Du hast zu viele Meinungen!

Unwissen Ständig tauschen wir Meinungen aus. Dabei haben wir doch meistens keine Ahnung. Was ist die Alternative?

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Du hast zu viele Meinungen!

Foto: Jorge Guerrero/AFP/Getty Images

We do not talk - we bludgeon one another with facts and theories gleaned from cursory readings of newspapers, magazines and digests.

Henry Miller

Ich habe keine Ahnung, was ich hier tue. Ich bin kein Experte, kein Meinungsforscher und vielleicht auch die falsche Person um diesen Artikel zu schreiben. Ich habe keine Antworten. Und der, der sagt, er hätte welche, lügt wahrscheinlich. Täglich liest man über Theorien, Fakten, Nachrichten von Experten, Wissenschaftlern und irgendwelchen ausgebildeten Journalisten. Um etwas dazuzulernen, sich eine Meinung zu bilden oder zumindest um sich seiner eigenen Meinung zu vergewissern. Denn Meinungen sind wichtig. So wird es einem gesagt. Dieser Text handelt aber gar nicht von Antworten oder Meinungen. Es geht um das genaue Gegenteil. Um das Nicht-Verstehen, die Unkenntnis, das Nicht-Bescheid-Wissens. Und vor allem darum, wie gut es sich mit weniger Meinungen lebt.

Doch wo fängt man an, wenn es um das geht, wovon man keine Ahnung hat? Bei Donald Rumsfeld.

Das unbekannte Unwissen

Auch wenn es auf den ersten Blick nicht den Anschein macht: Das, was man nicht weiß, kann durchaus aufschlussreich sein. Inwiefern?

Der ehemalige US-amerikanische Verteidigungsminister Donald Rumsfeld prägte einst die Begriffe der „known knowns“, „known unknowns“ und „unknown unknowns“. „Known knowns“ sind bekanntes Wissen, Dinge von denen man weiß, dass man sie weiß. Ich weiß wie ich heiße, wann und wo ich geboren bin. Folglich muss es auch „known unknowns“ geben, bekanntes Unwissen, Dinge von denen man weiß, dass man sie nicht weiß. Wenn ich einer wildfremden Person über den Weg laufe, weiß ich nichts über diesen Menschen. Ich weiß, dass ich weder ihren Namen, noch ihren Geburtstag, Geburtsort, Lieblingsfarbe, Haustier oder Lieblings-US-Außenminister kenne. Ziemlich trivial. Entweder weiß man etwas, oder man weiß es nicht. Doch das ist noch lange nicht alles. Der entscheidende Punkt ist, dass sowohl das bekannte Wissen als auch das bekannte Unwissen eines eint: Es ist einem bekannt.

Die unbequeme Wahrheit ist, dass Wissen und Unwissen einem allzu häufig unbekannt sind. „Unkown unknowns“ ist demnach das unbekannte Unwissen. Es umfasst all die Dinge, bei denen man nicht einmal weiß, dass man sie nicht weiß. Ich habe die wildfremde Person zuvor in spezifischen Kategorien wahrgenommen: Name, Geburtstag, Geburtsort, Lieblingsfarbe und so weiter. So nimmt mein Unwissen eine spezifische Form an und ich weiß genau, was ich nicht über diese Person weiß. So kann ich schließlich fragen: Wie heißt du? Wann bist du geboren? Was hältst du von Donald Rumsfeld? Aber das aller meiste, dass es über diese Person zu wissen gibt, findet außerhalb dieser wenigen Kategorien statt. Beispielsweise würde ich wohl erst nach einem langen Gespräch und vielen Folgefragen erfahren, dass die Person sich seit Jahren um ihren schwerkranken Bruder kümmert, bereits einem Haiangriff entkommen und vor 5 Jahren Angela Merkel im Supermarkt begegnet ist. Doch bis dahin weiß ich das nicht. Und: ich weiß nicht, dass ich es nicht weiß. Genau das ist unbekanntes Unwissen.

Das eigene Unwissen lässt sich also unterscheiden: in das bekannte Unwissen und das unbekannte Unwissen. Aber ist nicht am Ende egal, ob ich wissentlich oder unwissentlich etwas nicht weiß? Ganz und gar nicht. Denn es geht um eine akkurate Einschätzung von sich selber, von anderen, von politischen und gesellschaftlichen Fragen. Wenn ich weiß, etwas nicht zu wissen, ist das aufschlussreich. Ich kann mein Handeln daran anpassen, weiß wozu ich fähig bin und wozu nicht, weiß wo meine Meinung zählt und wo nicht. All das gilt nicht für das „unbekannte Unwissen“. Es ist nämlich nicht handlungsweisend. Es führt dazu, dass ich mich selbst und andere falsch einschätze. Es führt zu einer falschen Selbstsicherheit. Wenn man nicht weiß, was es noch zu wissen gibt, welche Rätsel noch ungelöst sind, was noch nie geschafft, gedacht, gemacht wurde, hat man keine Fragen mehr an die Welt. Sie wird uninteressant.

