Here we are now, in containers

Gesellschaft Was eine feministische Neuinterpretation der Menschheitsgeschichte mit den Krisen der Gegenwart zu tun hat

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Ohne Container ist unsere moderne Gesellschaft nicht denkbar
Ohne Container ist unsere moderne Gesellschaft nicht denkbar

Foto: STR/AFP via Getty Images

Manchmal gibt es diese Songzeilen, die man sein Leben lang falsch versteht. Wenn man erfährt, wie sie richtig lauten, ist man ein bisschen enttäuscht, weil man sich seine eigene Logik für die falsch-verstandene Zeile gebastelt hat, und die tatsächliche Zeile damit nicht mithalten kann.

„With the lights out, it’s less dangerous

Here we are now, entertain us.”

Nirvana, Nihilismus und die Langeweile der Neunziger – das Jahrzehnt dazwischen. Der Kalte Krieg ist vorbei, das Ende der Geschichte eingeläutet. Von jetzt an würde es immer so weiter gehen. Vielleicht ein bisschen mehr Komfort hier und da; ein elektrischer Rasenmäher für das perfekte Vorgarten-Grün der alpinweißen Doppelhaushälfte, vielleicht ein zweites Auto ansonsten alles wie gehabt: Here we are now, entertain us.

In Freud’scher Deutung könnte man in den falsch verstandenen Lyrics das kollektive Unbewusste vermuten – die Ahnung, dass vielleicht doch nicht alles so weitergehen würde, dass es da Schranken geben könnte für den zur leeren Hülle verkommenen Wunsch nach Entertainment, Schranken für das stetige Wachstum unserer materiellen Bedürfnisse, Schranken für die Privatisierung öffentlicher Infrastruktur, Schranken für die steigende Vermögens- und Einkommensungleichheit, Schranken für das Zusammenwachsen der Länder dieser Welt zu einem globalen Dorf. Es war wohl was dran: Here we are now, in containers.

Die Tragetaschentheorie der Evolution

1979 plädiert die Feministin Elizabeth Fisher für eine radikale Neuinterpretation der Wiege der Menschheit [1]. Die „Tragetaschentheorie der Evolution“ bricht mit der Erzählung, der Mensch unterscheide sich vom Tier durch seinen Werkzeuggebrauch. Steine, Stöcke, Pfeile, Bögen, Hämmer und Äxte würde einzig der Mensch verwenden. Fisher kritisiert diese Erzählung als eine durch und durch männliche. Der archetypisch männliche Jäger mit seinen phallusförmigen Werkzeugen stehe stellvertretend für den Mensch als solchen. Doch welche Rolle kommt der Frau zu?

Container sind nicht nur die Metallgebilde auf den Frachtern dieser Weltmeere. In einem grundsätzlichen Sinne sind mit dem Begriff „Container“ alle umschließenden, eingrenzenden, zusammenhaltenden Strukturen gemeint. Container können Container im direkt materiellen Sinne sein – wie beispielsweise Tragetaschen, Schüsseln, Netze, Dosen, Flaschen, Häuser, Straßen, Schienen oder Städte. Container können aber auch Container im Sinne sozialer Strukturen sein, also politische Institutionen, Gesetze oder Konventionen. Auch die Natur kann in vielerlei Hinsicht als Container verstanden werden: Meere, Wälder, Wiesen, Moore oder Berge stellen bestimmte eingrenzende Lebensräume für verschiedenste Tierarten dar. Rein definitorisch meint Natur als Umwelt ja genau diesen Container-Charakter. Natur als Umwelt ist all das nicht-menschliche, das uns umschließt und die Bedingungen für unser Überleben darstellt.

Natürlich spielt die Umwelt eine herausragende Bedeutung in allerlei Evolutionsgeschichten des Menschen. Wie der Mensch aber selbst Container herstellt und sich zu eigen macht, wird weit weniger thematisiert. Der Mensch benutzt also Stöcke, um hochwachsende Früchte zu ernten, Pfeil und Bogen, um Wildtier zu erlegen und Äxte, um Holz zu hacken. Aber wie sollte er das alles tun? Wie sollte der Mensch all das Werkzeug transportieren? Wie sollte er die Beute nach Hause bringen?

Das Meta-Werkzeug

Man kann den Eindruck gewinnen, als wäre 2022 das Jahr, in dem die selbstverständlichsten Hintergrundbedingungen aufhören zu funktionieren. Nationale Souveränität wird missachtet, Krankenhäuser im ganzen Land schließen Stationen, weil ihnen das Personal fehlt. Flughäfen versinken im Chaos, Bahnfahrten sind sowieso eine Katastrophe, Weizen ist knapp, Deutschland geht das Gas aus und „Duschscham“ hat gute Chancen, zum Wort des Jahres gekrönt zu werden.

