo Pareto. Dieser entdeckte, dass der Grundbesitz in Italien so verteilt ist, dass 20 Prozent der Menschen 80 Prozent des Landes gehört. Wenn wir von moderner Kriegsführung und Massenvernichtungswaffen sprechen, ist ein 80:20 Verhältnis aber noch viel zu optimistisch angesetzt. Hier haben wir es wohl eher mit einem 99:1 Verhältnis zu tun: 1 Prozent der kriegerischen Auseinandersetzungen verursachen 99 Prozent der Fatalitäten.

Es mag sein, dass wir über die letzten 75 Jahre weniger Gewalt beobachtet haben. Aber solange wir nicht wissen, wie hoch die Gefahr der seltenen fatalen Ereignisse liegt, lässt sich aus diesem langen Frieden leider kein Trend ableiten. Crillio und Taleb schreiben dazu: „Es wäre, wie wenn man sagen würde, dass jemand ‚extrem tugendhaft ist, außer während der Schulschießerei, als er 30 Schüler tötete‘, oder dass Atomwaffen sehr sicher sind, da sie nur in einem kleinen Prozentsatz der Zeit töten.“ [2]

Mehr Wohlstand?

2018 setzte Pinker nach. Mit seinem Buch „Aufklärung Jetzt! Für Vernunft, Wissenschaft, Humanismus und Fortschritt“ argumentiert er nicht nur für einen Rückgang der Gewalt, sondern auch für einen Zuwachs an Wohlstand, Lebensqualität, Sicherheit, Demokratie, Gerechtigkeit und Gesundheit. Widmen wir uns zunächst dem ersten Punkt: dem Zuwachs an Wohlstand.

Pinker spricht dezidiert von einem Zuwachs an Wohlstand, und nicht von einer Abnahme der Armut. Dieser Unterschied im Framing ist entscheidend. Armut ist ein ziemlich gut definierter Begriff. Jeder kann sich vorstellen, was es heißt, arm zu sein: nicht genügend Essen und Krankenversorgung zu haben, Gewalt, sozialer Ausgrenzung oder Obdachlosigkeit ausgesetzt zu sein, kurz: existenzielle Grundbedürfnisse bleiben unbefriedigt.

Wohlstand hingegen... Ja, was genau ist eigentlich Wohlstand? Hier findet das Prinzip der via negativia Anwendung: Menschen wissen deutlich besser über das Bescheid, was sie nicht wollen als über das, was sie wollen. Menschen wissen vielleicht nicht, wie sie glücklich und zufrieden sein können, aber sie wissen, dass sie nicht arm sein wollen. Der Armut zu entkommen, läuft darauf hinaus, ein dutzend Grundbedürfnisse zu befriedigen.

Um Wohlstand zu erreichen, gibt es hingegen unendlich viele Möglichkeiten. Der eine fühlt sich wohlhabend, wenn er mittags faul in der Sonne liegen, abends mit Freunden lachen und Nachts mit reinem Gewissen schlafen kann. Eine andere fühlt sich wohlhabend, wenn sie durch ihren gut bezahlten Job Macht und Unabhängigkeit erlangt.

Wohlstand ist individuell und Armut ist universell. Vor diesem Hintergrund muss man Pinkers Framing betrachten. Denn Pinker tut so, als wäre Wohlstand ein universell definierter Zustand. Wenn er sagt, dass der Wohlstand weltweit exponentiell angestiegen sei, meint er das zusammengelegte Bruttoinlandsprodukt (BIP) aller Länder. Das BIP misst den Gesamtwert aller Güter, Waren und Dienstleistungen eines Landes und wird deshalb häufig als oberflächlich und materialistisch kritisiert. Doch Pinker lässt diesen Einwand nicht gelten, denn: Das BIP korreliere mit allen bekannten Indikatoren menschlichen Wohlergehens, allen voran: dem Glück. Erst Wohlstand, und dann auch noch das Glück... Der sonst so empirisch orientierte Pinker lässt sich auf weiche Begriffe ein.

