Ideologische Bunker und neue Welten

Debatte Kapitalismus und Neoliberalismus, das sind abgenutzte Begriffe. Sie liefern keine Erklärungen, sondern sind selbst erklärungsbedürftig.

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Steht SpaceX von Elon Musk für Maskulinismus oder Kapitalismus in Reinkultur? Und kommen wir am Ende mit „Ismen“ aller Art nicht wirklich weiter?
Steht SpaceX von Elon Musk für Maskulinismus oder Kapitalismus in Reinkultur? Und kommen wir am Ende mit „Ismen“ aller Art nicht wirklich weiter?

Foto: Brendan Smialowski/Getty Images

Es gibt Pläne für den schlimmsten Fall. Wenn der Himmel leuchtet, wenn Scheiben zerbersten, wenn Mauern zertrümmern und Häuser zerfallen, wird es Überlebende geben. Nicht zwischen den Trümmern, auf den Straßen, in den Bergen. Sondern tief unter der Erde. Es gibt ein Protokoll für den atomaren Krieg. Ein paar hunderttausend Menschen sollen im Fall der Fälle evakuiert werden. Tief in die Minen-Schächte, geschützt durch viele Kilometer Gestein, dort wo keinerlei radioaktive Strahlung durchdringt, dort warten sie ab. Mehrere hundert Jahre müssen sie dort abwarten. Technisch ist das möglich. Atomare Brennstäbe liefern den Strom. Mit Treibhausgasen und LED Beleuchtung würden Früchte und Gemüse in reichlicher Zahl wachsen. So reichlich würden sie wachsen, dass sogar Nutztiere gehalten und geschlachtet werden könnten.

Die schönsten, intelligentesten und sexuell fruchtbarsten Menschen würden im Bunker Platz finden. Ein optimales Zuchtprogramm zur Wiederherstellung der ursprünglichen Populationsgröße sieht für jeden Mann zehn Frauen vor. Das oberste Ziel des Protokolls ist die Fertilisation möglichst vieler Eizellen; das Gebären möglichst vieler Nachkommen. Darüber hinaus gäbe es recht wenig zu tun.

Der ausschließlich männliche Expertenausschuss stimmte dem Protokoll einstimmig zu.

***

Abspann. Es gibt kein Protokoll. Zumindest nicht dieses. Zumindest nicht außerhalb Stanley Kubricks Film „Dr. Strangelove“.

Denen, die bereits „Sexismus“ schreien wollten, sei gesagt: absolut richtig! Kubrick spitzt die Konflikte des kalten Krieges auf die männliche Libido zu. Wer die größeren und gefährlicheren Bomben hat, wird zur Frage der sexuellen Potenz des Mannes. So wird der Fluchtplan des Dr. Strangelove durch das männliche Expertengremium deshalb einstimmig akzeptiert, da die Männer trotz verwüstetem Land und verlorenem Krieg nicht ihrer sexuellen Potenz beraubt werden. Zehn Frauen pro Mann, das klingt nach einem Plan!

Es wäre lächerlich zu behaupten, der tatsächliche kalte Krieg ließe sich tatsächlich und ausschließlich mit männlichem Dominanzgehabe wegerklären. Man müsste so viel ausblenden. Jahrhunderte geopolitischer Zusammenhänge. Jahrhunderte technischer Entwicklung. Jahrhunderte politischer Abkommen. Jahrhunderte kultureller Entwicklung. Dem Film sei das verziehen. Dr. Strangelove ist eine Komödie und mit voller Absicht überzeichnet.

Die gleiche Nachsicht lässt sich nicht überall aufbringen. Es ist gefährlich, komplexe Phänomene entlang eines einfachen Narrativs zu erklären. Doch die Versuchung ist groß. Da gibt es DEN Kapitalismus, DEN Kommunismus, DEN Neoliberalismus, DAS Patriarchat, DIE Natur und DIE Gesellschaft. Oder etwa nicht?

Abgehoben

Um bei männliche Zukunftsphantasien zu bleiben: Elon Musk plant für 2024 die erste unbemannte Mars-Mission seines Raumfahrtunternehmens SpaceX. Eine bemannte Mission soll 2027 folgen. Aus Sicht einer kritisch linken Berichterstattung ein klarer Fall: kapitalistische Aneignung, Verwertbarmachung und Kommodifizierung des Mars, ein Fluchtplan der reichen, degenerierten Elite; und natürlich: toxische Männlichkeit und patriarchische Aneignung in Reinform [1].

Beruhigt lehnt sich der Kritiker in seinem Sessel zurück. Wieder einmal hat er die geheimen Motive enttarnt, nach denen die Welt funktioniert; nach denen alle anderen handeln. Sie, die anderen, wissen davon nichts. Doch er, der erleuchtete Kritiker weiß es. Er, der erleuchtete Kritiker versteht die Menschen besser als sie sich selbst [2].

