Identitätspolitik ist Klassenkampf

Klassenanalyse Identitätspolitik wird von links gern als postmaterielle Politik kritisiert, die Verteilungsfragen außer Acht lasse und nichts mit Klassenpolitik zu tun habe. Ein Irrtum.

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Eine beliebte Erzählung abtrünniger Linker über den Niedergang linker Parteien geht folgendermaßen: Der Fall der Berliner Mauer brachte nicht nur das Ende des Systemwettbewerbs zwischen Kapitalismus und Kommunismus, sondern auch das Ende der Geschichte selbst mit sich: Marktwirtschaft, Liberalismus und Demokratie haben sich demnach endgültig allen anderen Systemen als überlegen durchgesetzt. Ungefähr zeitgleich setzte sich der Neoliberalismus weltweit durch und brachte riesige Privatisierungsprogramme und den Abbau des Sozialstaats mit sich.

Auch die Sozialdemokratie hat sich dem Neoliberalismus verschrieben, driftete damit ökonomisch nach rechts, wurde aber zugleich in kulturellen Fragen immer progressiver: Mit den Fragen der Geschlechtergerechtigkeit, Gender und Rassismus rückte die Identitätspolitik immer mehr in den Fokus politischer Strategen – während man wirtschaftspolitische Standpunkte vertrat, die so manchem verstorbenen Sozialdemokraten die Schamesröte ins Gesicht treiben würde. Nancy Fraser nannte dies den progressiven Neoliberalismus, eine Art Neoliberalismus mit menschlichem Antlitz.

Schenkt man dieser Erzählung Glauben, dann liegt der Schluss nahe, das Elend der linken Partei in den westlichen Industriestaaten sei auf ein Beharren auf kulturelle Themen wie gleichgeschlechtliche Ehe oder Genderfragen zurückzuführen. Der Erfolg von Donald Trump 2016 und jener von Boris Johnson 2019 wurden dementsprechend analysiert. Beide hätten die Angst vor Überfremdung der ländlichen, alten und weißen Bevölkerung schamlos für ihre Zwecke ausgenutzt.

Das nahm man gelegentlich als Anlass, den eigenen kulturellen Kompass zu hinterfragen und Identitätspolitik zur Diskussion zu stellen. Man habe, so geht die Kritik, im Kampf gegen Diskriminierung diverser gesellschaftlicher Gruppen – oder: der 'Marginalisierten' – den Kampf um die materielle Besserstellung der Arbeiterklasse vernachlässigt. Man habe die Klassenfrage vernachlässigt, so z.B. Wolfgang Merkel im Interview mit der taz. Die Sammlungsbewegung »Aufstehen« steht emblematisch für diese Kritik an der Linkspartei.

An diesem Vorwurf erhitzen sich in regelmäßigen Abstand die Gemüter. Diese Debatten lassen sich grob vereinfacht auf zwei Standpunkte reduzieren: Auf der einen Seite haben wir sowohl diejenigen, die den Vorwurf gänzlich abstreiten, als Hirngespinst alter, weißer Männer abtun und das Konzept der Identitätspolitik grundsätzlich in Frage stellen, als auch solche, die meinen, man müsse »intersektional« denken und man könne »Klasse« weder von »Gender« noch von »Race« trennen. Beide eint, dass sie eine Rückkehr zur Klassenpolitik alter Schule ablehnen. Auf der anderen Seite haben wir diejenigen, die dem Vorwurf zustimmen, Identitätspolitik für postmodernen Unsinn halten und von eben jener Rückkehr träumen.

Ich möchte hier keinen Beitrag zu dieser Kritik liefern, diese oder jene Seite unterstützen. Stattdessen geht es mir darum, die Debatte selbst als Anlass zu nehmen, auf einen tieferliegenden Antagonismus innerhalb der Linken zu verweisen. Dieser Gegensatz – den man genau so auch in den USA findet – äußert sich in der Vorstellung, Klassenpolitik sei von Identitätspolitik zu trennen. Ich möchte darlegen, dass das Gegenteil der Fall ist: Identitätspolitik ist Klassenpolitik – und zwar Klassenpolitik der Bourgeoisie.

