Vom Wachstum des Nutzlosen

Wachstumskritik Warum wir in einer hochkomplexen Welt scheinbar nur wachsen können

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„Eine Gesellschaft, die so komplex erscheint, dass das Verstellen eines Zahnrads in einer kaskadenartigen Katastrophe münden würde“
„Eine Gesellschaft, die so komplex erscheint, dass das Verstellen eines Zahnrads in einer kaskadenartigen Katastrophe münden würde“

Foto: imago images / Prod.DB

Vorbei die Zeiten, als wir von Wolkenstädten, fliegenden Autos und dergleichen träumten. Utopien, konkrete Gesellschaftsentwürfe, daran mangelt es uns. Politiker verkommen zu Verwaltern statt Gestaltern unserer Gesellschaft. Entgegen aller ökologischen Logik verbleiben wir in einer stetig expandierenden Wirtschaft und somit einem nicht nachhaltigen Zivilisationsmodell. All das ist nichts Neues, man hat es schon so häufig gelesen. Meist ist dieses Fazit dann noch gepaart mit einem pathetischen Plädoyer für mehr Fantasie und neue Gesellschaftsutopien. Stimmt ja auch alles irgendwie. Der Funke scheint trotzdem nicht überzuspringen. Irgendwie verbleibt alles beim Alten. Weder die marktwirtschaftlichen Grundstrukturen noch unser Verhältnis zur Natur oder unseren Mitmenschen hat in jüngster Zeit politische Gestaltung erfahren.

Aber warum eigentlich? An dieser Stelle wird zumeist reflexartig die Systemfrage aufgeworfen. Der Kapitalismus sei schuld. Die durch ihn hervorgerufene Gier, das Profitstreben, des einzelnen und der Unternehmen, sowie deren Einfluss auf die Politik führe dazu, dass weitreichende Gestaltungsmaßnahmen der Gesellschaft sich an dem Wohle der Wirtschaft ausrichteten anstatt an dem Wohle der breiten Bevölkerung. Klingt natürlich recht platt. Und klassischerweise würde man als Antwort darauf die alte Leier vernehmen, dass der Mensch nun mal gierig sei. Nicht das System selbst sei demnach problematisch, sondern die menschliche Natur. Das wäre halt so, müsse man mit Leben, Punkt! Beide Aussagen liegen hierbei in ihrer Schuldzuschreibung falsch. Die sich im Wirtschaftswachstum ausdrückende „Gier“, wenn man sie so nennen möchte, nach immer mehr Ressourcen geht weder auf den Kapitalismus zurück, noch auf die Natur des Menschen. Denn erstens sollten wir nicht vergessen, dass Wirtschaftswachstum auch in anderen Systemen stattfinden kann. Schließlich war das Wachstum in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ein erklärtes Ziel der damals sozialistischen Oststaaten auf ihrem Weg zur kommunistischen Heilswelt. Und zweitens ist das Phänomen des Wirtschaftswachtsums ein recht junges. Nun ist man geneigt zu sagen, dass auch wenn die Wirtschaft erst seit relativ kurzer Zeit wächst, die Gier des Menschen doch immer prävalent war. Es hätte lediglich eine Erfindung wie die Dampfmaschine gebraucht hat, damit sich diese Gier in der Welt manifestieren konnte. Und tatsächlich wurde dem Menschen erst durch die Technik das Durchbrechen der „organischen Schranke“ ermöglicht, wodurch in sehr viel höherem Ausmaße als jemals zuvor Ressourcen abgebaut und genutzt werden konnten. Doch auch wenn eine Erfindung wie die Dampfmaschine überhaupt nur in einer Kultur stattfinden konnte, in der bereits ein Steigerungs- und Wachstumsdenken vorherrschte, ist dieses Wachstumsdenken nicht unveränderlicher Teil der menschlichen Natur, sondern Resultat kulturellen Wandels.

Wie der Soziologe Hartmut Rosa argumentiert, findet sich der Beginn dieses Denkens in der Epoche der Aufklärung und unter anderem in der damit verbundenen Säkularisierung. Die Kirche verlor zu dieser Zeit endgültig die Deutungshoheit über Fragen der Moral oder der Erklärung der Natur. Entsprechend verlor die Religion auch für das Leben der Menschen an Bedeutung, genauso wie der Glaube an ein Jenseits, ein Leben nach dem Tod. Nun, ohne ein Leben nach dem Tod bleibt einem folglich nur das Leben. Die vormalige Unendlichkeit der Seele schrumpft auf die Zeit herunter, die wir in unserem sterblichen Körper auf der Erde umherirren. All die verpassten Chancen und all die Genüsse, denen man entsagt hat, all die Dinge, die man hatte sagen wollen. Es gibt keine zweite Chance, all das nachzuholen, wenn ein Leben nach dem Tod nicht existiert. Der Tod ist einfach nur der Tod. Wenn die Lichter ausgehen, dann war’s das und man verschwindet in das Nichts, aus dem man gekommen ist. Eine Dringlichkeit resultiert daraus; die Dringlichkeit, sein kurzes Leben möglichst angenehm zu gestalten und gänzlich auszuschöpfen. Es ist dieser kulturelle Wandel, der wohl entscheidend zu dem nun vorherrschenden Wachstumsparadigma beigetragen hat. Die „Gier“ nach immer mehr ist also nicht konstitutiv für die Natur des Menschen, sondern entstammt kultureller Prägung. Wachstum ist kein Grundbedürfnis des Menschen. Alternativen sind also möglich.