Wir lieben Meinungen

Meinungen zu haben, bedeutet über sein bekanntes Wissen (und sich daraus ergebene Schlussfolgerungen) zu reden anstatt über sein bekanntes Unwissen. Heute drängt dich alles und jeder dazu, eine eigene Meinung zu haben. Über möglichst jedes politische Thema, jeden Kinofilm, jede Netflix-Serie, jeden Trend und jede Person solltest du eine Meinung haben. Positioniere dich zu dem tagesaktuellen Geschehen! Beim Abendessen mit der Familie, auf Facebook, Instagram, Twitter, beim Feierabendbier oder Grillabend. Denn das ist es, was du bist: ein Haufen Meinungen. Je mehr desto besser, interessanter, kantiger und mutiger. Du musst wissen, was du weißt, der Rest scheint erstmal egal.

Klingt übertrieben? Hier ein kleiner Test: Sage bei einem kontroversen Thema ehrlich und aufrichtig, dass du keine Meinung hast, dass du etwas nicht weißt. „Ich weiß nicht, wie man mit der Immigration, Abtreibung oder Transsexualität umgehen sollte, wie das Steuersystem zu gestalten sei“ und so weiter und so fort. Dir wird eine Welle der Entrüstung entgegenkommen. Warum ist das so kontrovers, eine neutrale Haltung einzunehmen. Warum ist das so kontrovers, zu wissen, dass man etwas nicht weiß? Es scheint, als seien Meinungen das Accessoire des 21. Jahrhunderts. Und sie nicht zu tragen, gehört sich nicht. Warum?

Die Welt ist komplizierter denn je und doch tun alle so als würden sie verstehen. Niemals zuvor gab es so viele Experten, Berater, evidenzbasierte Entscheidungsfinder, Coaches, Podcasts und Blogger. Alle beziehen sie Stellung. Und natürlich machst du auch mit. Aus Angst davor, inkompetent, ignorant, unmoralisch und dumm zu wirken.

Was könnte verkehrt daran sein? Was ist verkehrt an einer Welt, die nach kompetenten, aufmerksamen, moralischen und klugen Menschen verlangt? Nach Menschen mit Meinungen. Eine Antwort darauf findet man in der Raumfahrt.

Weltraummüll

Der erste Satellit wurde im Jahr 1957 von der Sowjetunion ins All geschossen. Seitdem sind 20.000 weitere gefolgt. Die Anzahl wird in Zukunft exponentiell steigen, sich in wenigen Jahren sogar verdreifachen. Denn das Raumfahrtunternehmen SpaceX plant ein riesiges Projekt mit dem Namen SkyNet. Gut 40.000 Satelliten sollen in den Orbit gebracht werden. Ein globaler satellitenbasierter Internetzugang soll so geschaffen werden.

Doch was passiert mit einem Satelliten, wenn er ausgedient hat? Wenn seine Umlaufbahn groß genug ist, wird er nicht in der Atmosphäre verglühen. Er wird auch nicht auf einem galaktischen Wertstoffhof entsorgt. Nein, er umkreist einfach weiter die Erde. Ein Klumpen wertloser Technologie. Irgendwann trifft dieser Klumpen unweigerlich auf einen ähnlichen Klumpen und beide zerbersten in viele tausend kleinere Klumpen. Diese tausend kleine Klumpen begeben sich schließlich ihrerseits auf Kollisionskurs. Wieder neue Klumpen entstehen, und so weiter und so fort. Durch diesen kaskadenartigen Prozess ist der Weltraummüll zu einem (Achtung) astronomischen Problem geworden. Selbst das kleinste Stückchen Weltraummüll kann verheerende Auswirkungen haben. Durch die extrem hohen Geschwindigkeiten besitzt bereits 1g Masse bereits soviel Sprengkraft wie 12g TNT.

Voraussichtlich wird das Problem nur noch größer werden. Eine Entsorgungstechnologie gibt es derzeit nicht. Als Konsequenz müssen wohl irgendwann ganze Umlaufbahnen aufgegeben werden. Raketenstarts könnten ernsthaft behindert, vielleicht sogar unmöglich werden. Ironischerweise auch die von SpaceX.

Entsorge deinen Müll

Was hat das mit Meinungen zu tun? Der Mensch schickt tausende Satelliten ins All: Kommunikationssatelliten, Ortungssatelliten oder Weltraumteleskope. Mit der Zeit wissen wir immer besser, wie man einen Satelliten baut. Und wir schicken sie nach oben zu all den alten Satelliten, deren Technik mittlerweile ausgedient hat und veraltet ist. Doch fehlt ein Mechanismus um das Alte auszusortieren, kehren sich die ursprünglichen Ziele in ihr Gegenteil um.

Die Satelliten werden sich zunehmend selbst behindern, müssen sich ständig gegenseitig ausweichen um am Ende doch miteinander zu kollidieren. Ab einem bestimmten Punkt führen mehr Satelliten nicht zu einem mehr an Kommunikation, Ortung oder Weltraumforschung. Nein, ab einem bestimmten Punkt macht ein mehr an Satelliten gerade das unmöglich.