Die professional-managerial class

In den 70er Jahren führten die US-amerikanischen Soziologen Barbara und John Ehrenreich den Begriff der Professionellen Mittelklasse (im englischen Original: professional-managerial class, kurz: PMC) ein. Die PMC war der Versuch, jüngere Entwicklungen in der US-amerikanischen Klassengesellschaft, vor allem aber innerhalb der amerikanischen »New Left« begrifflich zu fassen. Kurz gefasst lässt sich die PMC als eine Nahtstelle der beiden Klassen von Kapital und Arbeit bezeichnen. Wie die Arbeiterklasse besteht sie aus Lohnabhängigen, doch sie geht selbst keiner produktiven Arbeit nach, sondern managt sie. Anders ausgedrückt: die PMC arbeitet weniger mit ihren Händen, als mit ihren Köpfen.

Es ist aber nicht nur ihre Stellung im Arbeitsprozess, die die PMC als eigene Klasse qualifiziert. Sie zeichnet sich darüber hinaus durch ein soziales und kulturelles Dasein aus, das sich stark von jener der Arbeiterklasse unterscheidet. Die Figur des urbanen Hipsters, der sich bewusst und vegan ernährt, Yoga praktiziert, mehr Englisch als Deutsch spricht und auf dem Rennrad zu seiner Arbeit bei einem Berliner Start-Up fährt, ist eine Karikatur der PMC.

Mitglieder der PMC haben meist eine gute Ausbildung genossen (oft an der Universität) und verdienen durchschnittlich deutlich besser als Arbeiter und Arbeiterinnen. Zur PMC gehören Berufsgruppen wie bspw. Manager, Ingenieure, Rechtsanwälte, Psychologen, Ärzte, Architekten, Hochschullehrer, Künstler, Journalisten und sog. Medienschaffende. Ihr gesellschaftlicher Anteil ist in den westlichen Demokratien seit dem 19. Jahrhundert stark angestiegen.

Seit einigen Jahrzehnten befinden sich jedoch zunehmend große Teile der PMC in einer Krise. Sie sehen sich durch prekäre Beschäftigungsverhältnisse immer stärker der Gefahr der Proletarisierung, also des sozialen Abstiegs ausgesetzt. Die Zeit ist vorbei, in der ein Uni-Abschluss der Garant für sozialen Aufstieg war. Inzwischen wechseln mehr als 40% der Schüler nach der Grundschule auf das Gymnasium. Entsprechend steigen auch die Zahlen von immatrikulierten Studenten Jahr um Jahr auf ein neues Rekordhoch: 2,9 Millionen Studenten sind für das Wintersemester 2019/2020 immatrikuliert – fast eine Million Studenten mehr als noch 2002/2003.

Die Überproduktion von Eliten

Daraus resultiert eine gleichermaßen ansteigende Nachfrage an entsprechenden Jobs. Seit geraumer Zeit aber übertrifft die Nachfrage das Angebot deutlich. So ist fast jeder Vierte Akademiker für seinen Job überqualifiziert. Während die Transformation Deutschlands von einer Industriegesellschaft zu einer Wissensgesellschaft mit dem Versprechen einer riesigen Nachfrage an gut ausgebildeten Arbeitnehmern vermarktet wurde, sieht die Realität etwas trister aus. Das hat zur Folge, dass der Wettbewerb innerhalb dieser Bildungs-Elite an Intensität zunimmt: Lehrstühle für die Spitze, Lieferando für den Rest. Anlehnend an die Arbeiten des Wissenschaftlers Peter Turchin lässt sich diese Entwicklung als Eliten-Überproduktion bezeichnen.

Die Arbeitsumwelt in den deregulierten, postindustriellen Konsumgesellschaften des Westens ist für die PMC also zunehmend feindselig geworden. Das sorgt – grob vereinfacht – für eine Spaltung der PMC in obere und untere PMC. Nur ein relativ kleiner Teil von ihr kann das an der Universität erlangte Wissen auch im Beruf unter Beweis stellen. Jene Glücklichen, die einen passenden Job finden, müssen sich oft genug mit schlechten, prekären Arbeitsbedingungen abfinden – bspw. im Journalismus oder an der Universität.

Daraus resultiert eine Dissonanz zwischen kultureller Sozialisation und materiellem Dasein. Die Folge: Sprache und Theorien, welche die PMC an den Universitäten lernte, werden genutzt, um kulturell an ihren erfolgreicheren Teil anzuschließen und sich gleichsam nach unten hin – d.h. von der Arbeiterklasse – abzugrenzen. Auf diese Weise vergewissert sich der untere Teil der PMC kulturell seiner Klassenzugehörigkeit zu ihrer besseren Hälfte.