Was könnte also die kriegerische Missachtung nationaler Grenzen, die bröckelnde Infrastruktur und die Nahrungsmittel- und Energieknappheit vor dem Hintergrund einer sich zuspitzenden Klimakatastrophe vereinen?

Sie alle sind Containerkrisen.

Für Elizabeth Fisher war es klar, dass der Erfolg menschlicher Gesellschaften seit ihren Anfängen nicht allein auf die phallusförmigen Werkzeuge zurückzuführen war. Tatsächlich gilt der Mythos des Menschen als einzig technisches Lebewesen längst als widerlegt: Schimpansen beispielsweise benutzen Steinwerkzeuge, um Nüsse zu knacken, dicke Stöcke, um nach Knollen und unterirdischen Bienenstöcken zu graben, oder angespitzte Stöcke, um schlafende Buschbabys aufzuspießen. Gorillas benutzen Stöcke, wenn sie durchs Wasser waten, und die Tiefe testen wollen. Orang-Utans vertiefen den Klang ihrer Stimme, indem sie sich eine Hand voll Blätter vor den Mund halten. Aber nicht nur Primaten benutzen Werkzeuge. Delfine tragen zum Schutz Schwämme über ihrem Brustbein, wenn sie auf dem Meeresboden nach Nahrung suchen. Und neukaledonische Krähen sind sogar dazu in der Lage, sich aus einem Zweig einen Haken zu bauen, mit dem sie Larven aus Baumlöchern ziehen [2].

Der Mensch wird Mensch durch Container

Was den Menschen aber tatsächlich vom Tier unterscheidet, ist der Container. Zugegeben, Beuteltiere besitzen natürliche Babyschlingen, um ihren Nachwuchs zu tragen, Vögel tragen Nahrung in ihren Schnäbeln und Kehlsäcken, um ihre Brut zu füttern, und Backentaschenaffen stopfen ihre Wangen mit Nahrung für den späteren Verzehr. Aber kein wild-lebendes Tier wurde jemals mit einer Tragetasche gesichtet. Es gibt Beobachtungen, in denen Schimpansen natürliche Container wie Nussschalen zur Wasseraufnahme benutzen. Aber der prototypische Tragetaschen-Container, den man nicht nur spontan für die direkten Triebe anwendet, sondern in Vorausschau für zukünftige Bedürfnisse baut und mit sich trägt, den gibt es nur in menschlichen Gesellschaften. In vielerlei Hinsicht ist ein Container wie die Tragetasche ein „Meta-Werkzeug“. Es fungiert als Werkzeug für andere Werkzeuge [3].

Elizabeth Fisher war deshalb überzeugt davon, dass die Stöcke, Pfeile, Bögen und Äxte und die dadurch erworbene Beute überhaupt erst durch die Tragetasche möglich wurden. Der umschließende und – in Analogie zur Gebärmutter – weiblich assoziierte Container ermöglicht also erst die nach außen gerichteten, stoßenden, penetrierenden und deshalb männlich assoziierten technisch-heroischen Beutezüge. In einem fundamentaleren Sinne spekulieren Evolutionsforscher sogar darüber, ob der Mensch gerade deshalb zum Menschen wird, weil er die Fähigkeit zur Herstellung von Containern besitzt.

Nach der Bischof-Köhler-Hypothese unterscheidet sich Menschen von Tieren durch ihre Fähigkeit zu „mentalen Zeitreisen“. Das bedeutet, dass der Mensch in der Lage ist, sich zukünftige Stimmungslagen vorzustellen, die er in der direkten Gegenwart nicht erlebt. So erfordert der Container als Tragetasche bei näherer Betrachtung ein hohes Maß an Vorausschau. Der Aufwand, eine Tragetasche herzustellen und mit sich zu tragen, setzt voraus, dass man sich einen Zustand in der Zukunft vorstellen kann, zu dem man Hunger verspürt, um Beute zu erlegen. Wenn die Beute dann erlegt ist, muss man schließlich noch so vorausschauend sein, dass man die Beute nicht auf der Stelle verspeist, sondern mit sich trägt, um zu einem späteren Zeitpunkt des Hungers auf sie zurückzukommen.

„Fortschritt” als Missachtung der Container?

