Keine Zeit für Eile

Umweltschutz Gern wird darauf verwiesen, uns liefe die Zeit davon. Was, wenn das gar nicht stimmt? Was, wenn die scheinbare Zeitnot nur den Falschen in die Hände spielt?

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Es geht nicht länger darum, alte Energieträger möglichst schnell durch erneuerbare Energien zu ersetzen. Es geht darum, abseits technischer Effizienzsteigerung insgesamt deutlich weniger Strom zu verbrauchen
Es geht nicht länger darum, alte Energieträger möglichst schnell durch erneuerbare Energien zu ersetzen. Es geht darum, abseits technischer Effizienzsteigerung insgesamt deutlich weniger Strom zu verbrauchen

Foto: Christopher Furlong/Getty Images

Wir müssen handeln! Jetzt! Uns läuft die Zeit davon! Es ist keine Zeit zum Philosophieren, sondern zum Handeln!

Aber was, wenn das gar nicht stimmt? Was, wenn die scheinbare Zeitnot nur den Falschen in die Hände spielt?

Neulich hatte ich die Freude an der Organisation einer Online-Diskussion über die Zukunft der Landwirtschaft und die Rolle der Politik teilzuhaben. Was Sie hier lesen, sollte ursprünglich eine reine Zusammenfassung werden. Doch nun ist es ein persönlicher Kommentar geworden. Denn die anderthalb-stündige Diskussion vom 25. Juni steht in vielerlei Hinsicht emblematisch für die gegenwärtigen Umweltschutzdebatten [1] und ist es wert, diskutiert zu werden.

Es geht los mit den Eröffnungsstatements der Teilnehmer. Jan Plagge, der Präsident des Anbauverbandes Bioland, ergreift das Wort. Der Ökolandbau habe vielleicht seine Schwächen, aber ganz offensichtlich sei er die einzig nachhaltige Alternative zur konventionellen Landwirtschaft. Dann setzt er den Grundtenor dieser Veranstaltung, der immer wieder durchschimmern wird: „Wir haben keine Zeit und wir müssen das System jetzt ändern.“

Für ihn sei es das valideste Argument überhaupt. Das valideste Argument für den Ökolandbau, denn einen neuen Standard zu entwickeln und zu verbreiten, dürfte noch Jahrzehnte dauern. Wir müssen also arbeiten mit dem was wir haben. Das heißt Rahmenbedingungen schaffen, bei denen Bio-Produkte preislich deutlich kompetitiver wären als jetzt. Bei denen der Konsument also nicht noch oben drauf zahlen müsste wenn er zum nachhaltig und fair produzierten Produkt greift. Was zählt, ist der Preis!

Markus Wolter vom Hilfswerk Misereor und Prof. Susanne Stoll-Kleemann von der Universität Greifswald stimmen zu. True Cost Accounting, also die Einbindung von Umweltschäden in den Verkaufspreis, müsse verpflichtend werden. So ließen sich Marktunvollkommenheiten ausgleichen und das Verhalten des Konsumenten positiv beeinflussen.

Genau hier, beim Konsumenten müsse man ansetzen, betont Stoll-Kleemann. Zwar gäbe es viele gute Ideen für politisches Handeln, deren Umsetzung sei nur leider unwahrscheinlich. Zu groß seien die Lobbyeinflüsse aus der Wirtschaft. Wenn sich die Produktionsbedingungen selbst also nicht verändern lassen, wird der Konsument ins Visier genommen. Nachhaltige Ernährung als Kern von Marketingkampagnen und Tierwohllabels mit zigaretten-ähnlichen Abschreckungsbildern.

In größeren Zusammenhängen denken

Bis hierhin hat man als Zuschauer wohl zustimmend genickt. Klingt ja alles irgendwie sinnvoll. Dann spricht der vierte Teilnehmer in der Runde, der Philosoph Oliver Schlaudt: „Ich befürchte ich muss Frau Stoll-Kleemann widersprechen. Der Konsument scheint mir die falsche Kategorie zu sein.“ [2] Denn der Konsument, meint er, das ist die Kategorie von der vor allem die Wirtschaft spricht. Nicht zuletzt, um die Stimmen aus Politik und Zivilgesellschaft zu schwächen.

Dieser Punkt ist nicht zu vernachlässigen, denn wenn wir über die versteckten Kosten der Lebensmittel sprechen, dann sprechen wir über die Schäden, die die landwirtschaftliche Produktion der Natur und den Tieren zufügt. Und diese Schäden, so kann man argumentieren, sollten zur gesellschaftlichen Debatte stehen und deren Ausmaß vom politischen Konsensus legitimiert werden. Verwandelt man diese Schäden nun in Preise und damit in Kosten, so verwandelt man ein politisches Thema in ein individuelles. Aus mündigen Bürgern werden Konsumenten.