Das ist der materielle Hintergrund der medialen Debatten der letzten Jahre über Diversität, Flucht, Fremdenhass, Rassismus, Feminismus, Gender-Theorie und dergleichen. Sie wurden allesamt von den Journalisten, Feuilletonisten, Politikern und Akademikern – Gallionsfiguren der PMC – der urbanen Zentren geführt. Man denke etwa an die »Black Lives Matter« oder die »Unteilbar« Demonstrationen in den deutschen Großstädten; oder an die zahlreichen Diskussionen um Gendern in der Sprache, solche über »alte, weiße Männer« oder die jene über Sexismus und Frauen in DAX-Vorständen und auf Parteilisten. All diese identitätspolitischen Debatten sind ein Abbild der Theorien und der Sprache westlicher (nicht selten US-amerikanischer) Universitäten.

Viel wichtiger als eine Bewertung dieser Debatten ist für uns, dass die PMC materiell von Identitätspolitik profitiert. Frauenquoten für Parteivorstände und Parteilisten bringen offensichtlich nur Vorteile für jene Frauen, die bereits der politischen Elite angehören – also vor allem akademischen Frauen der oberen Mittelschicht. Bei DAX-Vorständen muss man das nicht groß erläutern.

Die Obsession der PMC mit allen möglichen Formen der Unterdrückung (bspw. Sexismus, Rassismus, Klassismus, Ableismus, Transphobie, Homophobie etc.) und die daraus resultierenden Anklagen gegen »das System« oder »das Patriarchat« erlauben es selbst Studenten der oberen Mittelschicht sich in irgendeiner Weise als unterdrückt, marginalisiert oder Verteidiger dergleichen aufzuspielen. Dies qualifiziert sie moralisch die eigenen materiellen Interessen nur noch rigoroser gegenüber den Unterdrückern durchzusetzen. Es geht hier weniger um Tugendterror, als um das Anhäufen von akademischem und moralischem Kapital zum Aufbau einer Karriere in Zeiten wirtschaftlicher Stagnation.

Cancel Culture und die mittelalterliche Zunft

Ein ähnliches Phänomen stellt Cancel Culture dar. Ihr fielen zuletzt Kabarettisten wie Lisa Eckhart oder Dieter Nuhr zum Opfer. Eckhart wurde Antisemitismus zum Vorwurf gemacht, weil sie in Pointen (über deren Qualität sich naturgemäß streiten lässt) mit antisemitischen Vorurteilen spielte. Nuhr fiel u.a. deshalb in Ungnade, weil er in einer seiner Satiresendungen die Klimaaktivistin Greta Thunberg mit Stalin und Hitler verglich. Vor allem auf Twitter und Facebook wurde anschließend gefordert, Eckhart und Nuhr keine öffentliche Plattform mehr zu bieten – sie sollten gecancelt werden.

Cancel Culture lässt sich als ein diskursiver Kontroll- und Sanktionsmechanismus verstehen: Hier werden die Regeln dessen, was im privaten und öffentlichen Raum gesagt werden darf und was nicht, worüber Witze gemacht werden dürfen und worüber gelacht werden darf, demarkiert. Was als rassistisch, sexistisch, klassistisch, ableistisch, homophob, transphob oder xenophob geahndet werden muss, wird vor allem online in den sozialen Medien diskutiert.

Die Ehrenreichs erinnern uns daran, dass ein wesentliches Interesse der PMC die Ausarbeitung spezieller Berufsbilder mit spezifischen Erfordernissen ist. Auf diese Weise wird der Zugang zur Klasse reguliert. Erinnern wir uns zudem an die prekäre Situation großer Teile der PMC, dann sind wir in der Lage im Phänomen Cancel Culture ein Mittel zur Regulierung von Klassenzugehörigkeit zu erkennen. Aus der Geschichte kennen wir eine Institution, der dieselbe Aufgabe oblag: die mittelalterliche Zunft.

Wesentliche Funktionen der Zunft war die Kontrolle darüber, wer was wie und zu welchen Preisen produzieren darf. Die entsprechenden Regeln wurden in der Zunftordnung festgehalten. Von der Gewerkschaft unterscheidet sie u.a., dass die Zugehörigkeit zu ihr eine Bedingung dafür war, bestimmten Tätigkeiten in der Stadt nachzugehen: Wollte man als Schuhmacher arbeiten, musste man zunächst Teil der Schuhmacherzunft werden und sich ihren Regeln unterwerfen. Dadurch sicherte die Zunft ihre Mitglieder gegenüber fremder Konkurrenz ab. Darin lag ihr sozialer Nutzen für ihre Mitglieder.