Gilt nicht das gleiche für Meinungen? Ein jeder ist sein eigener Planet. Umkreist von Meinungen, Fakten und Theorien, die man sich hier und da zurechtgelegt hat. Und wie bei den Satelliten, führt ein „zu viel“ dieser Meinungen, Fakten und Theorien dazu, dass man die Welt nicht besser, sondern schlechter versteht. Jede zusätzliche Meinung im eigenen Orbit wird im Widerspruch stehen und kollidieren mit all den anderen Meinungen, die man unfähig ist, loszuwerden. Wenn man nicht in der Lage ist, seinen eigenen Müll aus dem Orbit zu entsorgen, versperrt dieser Müll den Blick auf seinen eigenen und alle anderen Planeten. Keine gute Unterhaltung, keine Einsicht oder Erkenntnis über sich und die Welt ist so möglich.

Die Lösung: „Ich weiß es nicht“

Wie löst man also sein eigenes Müllproblem?

Man löst es nicht wenn man das Thema wechselt, sobald es ungemütlich wird, wenn man nur redet aber nie Fragen stellt, wenn man schweigt statt nachzuhaken. Man löst das Problem auch nicht indem man sein eigenes Unvermögen verheimlicht, verneint und ignoriert. Stattdessen sucht man nach dem, was man nicht weiß. Man macht sein unbekanntes Unwissen zu bekanntem Unwissen und vielleicht sogar zu bekanntem Wissen. Am Anfang steht ein bescheidenes und aufrichtiges „Ich weiß es nicht“.

Tatsächlich zeigt ein Blick in die Vergangenheit, dass hinter jeder großen Erfindung, jedem Kunstwerk, jedem sozialen Fortschritt und jedem wissenschaftlichen Durchbruch eine Person steht, die sagt: „Ich weiß es nicht.“

Die Entdeckung des Penicillins verdanken wir einem „Ich weiß es nicht“. Am 3. September 1928 kehrte Alexander Fleming nach einem Urlaub in sein Labor zurück. Er hatte es ziemlich unordentlich hinterlassen, das Fenster hatte offen gestanden und auf einer seiner Bakterienkulturen hatte sich ein Schimmelpilz festgesetzt. Flemings revolutionäre Entdeckung konnte sich nur ereignen, weil Fleming sich eingestand, dass er nicht wusste, was sich da für ein Pilz auf seiner Petrischale gebildet hatte. Er hätte es auch einfach abtun können als eine unerwünschte Verunreinigung seiner Probe. Nur weil Fleming sich sein Unwissen eingestand, entdeckte er, dass es sich um den wohl wertvollsten „Schimmel“ der Welt handelte.

Die größten Werke der Kunst verdanken wir einem „Ich weiß es nicht“. Die Bilder von Picasso, Edward Munch, Francis Bacon oder Van Gogh faszinieren deshalb, weil wir sie nie ganz begreifen können. Wir wissen nicht, was Picassos Figuren so entstellt hat, warum Munchs Figuren schreien, was sich hinter den schwarzen Tiefen von Bacon versteckt, und warum Van Goghs Landschaften so psychedelisch wirken. Das gleiche gilt natürlich auch für jede andere Kunstform. Der Film, der einen noch Wochen später beschäftigt, ist immer der, den man nicht ganz verstanden hat.

Soziale Fortschritte wie die breite gesellschaftliche Akzeptanz der Homosexualität verdanken wir einem „Ich weiß es nicht“. Die öffentliche Ächtung der Homosexualität konnte nur ein Ende finden, indem man sich eingestand, dass man keine Ahnung hatte, wie es sich anfühlte die sexuelle Ausrichtung des Anderen zu haben. Und dass man sich deshalb als Heterosexueller womöglich in keiner Position befindet, über das Liebesleben Homosexueller zu urteilen.

Die größten Durchbrüche in der Wissenschaft verdanken wir einem „Ich weiß es nicht“. Isaac Newton konnte seine Gravitationsgesetze nur formulieren, indem er sich eingestand, dass er keine Ahnung hatte, warum der Apfel so vom Baum fällt, wie er es tut. Ein anderer hätte es als triviales Ereignis abgetan, dass ein Apfel vom Baum fällt. Doch indem Newton sich bewusst machte, dass er diesen Vorgang nicht verstand, konnte er wissenschaftliche Höchstleistungen erbringen.

Das sind nur ein paar wahllose Beispiele. Doch sie zeigen eins: Es steckt verdammt viel Kraft dahinter, sich sein eigenes Unvermögen einzugestehen.

Natürlich solltest du Meinungen haben und Stellung zu beziehen. Wer könnte das ernsthaft verneinen? Doch diese Meinungen sind nichts wert, wenn sie nicht von einem Ort des Unwissens herrühren. Wenn vor einer Meinung kein „Ich weiß es nicht“ stand, keine aufrichtige Neugierde dann macht das eine Meinung selbstgerecht und ideologisch, aber sicher nicht wertvoll. Ja, es gibt eine Menge Dinge zu wissen. Und man braucht nicht schüchtern zu sein, auszusprechen was man weiß. Doch das Leben ist kurz und das Unbekannte immer größer als das Bekannte. Machen wir uns nichts vor.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Max Pieper

Geschichten über den Fortschritt und uns.

Max Pieper

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