Wie sieht es denn am konkreten Ende des Spektrums aus? Ist die weltweite Armut gesunken? Ja, sagt Pinker. Eine steigende Flut hebe alle Boote an. Er untermauert seinen Befund mit Statistiken, die auch von der Weltbank und der UN verbreitet werden. Die Anzahl der Menschen die unter der Armutsgrenze von 1,90$ pro Tag leben, ist auf einem historischen Tiefstand. Etwa 10 Prozent der Weltbevölkerung, 731 Millionen Menschen, leben heute unter dieser Grenze. Das ist sowohl in relativen als auch in absoluten Zahlen ein Tiefstand. Im Jahr 1820, dem Beginn der Messungen, befanden sich noch 94 Prozent aller Menschen unter der Armutsgrenze.

Wie der Statistiker Max Roser betont, sollten die Zeitungen überall auf der Welt mit der Schlagzeile beginnen: „Die Zahl der Menschen in extremer Armut ist seit gestern um 130.000 gesunken.“ Und diese Schlagzeile hätten die Zeitungen seit 1990 jeden Tag drucken können. Denn seit 30 Jahren leben täglich 130.000 Menschen weniger in Armut. Zu schön, um wahr zu sein? Ja, leider ist es das.

Der Anthropologe Jason Hickel ist der wohl lautstärkste Kritiker dieser Armutsstatistiken. Er gibt zu bedenken, dass die tatsächlichen Daten zur weltweiten Armut erst seit 1981 gesammelt werden. Alle was davor kam, ist mit äußerster Vorsicht zu behandeln und besitzt eigentlich keine Aussagekraft über die weltweite Armut. Das liegt daran, dass frühere Daten, die bis zum Jahr 1820 zurückgehen, überhaupt nicht die Armut erfassen. Die früheren Daten beziehen sich auf die Verteilung des weltweiten BIP, für eine begrenzte Anzahl an Ländern. Es ist schlicht unseriös, von diesen BIP Daten auf individuelle Armut zu schließen. Um es kurz zu fassen: Es gibt keine Daten zur Armut vor 1981.

Hickel betont zudem, dass die meisten Menschen vor der Kolonialisierung in Subsistenzökonomien lebten. In diesen Subsistenzökonomien wurden die lebensnotwendigen Güter wie Wasser, Land, Wälder und Vieh geteilt. Der meiste Teil des Lebens fand außerhalb des monetären Systems statt.

Im Laufe der Kolonialisierung wurden diese Subsistenzökonomien aufgelöst. Die Kolonisatoren enteigneten die lokale Bevölkerung und verdinglichten deren Allgemeingüter. 1820 lebten keinesfalls 94 Prozent aller Menschen in Armut. Die Menschen lebten lediglich außerhalb des monetären Systems. Der grausame Kolonialisierungsprozess und die Verdinglichung der Allgemeingüter bleibt verborgen, wenn man Armut in einfachen Geldbeträgen misst [3].

Und wie sieht es mit den Daten aus, die seit 1981 vorliegen? Tatsächlich kritisieren viele Wissenschaftler die offizielle Armutsgrenze von 1,90$ pro Tag als viel zu niedrig. Um eine Nahrungsversorgung mit den grundlegenden Nährstoffen sowie eine normale Lebenserwartung zu gewährleisten, seien mindestens 7,40$ pro Tag notwendig. Und selbst diese Grenze ist noch sehr konservativ. Der Wirtschaftswissenschaftler Lant Pritchett aus Harvard fordert beispielsweise eine Armutsgrenze zwischen 10 und 15$ pro Tag [4].

Setzen wir die Armutsgrenze also auf 10$ pro Tag, und schon schmilzt das Fortschrittsnarrativ dahin. Derzeit leben 65 Prozent aller Menschen von weniger als 10$ pro Tag. Das sind 4,7 Milliarden Menschen! Bei einer Armutsgrenze von 15$ pro Tag sind es 75 Prozent aller Menschen, oder 5,4 Milliarden Menschen, die in extremer Armut leben. Das muss man sich vor Augen halten: Von vier Menschen, leben weltweit drei in extremer Armut [5].

Wenn 75 Prozent aller Menschen nicht einmal ihre Grundbedürfnisse befriedigen können, ist das Fortschritt? Und kann man wirklich sagen, dass wir heute so reich wie nie zuvor sind, wenn „wir“ eine kleine Minderheit ist.

Die Fortschrittsapologeten führen ein weltweit wachsendes BIP als Indikator für steigenden Wohlstand an. Doch weder kann dieses eindimensionale Maß tatsächlichen Wohlstand messen, noch sagt es etwas über die Verteilung des Wohlstands aus.

Weniger Ungleichheit?