Die Funktion von Cancel Culture ist eine ganz ähnliche: Hier wird verhandelt, wer zur informellen Zunft gehört und was die Bedingungen für die Aufnahme in die Zunft sind. Wer die falschen Lacher einheimst, wer die Gender-Theorie in Frage stellt oder Greta Thunberg kritisiert, der droht aus der Zunft geworfen zu werden. Ökonomisch betrachtet handelt es sich hierbei um wenig mehr als einfache Angebotspolitik auf einem überbevölkerten Arbeitsmarkt.

Obwohl prinzipiell jeder Job Teil der Cancel-Culture-Zunft sein kann (und laut Zunftmitgliedern auch sein sollte), gibt es Kernberufsgruppen. Dazu gehören Berufe, zu deren Aufgabenprofil es gehört, die Öffentlichkeit über die Zunftordnung zu unterrichten: Bspw. Hochschullehrer, Journalisten, Autoren, Diversity Manager, Künstler, Kabarettisten und Medienschaffende aller Couleur. Die Zunftordnung folgt dabei weniger einer konkreten Ideologie, sondern wird von der ihr zugrundeliegenden politischen Ökonomie getrieben. Sie ist ständig in Bewegung und entwickelt sich dauernd weiter.

Dadurch erfährt das akademische und kulturelle Kapital dieser Kernberufe einen enormen Wertzuwachs, denn ihre Expertise wird auf dem Arbeitsmarkt hoch gehandelt. So finden die Mitglieder der PMC nun Arbeitsplätze bei staatlich subventionierten NGOs, für die sie Aufklärungsarbeit leisten, ob und wie man Verstöße gegen die Zunftordnung ahndenkann. Sie können auch Anti-Diskriminierungstrainings für Unternehmen anbieten. Als Blogger können sie über die Einhaltung der Zunftregeln im öffentlichen Raum wachen, als Diversity Manager können sie der Belegschaft im eigenen Betrieb die Zunftordnung näher bringen und in Beratungsfirmen können sie die Unternehmungsleitung darüber aufklären, wie Diversität das Geschäft ankurbeln kann.

Aus diesem Grund ist auch das Klagelied der Konservativen unbefriedigend, denn Cancel Culture speist eben nicht aus einer fehlgeleiteten, linksgrünen Ideologie, sondern ist interessenlos und nihilistisch. Die freiwillige Akzeptanz jedweder Art von Unterdrückungstheorien durch das Kapital lässt den rechten Vorwurf, an der Universität sei ein subversiver Kulturmarxismus am Werk, schlichtweg albern aussehen.

Fremdenfeindlichkeit & offene Grenzen

Der Fall Sahra Wagenknecht erinnert uns daran, dass ein wesentliches Sine Qua Non der Zunftordnung das Bekenntnis zu offenen Grenzen, Toleranz und Vielfalt ist. Gerade weil dieses Bekenntnis immer im Namen der Toleranz und der Weltoffenheit geäußert wird, wirkt jeder Einspruch dagegen rückständig und moralisch anrüchig. Dennoch sollten wir auch hier den zugehörigen materiellen Hintergrund beleuchten. In Deutschland nimmt dieses Bekenntnis vor allem zwei Gestalten an: Die Forderung, Flüchtlinge aufzunehmen und zu integrieren sowie ein Bekenntnis zu Europa –inzwischen gleichgesetzt mit der Europäischen Union.

Offene Arbeitsmärkte sind etwa deshalb im Interesse der PMC, weil ihre Klassenstellung in der modernen Wirtschaft ihr einen grenzenlosen Lebensstil abverlangt. Bereits für das Studium mussten sie in vielen Fällen ihren Heimatort verlassen und in eine Großstadt ziehen. Dazu kommt der intensive Wettbewerb innerhalb der PMC, der ihnen abverlangt, dem Geld hinterher zu reisen, wohin es auch führt. Sie sind es gewohnt, für Ausbildung und Beruf umzuziehen, einfach weil sie es müssen. Im selben Maße sind sie auf Offenheit und Toleranz andernorts angewiesen. Sie sind das, was David Goodhart als »Anywheres« (i.S.v. „Nirgendwos“) bezeichnet. Sie stehen den »Somewheres« (i.S.v. „Dagebliebenen“) gegenüber: Oft ältere Menschen ohne Studium in den Peripherien des Landes. Diese Menschen empfinden in der Regel eine relativ starke Bindung zu der lokalen und regionalen Gemeinschaft, in der sie oft aufgewachsen sind und den Großteil ihres Lebens verbringen.

