Die Suche nach Bildern

Technikphilosophie Über Werner Herzog und warum wir in einer Welt voller Technik ganz dringend adäquate Bilder brauchen.

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So wie sie auf den Straßen laufen und in ihren Metallkisten fahren, zwischen Neonreklamen, Beton und Asphalt sind sie Besucher in einer Stadt der Maschinen
So wie sie auf den Straßen laufen und in ihren Metallkisten fahren, zwischen Neonreklamen, Beton und Asphalt sind sie Besucher in einer Stadt der Maschinen

Foto: Martin Bureau/AFP via Getty Images

Es ist ein grauer Tag in Tokio. Zeitlich befinden wir uns irgendwann in den 80ern. Der Ausblick vom Tokyo Tower hinunter auf das Großstadtrauschen reicht soweit es der Nebel erlaubt. Beton weit und breit und sonst nichts. Ein Mann im Anzug und mit dickem Schnauzer im Gesicht spricht in die Kamera: „Es ist ganz einfach so, dass es Bilder nur noch wenig gibt. Wir brauchen ganz unbedingt Bilder, die mit unserem Zivilisationsstand und unserem Allerinnersten übereinstimmen. Ich würde mich nie beklagen, [...] dass man 8000 Meter hoch auf einen Berg steigen muss, um noch Bilder zu bekommen, die rein und klar und durchsichtig sind.“ [1] Der Mann im Anzug hört auf den Namen Werner Herzog. Seine Stimme klingt überraschend hell und hat noch nicht diese gewohnt düstere, Mark-und-Bein-durchdringende Qualität. Sein Anliegen allerdings ist keinen Tag gealtert. Man findet es in jedem seiner Filme; die Suche nach Bildern welche einen direkt und unmissverständlich ansprechen, die man nicht artikulieren kann, nicht artikulieren muss, weil sie so tiefsitzende Träume, Hoffnungen, Ängste und Wünsche der Menschen darstellen, dass Sprache ihnen nicht gerecht werden würde. Die Nahaufnahme eines reißenden Flusses, die brennenden Ölfelder von Kuwait, ein Schiff auf einem Berg, einsam im Wind tanzende Gräser oder das schimmernde Blau des Sonnenlichts, wie es durch die Eisdecke der Antarktis fällt. Doch was meint der Filmemacher wirklich damit, wenn er den Mangel adäquater Bilder mit globalen Gefahren wie der Überbevölkerung und dem Klimawandel gleichsetzt? Es zeigt sich, dass die Suche nach adäquaten Bildern eine essentielle Herausforderung in unserer hochtechnisierten Welt darstellt.

Schauen Sie aus dem Fenster. Was sehen Sie? Womöglich leben Sie in der Stadt und blicken auf eine Häuserfassade, einen Bürokomplex, einen Supermarkt, Autos, Busse und Züge. Aber auch in der Kleinstadt oder auf dem Dorf wird das Panorama einer unberührten Natur eher die Ausnahme darstellen. Überall finden wir Konstruktionen, Maschinen und Infrastruktur, alle Resultat einer sich immer weiter beschleunigenden technischen Entwicklung. Es ist die Technik, die unsere Wahrnehmung der Umwelt aber auch die Umwelt selbst in nie zuvor bekanntem Ausmaß verändert hat. Das hier ist keine platte Kritik daran, dass Technik unseren „natürlichen“ Lebensraum zerstört. Denn ja, es ist die Technik, die urvertraute Bilder zerstört. Aber es ist auch die Technik, die an dieser Stelle neue Bilder schafft. Manche davon nutzlos und hässlich, andere aber nützlich und schön. Schauen wir uns diese also genauer an.