Ein wenig abgehoben, oder nicht? Und verstehen wir Musks Mars Mission wirklich besser, wenn wir sie als kapitalistisch, klassistisch, degeneriert und patriarchal enttarnen. Und woher kommt eigentlich dieses Bedürfnis des Enttarnens; in Analogie zur naturwissenschaftlichen Vorgehensweise? Die Physik, Chemie und Biologie mag vielleicht im Stande sein, die Mechanik der Natur zu enttarnen. Aber kann unser hochmütiger geisteswissenschaftliche Kritiker das auch? Der Physiker und Chemiker hat sein Labor, in dem er die Fallgeschwindigkeit von Körpern, die Bewegung des Lichts und die Reaktion der Moleküle untersucht. Der Biologe hat den Feldversuch, bei dem er den Bestäubungsvorgang der Sonnenblume oder die Nahrungsbeschaffung der afrikanischen Berggorillas untersucht.

Und was hat der hochmütige Kritiker? Er hat seinen Schreibtisch, seinen Computer und das Internet. Das ist nicht nichts. Doch etwas ist anders. Eine Distanz zwischen ihm und der echten Welt hat sich aufgetan. Das stört den Kritiker nicht. Er enttarnt die Dinge nicht, indem er die Mechanismen entdeckt, nach denen die Welt funktioniert. Nein. Er glaubt bereits all diese Mechanismen zu kennen. So genügt ihm der Blick aus der Ferne, immer das große diffuse Ganze im Blick, niemals das kleine empirisch Genaue. Aus dieser Ferne stülpt er den Dingen eine Erklärung über. Kapitalismus hier, Patriarchat da, Ausbeutung, Profitabilität, Wertschöpfung und blablabla.

Down to Earth (and Beyond)

Über die Dauer seines Lebens hat sich unser Kritiker einen Vorrat an Etiketten angelegt. Die Freude seiner Arbeit zieht er daraus, diese Etiketten munter auf alles und jeden zu kleben, der ihm über den Weg läuft. Du gehst in deiner Freizeit laufen? Effizienzgetriebener Selbstoptimierer! Du bist Chef einer Firma? Kapitalistischer Ausbeuter! Du bist Angestellter einer Firma? Systemkonformer Papiertiger! Du zweifelst am grünen Wirtschaftswachstum? Amoderner Fortschrittsfeind! Du forderst eine Reichensteuer? Wettbewerbsfeindlicher Sozialist!

Doch diese geheimen Motive, die eigentlichen Ideologien, die der Kritiker überall vermutet, erklären nichts. Zumindest nichts neues. Etwas als kapitalistisch zu etikettieren, unterbindet alle Erklärungen, die darüber hinaus gehen. Statt DEN Kapitalismus als Erklärung zu verwenden, ist es DER Kapitalismus, der erklärt werden müsste; immer und immer wieder.

Doch das würde vom Kritiker verlangen, seinen eigenen Hochmut abzulegen. Sie müsste tatsächlich etwas entdecken wollen. Sie müsste sich eingestehen, etwas nicht zu verstehen. Sie müsste aufhören zu denken wie Dr. Strangelove. Aufhören sich nach unten zu graben. Aufhören vor dem Neuen zu fliehen. Aufhören es mit dem Altbewehrten zu bewältigen.

Stattdessen könnte sie unvoreingenommen und neugierig sein. Wenn eine Mars Mission langfristig eine vollkommene Rekonfiguration des menschlichen Daseins darstellen könnte, scheint es unangemessen, solchen Verheißungen mit alten verstaubten Etiketten entgegenzutreten. Ist Musks Vision einer Mars-Kolonialisierung wirklich kapitalistische Aneignung? Oder zeigt ein solches Unterfangen nicht gerade die Grenzen des Kapitalismus und die Rolle des Staates auf? Letztlich erhält SpaceX den überwiegenden Anteil seiner Aufträge von der staatlichen NASA. Kein privatwirtschaftlicher Akteur weit und breit würde eine Mars Mission finanzieren. Der „freie“ Markt hat keine relevante Raketentechnologie aus sich heraus hervorgebracht. Der „freie“ Markt scheint vollkommen uninteressiert an einer Kommodifizierung und Verwertbarmachung des Mars. Und ein Fluchtplan für Superreiche wäre wohl eher der Rückzug auf eine Privatinsel, sicher aber nicht das unwirtliche spärliche Leben auf dem Mars.

Es ist nur ein Beispiel. Doch es zeigt, was auch für so viel anderes gilt: Dass man die großen Narrative immer und immer wieder auf ihren Wahrheitsgehalt überprüfen muss. Dass die Details entscheidend sind. Denn nichts existiert im luftleeren Raum. Keine abstrakte Struktur, Ideologie und Wirtschaftssystem. Sie alle werden durch die scheinbar bedeutungslosen Objekte konstituiert, denen man so vorschnell die Statistenrolle im allumspannenden Narrativ zuschreibt. Es ist die Neugier und Unvoreingenommenheit für diese Details, die einen aus seinem ideologischen Bunker treibt und neue Welten entdecken lässt.

[1] https://www.nbcnews.com/think/opinion/patriarchal-race-colonize-mars-just-another-example-male-entitlement-ncna849681

[2] vgl. für diese Kritik der Kritik Bruno Latour’s Essay „Wir sind nie modern gewesen“

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Max Pieper

Geschichten über den Fortschritt und uns.

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