Ein anderer Name für diesen Antagonismus von »Anywheres« und »Somewheres« wäre der von »Globalisierungsgewinnern« und »Globalisierungsverlierern«. Anschaulich werden die Konsequenzen der Globalisierung, wenn man sich die wirtschaftliche Kluft zwischen den urbanen Zentren und ihren Speckgürteln einerseits und den ländlichen Regionen sowie den »strukturschwachen« Städten (vor allem Ostdeutschlands und des Ruhrpotts) andererseits anschaut.

Aber auch innerhalb der deutschen Städte lässt sich zwischen Globalisierungsgewinnern und Globalisierungsverlierern unterscheiden, wie bereits ein flüchtiger Vergleich von Berlin-Charlottenburg und Marzahn-Hellersdorf beweist. Auch der Erfolg von Diensten wie Uber und Lieferando liegt nicht im vermeintlich innovativen Geschäftsmodell, sondern im riesigen Pool von Menschen, die bereit sind zu prekären Bedingungen und für schlechten Lohn zu arbeiten. Offene, globalisierte Arbeitsmärkte sind schon deshalb nicht im Interesse der Arbeiterklasse, weil sie für Druck im Niedriglohnsektor sorgen.

Die AfD, Donald Trump und der Brexit sind allesamt gute Belege dafür, dass offene Arbeitsmärkte zudem früher oder später zu einer inneren Spaltung der Arbeiterklasse in zwei feindliche Lager führen: Deutsche und Ausländer. Das war auch Karl Marx klar, der seiner Zeit vom künstlichen Antagonismus zwischen irischen und englischen Arbeitern sprach, der von der herrschenden Klasse aufrechterhalten werde – heute würde man sagen, sie schüren Fremdenhass. Interessanterweise war Marx Forderung kein grenzenloser Arbeitsmarkt, sondern die Solidarität der englischen Arbeiterklasse mit der irischen im Kampf um nationale Souveränität im eigenen Land.

Nun haben sich die Zeiten seitdem jedoch geändert. Die herrschende Klasse propagiert heute nicht mehr Fremdenhass. An die Stelle solcher Ressentiments tritt inzwischen die Zunftordnung mit ihrem liberalen Kosmopolitismus, der das Überwinden von Vorurteilen und kulturellen Schranken im Namen der Nächstenliebe fordert.

Die Bundesregierung hat sich ihr bereits offiziell verschrieben. Autohersteller wie VW, die bereits zu Beginn der 90er Jahre ihre Produktion in die osteuropäischen Billiglohnländer verlagerten, sind zusammen mit den Linken heute die größten Verfechter europäischer Werte (ähnlich wie Goldman Sachs in Großbritannien). SPD-Politiker wie Katarina Barley machen Wahlkampf im EU-Hoodie und Unternehmen aus der Industrie und Finanzbranche fordern die Aufnahme von Flüchtlingen aus dem Flüchtlingslager »Moria« sowie deren Integration in den deutschen Arbeitsmarkt. In den USA positionierten sich Konzerne wie Amazon und Starbucks im Kampf gegen Rassismus Seite an Seite mit „Black Lives Matter“. Diversität – so viel ist klar – ist höchst profitabel.

Linke Propaganda oder PR?

Der springende Punkt an der Sache ist nicht die Doppelmoral und Scheinheiligkeit, die hinter dieser oder jener Form von Identitätspolitik oder Cancel Culture steht, wie es konservative und liberale Kritiker immer wieder bemängeln. Sie wollen lediglich „schlechte Ideen“ mit „guten Ideen“ therapieren und übersehen dabei die zugrundeliegende politische Ökonomie. Der Punkt ist stattdessen ein ganz einfacher: Hinter jedem dieser scheinbar kulturellen Phänomene lassen sich handfeste materielle Interessen finden. Dazu zwei Beispiele.