Wie steht es um die Verteilung des Wohlstands? Nicht allzu gut, würde man annehmen, wenn bis zu 75 Prozent aller Menschen in Armut leben. Doch findige Ökonomen würden sogleich dagegenhalten: Die armen Länder werden schneller reich als die reichen Länder noch reicher werden. Dieser Rückgang relativer Ungleichheit wird mit dem Gini-Index gemessen. Der Gini Index nimmt Werte zwischen 0 und 1 an, wobei ein Wert von 0 absolute Gleichheit darstellt (alle Personen besitzen gleich viel) und ein Wert von 1 absolute Ungleichheit darstellt (eine Person besitzt alles). Ein sinkender Gini-Index bedeutet also eine Abnahme der Ungleichheit.

Doch ganz so einfach ist es nicht.

In gewisser Weise spielt der Gini-Index mit dem intuitiven Laienverständnis von Ungleichheit. Wenn eine Ökonomin mit dem Verweis auf den Gini-Index behauptet, die Ungleichheit nehme ab, so evoziert sie die Vorstellung, die armen Länder (oder auch die armen Individuen) holen auf. In ein paar Jahrzehnten würden sie den gleichen Lebensstandard und den gleichen Reichtum wie die Industrieländer genießen können. Deshalb auch der Begriff „Entwicklungsländer“: Die armen Länder befänden sich noch in der Entwicklung, und diese Entwicklung sei irgendwann abgeschlossen.

Die Sache mit dem Gini-Index hat zwei Haken: Erstens misst der Gini-Index die Verteilung der Einkommen, und nicht die Verteilung der Vermögen. Und zweitens misst der Gini-Index nur die relative Ungleichheit zwischen den Einkommen.

Was heißt das nun konkret? Stellen wir uns folgende Situation vor: Amaniel aus Äthiopien bekommt ein Einkommen von 100€ pro Monat. Sarah aus Deutschland bekommt 20.000€ pro Monat. Nun gibt es eine Gehaltserhöhung. Amaniels Einkommen wächst um 50 Prozent auf 150€ pro Monat; und Sarahs Einkommen wächst um 10 Prozent auf 22.000€ pro Monat. Was sagt uns der Gini-Index nach dieser Gehaltserhöhung? Er sagt, dass die Ungleichheit gesunken ist! Schließlich ist Amaniels Einkommen um 50 Prozent gewachsen und Sarahs Einkommen nur um 10 Prozent .

Nur vergleicht man dabei lediglich die relativen Gehaltszuwächse. In Wahrheit hat die absolute Ungleichheit zwischen Amaniel und Sarah zugenommen. Sarahs Einkommen ist um 2000€ gestiegen und Amaniels Einkommen nur um 50€. Bezieht man jetzt noch das Vermögen von Sarah mit ein, wird klar, dass Amaniel ihr hoffnungslos unterlegen ist. Der Gini-Index mag gesunken sein. Doch für Amaniel ist die Möglichkeit einmal so reich wie Sarah zu sein, in weite Ferne gerückt.

Ähnlich wie zwischen Amaniel und Sarah, verhält es sich auch zwischen Entwicklungs- und Industrieländern. Man sollte sich nicht von den zugegeben beeindruckenden Wohlstandszuwächsen in China und Südostasien täuschen lassen. Die absolute Ungleichheit zwischen allen Ländern hat in den letzten Jahrzehnten dramatisch zugenommen!

Bessere Gesundheit?

Die durchschnittliche Lebenserwartung ist tatsächlich so hoch wie noch nie seit Beginn der Messungen (und wahrscheinlich sogar seit Beginn der Menschheit). Noch nie sind so wenig Kinder innerhalb der ersten Lebensjahre verstorben. Und noch nie war die Müttersterblichkeit so gering. Außerdem: Anders als beim Wohlstand nimmt die globale Ungleichheit für all diese Trends nicht zu, sondern ab! [6]

Müssen wir all die anderen negativen Entwicklungen auf der Welt also nicht vielleicht als kleineres Übel hinnehmen? Schließlich beschert uns doch das gleiche System bei der Gesundheit solche Erfolge.

Diese Art von Argumentationen sind typisch für Fortschrittsapologeten à la Pinker. Ursache und Wirkung werden beliebig durcheinander gewürfelt. Mal liegen die Ursachen des Fortschritts in den Idealen der Aufklärung: Vernunft, Wissenschaft und Humanismus. Mal sind die Ursachen im neoliberalen Einmaleins zu finden: deregulierte Märkte, Globalisierung und Wirtschaftswachstum. Am Ende entsteht ein großes Ursache-Knäuel, das als Erklärung für den Fortschritt herhalten muss.