Außerdem, so Schlaudt, suggerieren „versteckte Kosten“, dass wir es bereits mit einem recht gut funktionierenden Markt zu tun hätten, der hier und da versteckte (Neben)kosten verursacht. Mit einem Blick auf die Millionen Hektar an Regenwald, die dem Futteranbau für die Massentierhaltung weichen müssen, mit einem Blick auf die Millionen Küken, die wenigen Minuten nach ihrer Geburt geschreddert werden und mit einem Blick auf all die Ferkel, denen ohne Betäubung der Ringelschwanz abgeschnitten wird, muss man ohne Zweifel sagen, das sind keine funktionierenden Märkte mit versteckten Kosten. Das sind gänzlich dysfunktionale Märkte. Kann es sein, fragt Schlaudt, dass das ursächliche Problem nicht zu wenig Marktmechanismen sind, sondern zu viele? Vielleicht müssten wir ganz grundsätzlich überdenken, in welchen gesellschaftlichen Bereichen der freie Markt überhaupt stattfinden sollte.

Und jetzt wird es interessant. Reflexartig berufen sich Stoll-Kleemann und Wolter darauf, dass die Zeit drängt. Für Grundsatzdiskussionen sei keine Zeit. Wir würden nun einmal in einer Marktwirtschaft leben, und in dieser laufe uns die Zeit davon. Wir sollten nicht über die nächsten 30, sondern über die nächsten 5 Jahre nachdenken. Der Realitätscheck schlägt fehl. Stoll-Kleemann unterstreicht: Wir müssen handeln. Jetzt. Und das möglichst effizient und schnell.

Man kann diese Forderungen im gleichen Licht sehen wie die von Karl Marx, als er den Philosophen vorwarf, sie hätten die Welt nur auf verschiedene Weise interpretiert, es ginge aber darum sie zu verändern. Nun haben wir die Welt in den letzten paar-hundert Jahren reichlich verändert. Der Philosoph Slavoj Zizek sieht genau hier das Problem und dreht Marx Zitat kurzerhand um: „Im 20. Jahrhundert haben wir vielleicht zu schnell versucht die Welt zu verändern. Die Zeit ist gekommen, sie erneut zu interpretieren und anfangen zu denken.“

Haben wir wirklich keine Zeit?

Keine Zeit zu haben, also in Eile zu sein, ist eine zutiefst unterwürfige Haltung. Deshalb lässt sie sich auch nie bei den ranghöchsten Entscheidungsträgern beobachten. Oder haben Sie schon einmal gesehen, dass der Präsident der USA hektisch zu seinem Flieger rennt? Oder der CEO eines Weltkonzerns dem abfahrenden Taxi hinterherläuft? Diese Leute sind nicht in Eile, denn es wird auf sie gewartet. Eile bedeutet, sich den Regeln von jemand anderem zu unterwerfen. Eile bedeutet, es jemandem Recht machen zu wollen.

Okay, aber mit der Natur lässt sich ganz offensichtlich nicht verhandeln. Wir stoßen massenhaft Treibhausgase aus und die Atmosphäre erhitzt sich. Wir steuern auf irreversible Kippunkte des Klimas zu. Das ist Physik und der sind wir alle unterworfen. Das ist doch ein guter Grund um es eilig zu haben, oder?

Die Krux an all den Prognosen und Szenarien der Klimawissenschaftler ist, dass sie einen Endpunkt suggerieren, bis zu dem wir das Klima wieder in den Griff bekommen müssen, sonst... Ja, was passiert eigentlich danach? Was passiert nach 2050 und 2100 wenn wir aller Wahrscheinlichkeit unsere Klimaziele nicht eingehalten haben werden? Geht die Welt dann unter? Ist es der Endpunkt der Geschichte? Nein, natürlich nicht. Die Uhr wird sich weiterdrehen.

Diese willkürlich gesetzten Endpunkte sind aus guten Absichten entstanden. Gleichzeitig drücken sie eine Auffassung aus, in der Zukunft das ist, was nicht passieren darf. „Das Ziel ist es, den Status quo, und wäre er noch so übel, zu retten vor dem Angriff einer dystopischen Zukunft.“ [3]

Doch Zukunft ist mehr als nur Schadensbegrenzung. Zukunft lässt sich auch gestalten. Das vergisst man allzu schnell, wenn die Scheuklappen der Eile aufgesetzt sind und man einem Nullpunkt entgegensteuert, hinter dem eh alles egal erscheint. Veränderung ist „Trial and Error“. Veränderung braucht Zeit.

Eile macht blind

Es mag zunächst kontraintuitiv klingen, doch unsere Eile rührt nicht daher, dass sich die Atmosphäre erhitzt und uns die Lebensgrundlagen schwinden. Genauso wenig ist der Zug daran schuld, dass man am Bahnhof zu ihm eilt. Es sind nicht die äußeren Gegebenheiten, sondern unser eigenes Unvermögen, das uns eilen lässt. Eile scheint das Gefühl zu sein, dass sich einstellt, wenn wir glauben, zu wenig vom Richtigen zu tun. Prinzipiell wisse man, was zu tun sei. Man müsse es nur schneller tun. Man eilt zum Zug, weil man glaubt man könnte ihn noch erwischen, wenn man nur schnell genug rennt.