Wie wir uns sehen

Wie fühlen Sie sich? Sind Sie erschöpft? Sind Ihre Batterien leer, Ihre Festplatte voll? Oder sind Sie wach; stehen unter Strom? Dass Technik unsere Umwelt verändert, ist für niemanden etwas Neues. Auch, dass wir die Umwelt anders wahrnehmen, wenn wir sie durch unsere Displays betrachten, ist uns bewusst. Was sich jedoch ganz schleichend und unbemerkt durch die Technik verschoben hat, ist unser Selbstbild. Die Art und Weise, wie wir uns selbst sehen und verstehen. Jeder weiß, was gemeint ist, wenn man erklärt, dass die eigenen Batterien leer und die Festplatte voll ist. Doch ein Mensch aus dem 18. Jahrhundert würde einen nur verdutzt anschauen. Denn er kennt weder Batterie oder Festplatte, noch versteht er, was das mit der Müdigkeit und Aufnahmefähigkeit eines Menschen zu tun haben sollte. Es liegt also auf der Hand, dass sich unsere Selbstwahrnehmung verändert hat, und dass diese Veränderung mit dem enormen technischen Fortschritt der letzten 200 Jahre zusammenhängt. Dass wir unser hochkomplexes Innenleben analog zu simpleren Phänomenen erklären, ist keine neue Erscheinung. Unsere Sprache ist reich an solchen Analogien. Man denke an den Gedankenblitz. Es kommt einem schlagartig eine Idee, kreative Energie wird freigesetzt und zuvor Unbekanntes tritt zum Vorschein. All das versteckt sich hinter einer einfachen Analogie zu einem Wetterphänomen, bei dem elektrische Energie freigesetzt wird und die dunkle Nacht für einen Augenblick in grellem Licht erscheint. Man brennt für etwas, man strahlt wie die Sonne, man schaut düster drein oder verhält sich eiskalt; um nur bei Wetter-Analogien zu bleiben. Auch im Bereich der Tier-, Pflanzen-, Form- und Farbwelt lässt sich eine überwältigende Vielzahl solcher Analogien finden. Doch diese natürlichen Gegebenheiten haben sich seit Anbeginn der Menschheit praktisch nicht verändert. Anders die Technik: Die Konfrontation mit ständig neuen technischen Artefakten öffnet uns die Türen zu einem nie dagewesenen Reichtum an Analogien und an Bildern mittels derer wir uns selbst in einem gänzlich neuen Licht betrachten können.

Der Technikphilosoph Ernst Kapp beschreibt dieses Phänomen als Organprojektion [2]. Das Argument lautet wie folgt: Der Mensch entwickelt technische Artefakte um seinen Aktionsradius in der Welt zu vergrößern. Demnach sind die entwickelten Artefakte zwangsläufig eine Erweiterung des körperlichen Aktionsradius. Technik imitiert und erweitert also (nicht immer, aber in vielen Fällen) die Funktionen von Gliedmaßen und Organen. Die Schaufel ist beispielsweise der gekrümmten Hand nachempfunden. Die Kamera mimt und erweitert die Funktion des menschlichen Auges, und sogar eine Erfindung wie die Dampfmaschine lässt sich in Analogie zum menschlichen Körper verstehen. Ähnlich wie unser Verdauungssystem Kalorien verbrennt, verbrennt die Dampfmaschine Kohle zur Energieproduktion. Ein brandaktuelles Beispiel ist zudem die Entwicklung von Deep Learning Algorithmen, bei der die neuronale Netzstruktur unseres Gehirns als Vorbild dient.

Wenn wir technische Artefakte in Analogie zu unserem Körper bauen, dann können uns diese Artefakte im Umkehrschluss auch etwas über uns sagen. Wir betrachten solche Artefakte und erkennen in ihnen einen modellhaften Aufbau unserer Organe. Da wäre beispielsweise die „Linse“, die zugleich zentrales Element einer Kamera und eines Auges ist. Erst durch die Entwicklung der Kamera, konnten wir den Aufbau des menschlichen Auges verstehen; konnten ableiten, dass die Oberfläche unserer Augen einer Kameralinse gleicht, welche die einfallenden Lichtstrahlen auf einen Punkt bündelt. Erst durch mechanische Elemente wie Schrauben, Bänder, Röhren, Klappen, Ventile oder Pumpen konnten wir die menschliche Anatomie konzeptualisieren. Und erst die Programmierung neuronaler Netze und künstlicher Intelligenz ermöglicht uns eine neue Perspektive auf die Funktionsweise unseres Gehirns.

Wie wir die Welt sehen

Betrachten Sie das Gerät, auf dem Sie diesen Text lesen. Erkennen Sie sich in ihm wieder? Ist da mehr als nur die dunkle Reflektion ihres Angesichts? Da ist Metall, Plastik und Glas, alles mit einer unvorstellbaren Präzision verarbeitet. Alle Bilder dieser Welt – Filme, Fotos, Videospiele – befinden sich in unmittelbarer Reichweite. Doch das Gerät selber? Es bleibt ein kühler Block Technik, der uns wenig zu sagen hat, trotz Organprojektion. Sicherlich, die Mechanik der Festplatte, Batterie und Kamera ähneln der Mechanik unseres eigenen Körpers. Doch wir verstehen uns in erster Linie eben nicht als mechanisches Wesen, sondern als soziales. Und als solche betrachten wir Technik primär als das Produkt eines sozialen Zusammenspiels, anstatt uns an irgendeiner Mechanik zu ergötzen. Wir erfreuen uns an den Dingen, bei denen das menschliche Handwerk, der menschliche Schaffungsprozess sichtbar ist. Moderne Technik drängt den Menschen jedoch aus dem Schaffungsprozess heraus, da Arbeitsschritte zunehmend automatisiert werden. So wird die Technik schöpferlos, ein Produkt ihrer selbst [3]. Hier ein Beispiel: Wenn wir ein Fachwerkhaus sehen, dann sehen wir (bewusst oder unbewusst) die Handwerker, die die Holzbalken in ihre richtige Position brachten, und sehen die kleinen Fehler, die kleinen Eigenheiten, den Menschen als Teil des Schaffungsprozesses vor uns. Ganz anders das Bild eines Hochhauses: polierte Glasfassaden und perfekte Oberflächen. Welche Rolle der Mensch bei ihrer Schaffung gespielt hat, ist hinter all der Maschinerie und den hochtechnisierten Wertschöpfungs- und Arbeitsketten fast nicht zu erahnen. Um mit Hartmut Rosa zu sprechen: Wir treten mit unserer Umwelt nicht länger in Resonanz, sie lässt uns kalt und bleibt leblos.