Wir leben tatsächlich so gesund und lange wie nie zuvor. Das Problem an dem Fortschritt ist also nicht, dass es nirgendwo Fortschritt gäbe. Das Problem an dem Fortschritt ist, dass es DEN Fortschritt nicht gibt. Es gibt keinen einheitlichen Trend nach oben, den man erblicken könnte, egal wohin man schaut. Wenn man nach dem Fortschritt sucht, wird man Ursache und Wirkung durcheinanderbringen. Man wird sich vieles zurechtbiegen und noch mehr vermischen müssen. Die Aufklärung ist ja schön und gut, aber deregulierte Märkte, Globalisierung und Wirtschaftswachstum haben damit erst einmal wenig gemein. Doch genau all diese Dinge muss man vermischen und irgendwie zusammenbringen, um den einen Fortschritt zu erklären. Denn der eine Fortschritt braucht die eine Ursache.

Auch gibt es den einen Fortschritt nicht, weil sich viele Entwicklungen gegenseitig im Weg stehen. Ja, der absolute materielle Wohlstand wächst, aber das, gerade weil die Ungleichheit zunimmt. Ja, der materielle Wohlstand wächst, aber auf Kosten der Umwelt und zukünftiger Generationen. Dass eine Entwicklung gegen eine andere arbeitet, wird überhaupt nicht in Betracht gezogen, wenn man von dem Fortschritt spricht.

Nieder mit dem Fortschrittsparadigma

Es gibt nicht den einen Fortschritt. Diejenigen, die das Gegenteil behaupten, tun das aus gutem Grund. Sie haben passend zu dem einen Fortschritt auch die eine Ursache parat. Meist kommt diese Ursache als globalisierter, liberalisierter und technokratischer Kapitalismus daher. Doch die tatsächlichen Fortschritte (wie beispielsweise Fortschritte in der Gesundheit) wurden nicht wegen, sondern trotz eines solch zügellosem Kapitalismus erreicht. Viele weitere Fortschritte entpuppen sich als haltlos, wenn man sie genauer unter die Lupe nimmt, und ihre Nebenwirkungen studiert.

Die Welt ist nicht friedlicher, reicher und egalitärer geworden; zumindest nicht die Welt als Ganzes (und warum sollte man über irgendetwas anderes sprechen?). Das sind schlechte Nachrichten. Es ist nicht so, dass ein paar Sachen schlecht laufen, es im Großen und Ganzen aber bergauf geht. Nein. Tatsächlich laufen ein paar Sachen gut, während wir uns im Großen und Ganzen auf Talfahrt befinden.

Die vielbeschworenen Treiber des Fortschritts – Globalisierung, technischer Fortschritt, Wirtschaftswachstum – sie lassen uns im Stich und müssen grundlegend neu gedacht werden.

Fortschritt gibt es. Aber nicht den Einen. Und dem einen Fortschritt nachzujagen, ist wie mit verbunden Augen bergauf zu stolpern, nicht zu sehen, was man alles platt tritt; nicht zu ahnen, wo der Abgrund lauert.

[1] B. Lee, Richard. „Hunter-Gatherers on the Best-Seller List: Steven Pinker and the “Bellicose School’s” Treatment of Forager Violence“. Herausgegeben von Kirk Endicott. Journal of Aggression, Conflict and Peace Research 6, Nr. 4 (7. Oktober 2014): 216–28. https://doi.org/10.1108/JACPR-04-2014-0116.

[2] Cirillo, Pasquale, und Nassim Nicholas Taleb. „The Decline of Violent Conflicts: What Do the Data Really Say?“ SSRN Electronic Journal, 2016. https://doi.org/10.2139/ssrn.2876315.

[3] https://www.theguardian.com/commentisfree/2019/jan/29/bill-gates-davos-global-poverty-infographic-neoliberal

[4] https://www.cgdev.org/blog/world-bank-progresses-poverty-lines

[5] http://iresearch.worldbank.org/PovcalNet/povDuplicateWB.aspx

[6] https://ourworldindata.org/health-meta

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Max Pieper

Geschichten über den Fortschritt und uns.

Max Pieper

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