Es ist ein langer Weg von der basalen Tragetasche, zu komplexen und abstrakten Containern wie der Schienen- und Straßeninfrastruktur, dem Rechtssystem oder dem Nationalstaat. Laut Fisher konnte nur der Mensch und nicht der Pavian oder Gorilla diesen Weg gehen, denn nur der Mensch vermag es umschließende, materielle und immaterielle Strukturen zu erfinden und zu manipulieren. Genau wie die Tragetasche, beruht beispielsweise das Rechtssystem auf der exklusiv menschlichen Fähigkeit sich zukünftige Bedürfnisse, wie die neutrale und systematische Schlichtung von Auseinandersetzungen, vorstellen zu können. Nicht nur benötigt es zur Schaffung eines Containers die Vorausschau – gleichzeitig ist es Container selbst, der die Vorausschau in die Zukunft ermöglicht. Denn durch den Container spielt sich diese Zukunft in einem kontrollierbaren Rahmen ab.

Umweltkrisen, Infrastrukturkrisen und auch die kriegerischen Hinwegsetzung über nationale Grenzen sind im weitesten Sinne Containerkrisen. Nicht nur zeigen uns die Containerkrisen die Hintergrundbedingungen für scheinbar Selbstverständliches, Containerkrisen erschweren auch den vorausschauenden Blick in die Zukunft.

Doch wenn der geschickte Umgang des Menschen mit Containern das ist, was ihn auszeichnet, wie sind wir dann in all diese Krisen geraten?

Ich würde vermuten, dass die Antwort auf diese Frage bei dem Begriff des Fortschritts ansetzen müsste. „Fortschritt“ ist keine reine Fiktion. In vielerlei Hinsicht ist die Menschheit so wohlhabend wie nie zuvor. Gleichzeitig hat die Idee des Fortschritts doch immer auf einer „Externalisierung“ beruht. Während eine Minderheit der Menschen vorgibt, mit ihren Maschinen und technischen Geräten Wohlstand zu erzeugen, mussten sie sich gleichzeitig darauf verlassen, dass andere sich um die Container kümmerten, auf denen all diese Wohlstandsmehrung beruhte. Die industrielle Revolution wird beispielsweise gemeinhin als Erfolg des technischen Fortschritts in Großbritannien dargestellt. Ohne die Baumwollfelder und Sklavenarbeit in Afrika hätte aber keine britische Nähmaschine laufen können.

Den Container pflegen

Der gesamte technische Fortschritt der letzten 250 Jahre beruhte in letzter Instanz auf der Ausbeutung der Natur und den Ländern des globalen Südens. Dass man die Container pflegen muss, scheint in der Idee des Fortschritts überhaupt nicht angelegt zu sein.

So sind es dann auch die pflegenden und erhaltenden Tätigkeiten in der Gesellschaft, die besonders schlecht oder gar nicht bezahlt werden. Erzieher:innen, Pflerger:innen, Lehrer:innen können ein Lied davon singen. Ebenso halten Bauarbeiter und Streckenwärter die Autobahnen und Schienennetze in Schuss, ohne wirklich gut dafür entlohnt zu werden. Nicht zuletzt existiert auch immer noch das heteronormative Familienbild, in dem der Mann bezahlt wird, und die Frau unbezahlte reproduktive Arbeit leistet.

Die Idee des Containers schließt nicht mit ein, dass man auf archetypisch männliche und weibliche Zuständigkeitsbereiche zurückfallen muss. Der Container ist nicht per se weiblich oder männlich, auch wenn es ein historisch gewachsener Fakt ist, dass die pflegenden und erhaltenen Aufgaben in der Gesellschaft vor allem Frauen zukommen.

Die Container waren immer da. Sie müssen nicht zwangsläufig zerbrechen, kollabieren, unterfinanziert und unattraktiv sein. Wir haben sie so gemacht, könnten ihnen aber auch ein ganz anderes Antlitz verleihen. Nicht jeder Container ist es wert, gerettet zu werden. Doch auf viele können wir nicht verzichten, konnten es niemals.

Dieser Artikel erschien im Original auf dem Blog des About-Kollektivs

[1] Fisher, Elizabeth. Woman’s Creation: Sexual Evolution and the Shaping of Society. Garden City, N.Y, 1979.

[2] Seed, Amanda, und Richard Byrne. „Animal Tool-Use“. Current Biology 20, Nr. 23 (7. Dezember 2010): R1032–39. https://doi.org/10.1016/j.cub.2010.09.042.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Max Pieper

Geschichten über den Fortschritt und uns.

Max Pieper

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