***

Zurück nach Tokio. Zwischen all den Hochhäusern wirken die Menschen wie Fremdkörper. So wie sie auf den Straßen laufen und in ihren Metallkisten fahren, zwischen Neonreklamen, Beton und Asphalt sind sie Besucher in einer Stadt der Maschinen. Von weit oben blickt Werner Herzog auf dieses Schauspiel, als er den Mangel an adäquaten Bildern beklagt. Das war vor etwa 40 Jahren. Wie weit müssen wir in der Zeit zurückreisen um an diesem Fleck Erde eine „natürliche“ Umwelt zu finden? Die Frage ist hinfällig, denn weder können wir die Zeit zurückdrehen, noch würden wir das wollen. Man neigt dazu, das Natürliche und Ursprüngliche zu idealisieren und vergisst sogleich die vielen Annehmlichkeiten und Errungenschaften unser modernen Welt. Für all diese Errungenschaften nehmen wir es in Kauf, unsere Welt mit fremden Dingen zu füllen. Doch in einer fremden Welt läuft man Gefahr sich selbst fremd zu werden, die innersten Träume, Hoffnungen, Ängste und Wünsche nicht zu kennen; sich selbst als mechanisch zu verstehen; als Maschine mit maschinellen Bedürfnissen. Wenn wir uns eine Umwelt ohne adäquate Bilder schaffen, verlieren wir unsere Reflexionsfähigkeit und sind blind. Blind für das Lebenswerte, für das was uns erfüllt, das wodurch wir uns lebendig fühlen. Dann werden wir, in den Worten Herzogs, „aussterben wie die Dinosaurier, wenn wir keine adäquaten Bilder entwickeln“. Wir mögen überrumpelt sein von der neuen Umwelt, die wir in atemberaubenden Tempo um uns herum errichtet haben, und die so wenig dem gleicht was uns für über 200.000 Jahre vertraut vorkam. Wir müssen Bilder finden, die unserem zivilisatorischen Stand entsprechen und die uns in dieser neuen Welt verorten. Bilder von Aussteigern wie Timothy Treadwell in „Grizzly Man“ oder den Wissenschaftlern der Antarktis in „Begegnungen am Ende der Welt“, Bilder von twitternden Mönchen wie in „Wovon träumt das Internet?“, Bilder von Weltfremden wie Kaspar Hauser in „Jeder für sich und Gott gegen alle“ und Bilder von Größenwahnsinnigen wie in „Fitzcarraldo“. Adäquate Bilder existieren also, Werner Herzog ist der Beweis dafür.

[1] Ausschnitt aus der Dokumentation "Tokyo-Ga" (1985) von Wim Wenders. https://www.youtube.com/watch?v=9imbypSKgjg

[2] Kapp, Ernst. Grundlinien einer Philosophie der Technik. Hamburg: Meiner, 2015.

Es sei angemerkt, dass die Theorie der Organprojektion zurecht vielerlei Kritik erfahren hat. Der Text stammt aus dem Jahr 1877 und die von Kapp behauptete Analogie zwischen menschlichem Körper und Technik hebt sich bei vielen modernen technischen Artefakten, wie Flugzeugen, Solaranlagen oder Atombomben weitestgehend auf. Ich denke, dass die Theorie unter Annerkennung dieser Einschränkung nichtsdestotrotz einen wichtigen Beitrag zum Verständnis der Beziehung zwischen Mensch und Technik darstellt.

[3] vgl. Cassirer, Ernst. „Form und Technik“. In Symbol, Technik, Sprache. Aufsätze aus den Jahren 1927-1933. Hamburg: Felix Meiner, 1985.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Max Pieper

Geschichten über den Fortschritt und uns.

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