Und doch hatte das Wachstum zu Recht lange seine Daseinsberechtigung. Es ist nichts Nobles an der Armut und es ist nichts Nobles daran, frühzeitig an irgendeiner vermeidbaren Krankheit dahinzuraffen. Es ist schön, am Morgen in die warme Dusche zu steigen oder mit seiner weit entfernt wohnenden Familie telefonieren zu können. Fortschritt existiert, und unsere Gesellschaft hat sich in den letzten 200 Jahren in unglaublichem Maße zum Positiven entwickelt. Doch nun? Nicht umsonst bezeichnet man Deutschland, in Abgrenzung zu Entwicklungsländern, als ein „entwickeltes Land". Und in der Tat scheint ein Land wie Deutschland, in materieller Hinsicht am Ende einer Entwicklung zu stehen. Wie uns die Glücksforschung unlängst gelehrt hat, resultiert ein materieller Ressourcen-Zuwachs nur bis zu einem gewissen Punkt in einem Zuwachs an individueller Lebensfreude. Dieser Punkt scheint in Deutschland längst erreicht. Selbstverständlich ist das Vermögen in Deutschland extrem ungleich und ungerecht verteilt. Das bedeutet jedoch nicht, das der Kuchen größer werden muss, damit auch das kleinste Stück noch satt macht. Stattdessen könnten wir alle angenehm gesättigt werden, wenn jeder ein annähernd gleich großes Stück vom Kuchen bekommen würde. Doch wir sind immer noch damit beschäftigt, den Kuchen größer werden zu lassen. Der Punkt ist längst überschritten, an dem eine größere Portion uns tatsächlich auch mehr Freude bringt. Stattdessen ist uns eigentlich schon schlecht, und wir würden uns ganz gerne übergeben.

Dieses sinnentfremdete Wachstum an Ressourcenverbrauch lässt sich mittels einer weiteren Analogie erklären. Der Informatiker und Gesellschaftskritiker Joseph Weizenbaum kritisiert in seinem Buch „Die Macht der Computer und die Ohnmacht der Vernunft“ das blinde Vertrauen der Menschen in Computerprogramme. Solche Programme nämlich haben eine Komplexität erreicht, die kein Programmierer und Entwickler mehr gänzlich begreifen kann. Dieser Umstand führt dazu, dass wesentliche Modifikationen an den Computerprogrammen unmöglich werden. Ohne ein Verständnis der inneren Abläufe des Programms führen alle wesentlichen Änderungen am Programm aller Voraussicht nach zu dessen kompletter Lahmlegung, ohne dass eine Reparatur möglich ist. Aus diesem Grund können die Programme nur noch wachsen; neue Funktionen und Erweiterungen, aber keine grundlegenden Änderungen von dem, was bereits da ist. Trifft diese Aussage nicht auch genau auf die missliche Lage unserer wachsenden Gesellschaft zu? Einer Gesellschaft, die so komplex erscheint, dass das Verstellen eines Zahnrads in einer kaskadenartigen Katastrophe münden würde. Wir mögen den Status quo nicht besonders. Doch aus Angst davor, durch gravierende Änderungen etwas kaputtzumachen, unterliegen wir derselben Logik wie die Computerprogramme. Die einzig mögliche Änderung scheint das Wachstum zu sein.

Doch genau wie uns manchmal klar wird, dass einem guten Leben die komplexen Computerprogramme im Wege stehen, verhält es sich auch mit den modernen hochkomplexen Gesellschaftsstrukturen. Genau wie Facebook und Co. nicht zum Gelingen sozialer Beziehungen beitragen, leistet beispielsweise der Hochfrequenzhandel von Aktien keinen Beitrag zu unserer tagtäglichen Güterversorgung. Genau wie es bei unnützen Computerprogrammen nicht hilft, diese zu modifizieren und sich dadurch in unausweichlichen Wachstumsdynamiken zu verfangen, verhält es sich mit obsoleten Gesellschaftsstrukturen. Denn allzu oft sind wir so überwältigt von deren Komplexität, dass der Blick dafür verloren geht, wie denn eigentlich bestimmte Strukturen unserem und dem Leben unsere Mitmenschen konkret nützen. So verschleiert Komplexität den Blick für das Wesentliche. Es geht darum, die Nutzlosigkeit der Komplexität zu enttarnen. Passiert dies nicht, verbleiben wir in einem Zustand der Stagnation, in der alle Veränderung sich beschränkt auf das Wachstum des Nutzlosen.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Max Pieper

Geschichten über den Fortschritt und uns.

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