Eile ist immer bereits an eine Handlung gebunden. Und so zwingt sie einen in vorgezeichneten Bahnen zu denken. Sie zwingt uns in den Handlungsspielräumen und somit in der Logik des derzeitigen Systems zu denken. Wir müssten lediglich die Marktunvollkommenheiten ausgleichen, das Kaufverhalten der

Konsumenten beeinflussen. Doch diese Eile führt in die Irre, und versperrt den Ausblick auf eine ganz andere Zukunft. Man verharrt im Kleinen und verliert das Große aus den Augen.

Wer von Eile spricht, spricht also aus der Logik des Gesellschaftsmodells, dass uns überhaupt erst in die jetzige ökologische Misere gebracht hat. Und eben jenes Gesellschaftsmodell soll sich nun eilig verändern. Doch man hetzt einen alten Hund, der sowieso nicht schneller rennen kann. Und diesem alten Hund kann man nicht mehr zumuten als ein paar kleine Forderungen. Das soll nicht bedeuten, diese Forderungen seien nichts wert. Es sind schlicht zu wenige.

Anstatt sich eilig an die gegenwärtigen Entscheidungsträger in Politik und Wirtschaft zu wenden, ihr völlig veraltetes Weltbild doch ein wenig aufzupeppen, sollte man vielleicht stattdessen ihre hoffnungslose Inkompetenz bei ökologischen Fragestellungen akzeptieren. Und somit akzeptieren, dass es eben nicht diese Personen sind, die in irgendeiner Weise zu einer lebenswerten Zukunft der künftigen Generationen beitragen können.

Vielleicht ist es diese Erkenntnis die Slavoj Zizek in seinem Appell zum „Mut der Hoffnungslosigkeit“ evoziert. Mit diesem Mut zur Hoffnungslosigkeit akzeptiert man, dass der Status Quo keine Zukunft hat. Dass man ihn nicht anpassen, sondern abschaffen muss.

Was heißt das konkret?

Aus dieser neuen Perspektive geht es nicht länger darum hastig CO2-Steuern und Tierwohllabels von Klöckner und Co. einzufordern, solange die Politik eine für Mensch und Tier absolut asoziale Lebensmittelindustrie stützt. Es geht darum das Fundament vor dem Dach zu bauen und nicht andersherum.

Es geht nicht länger darum, möglichst schnell die erneuerbaren Energien auszubauen, nur um damit dem steigenden Energieverbrauch einer Industrie 4.0 nachzukommen. Es geht darum, abseits technischer Effizienzsteigerung insgesamt deutlich weniger Strom zu verbrauchen.

Und nein, es geht nicht darum VW, Daimler oder BMW freundlich zu bitten doch schnell ein paar mehr Elektroautos zu bauen. Es geht darum, Infrastrukturen zu schaffen, bei denen Autos überhaupt keine Rolle mehr spielen. Die Big Player müssen ihr Geschäftsmodell daran anpassen, anstatt künstlich am Leben gehalten zu werden.

Schon klar, wer die ganz große Utopie fordert, hat in der Regel nicht viel auf Lager. In seinem Buch „Alles könnte anders sein“ fordert der Zukunftsforscher Harald Welzer deshalb in Bausteinen zu denken. Alles notwendige ist bereits vorhanden, es ist nur falsch zusammengesetzt. „Statt großer Revolutionen braucht es [...] modulare Revolutionen [...]. So investiert man [.] die Wunschenergie in konkret erreichbares, nicht in geträumte Universen, die einen immer nur daran verzweifeln lassen, wie groß die utopische Aufgabe ist.“ [4] Und auch wenn es „nur“ modulare Revolutionen sind, so sind es doch Revolutionen, die man einfordern sollte.

Somit fordern Plagge, Wolter und Stoll-Kleemann durchaus richtige und wichtige Maßnahmen. Es braucht eine stärkere Subventionierung der Bio-Landwirtschaft. Es braucht True-Cost Accounting und es braucht Tierwohllabels. Doch es braucht eben noch viel mehr als das. Wenn diese Forderungen nur Resultat eines Kompromisses sind, entstanden aus einer falschen Eile, stehen sie all dem im Wege, was darüber hinaus noch nötig wäre. Wie Schlaudt richtigerweise fordert, braucht es strenge Rahmenbedingungen des Marktes. Vielleicht braucht es teilweise auch überhaupt keinen Markt.

Aus lauter Eile mit noch so kleinen Minimalforderungen an die Big Player heranzutreten, wird zu nichts führen. Wir haben keine Zeit für faule Kompromisse. Wir haben keine Zeit für Eile.

[1] https://youtu.be/Yse49g_Yueg

[2] Sinngemäß aus dem Englischen übersetzt

[3] Claudius Seidl, Der Mann aus der Zukunft, in Dana Giesecke et al. (Hg.), Welzers Welt. Störungen im Betriebsablauf. Franfurt/M.: Fischer 2018, S. 374 ff.

[4] Welzer, Harald (2018): Alles könnte anders sein, S. 83

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Max Pieper

Geschichten über den Fortschritt und uns.

Max Pieper

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