In den USA begann der Football-Spieler Colin Kaepernick aus Solidarität mit »Black Lives Matter« während der US-Hymne vor jedem Spiel in die Knie zu gehen. Damit erzürnte er nicht nur Präsident Trump, sondern machte auch medienwirksam auf seine Person aufmerksam. Kaepernick, dessen Karriere zu diesem Zeitpunkt bereits ihren Höhepunkt überschritten hat, unterschrieb schließlich 2018 einen Werbevertrag mit dem Sportausrüster Nike. Der Deal war aber nicht nur für Kaepernick lukrativ, denn Nike’s Marktwert ist seitdem um gute 26,2 Milliarden US-$ gestiegen. Noch nie war anti-rassistischer Protest so profitabel.

In Deutschland läuft der Hase nicht anders. Nachdem etwa die taz-Jouranlistin Hengameh Yaghoobifarah in einer ihrer Kolumnen über Kapitalismus und Polizei fantasierte und Polizisten mit Abfall verglich (wofür sie anschließend Mord-Drohungen erhielt), gelangte sie tagelang in die nationalen Schlagzeilen. Und weil jede Publicity gute Publicity ist, überrascht es wohl kaum, dass nur wenige Wochen später Großaufnahmen der Kolumnistin die Schaufenster des KaDeWe zierten.

Die Posse um ihre Kolumne, in die sich selbst Innenminister Horst Seehofer einmischte, erwies sich somit als brillanter Business-Move, der in einem Werbevertrag mit einem Luxuskaufhaus mündete (wo sie nach eigenen Angaben „linke Propaganda“ betreiben konnte). Dabei ist absolut zweitrangig, ob oder wie viel Geld sie für die Werbung erhielt, denn der Wert, den ihr Name – oder besser: ihre Marke – dadurch an Wert gewonnen hat, ist schier unermesslich. Es ist ein verheerendes Urteil über den Stand der öffentlichen Debatte, wenn schnöde PR in linken Kreisen als subversiv und kapitalismuskritisch gefeiert und in konservativen Kreisen als linksextremistischer Kulturmarxismus kritisiert wird.

Es gibt kein Entrinnen von Klasse

Identitätspolitik ist die Politik der herrschenden Klasse. Sie spiegelt ihre Interessen wider und dient ihnen. Die Advokaten von Identitätspolitik sind in diesem Sinne reaktionär. Es handelt sich dabei um Klassenpolitik des Kapitals im Bündnis mit der PMC. Dass sich selbst eine angeblich linke Partei wie die die Linkspartei der Identitätspolitik verschrieben hat, weist auf ein tieferliegenden Antagonismus innerhalb der Linken hin: Sie ist inzwischen eine Partei der PMC geworden. Nominell mag sie zwar für Sozialismus und Antikapitalismus stehen, doch bei der realen Arbeiterklasse ist sie längst in Ungnade gefallen. Ihr Wählerprofil passt sich dem der Grünen seit 2009 immer mehr an: Viele urbane, junge Menschen, oft im Studium, mit Ausblick auf ein gutes Gehalt.

Das zeigen auch Wahlanalysen der Bundestagswahl 2017: Jeder vierte Arbeiter wählte konservativ. Weitere 23% von ihnen wählten SPD, 21% die AfD und nur 10% wählten Linkspartei (2009 waren es noch 35%!). Ein ähnliches Bild ergibt sich bei den Arbeitslosen: Trotz Verluste ist die SPD hier mit 23% die stärkste Kraft, dicht gefolgt von der AfD mit 21% und CDU mit 20% – nur 10% wählte Linkspartei (2009 waren es 31%). Fast 1,5 Millionen Nichtwähler gaben ihre Stimme 2017 für die AfD ab. Die AfD ist damit nicht nur die Arbeiter-, sondern auch die Protestpartei Deutschlands.

Die Forderung, linke Parteien müssen endlich wieder Klassenpolitik betreiben, statt sich an Themen wie Identitätspolitik und Cancel Culture abzuarbeiten, ist daher Unsinn. Ihr liegt die Vorstellung zugrunde, man könnte Klassenpolitik von »Aus« auf »An« schalten; als könne man sich mir nichts, dir nichts aus der Klassengesellschaft begeben. Aber es gibt kein Entrinnen von Klasse: Jede Politik ist Klassenpolitik. Das ist auch der Noch-Vorsitzenden der Linkspartei Katja Kipping bewusst. Auf die Frage, was sie denn tue, wenn sie nicht mehr zum Stammtisch der einfachen Leute eingeladen wird, entgegnet sie: Sie warte gar nicht auf Einladungen, sondern veranstalte ihren eigenen Stammtisch. Das sollte man ernst nehmen: Die deutsche Linke hat eine neue Klassenbasis für sich gefunden – die PMC.

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