Zur Wagenknecht Kontroverse

Wagenknecht Die Selbstgerechten und der Vorwurf des Klassenverrats

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„Erstens müssen diese Leute, um der proletarischen Bewegung zu nutzen, auch wirkliche Bildungselemente mitbringen. Dies ist aber leider bei der großen Mehrzahl der deutschen bürgerlichen Konvertiten nicht der Fall. Weder die "Zukunft" noch die "Neue Gesellschaft" haben irgend etwas gebracht, wodurch die Bewegung um einen Schritt weitergekommen wäre. An wirklichem, tatsächlichem oder theoretischem Bildungsstoff ist da absoluter Mangel. Statt dessen Versuche, die sozialistischen, oberflächlich angeeigneten Gedanken in Einklang zu bringen mit den verschiedensten theoretischen Standpunkten, die die Herren von der Universität oder sonstwoher mitgebracht und von denen einer noch verworrener war als der andre, dank dem Verwesungsprozeß, in dem sich die Reste der deutschen Philosophie heute befinden. Statt die neue Wissenschaft vorerst selbst gründlich zu studieren, stutzte sich jeder sie vielmehr nach dem mitgebrachten Standpunkt zurecht, machte sich kurzerhand eine eigne Privatwissenschaft und trat gleich mit der Prätension auf, sie lehren zu wollen. Daher gibt es unter diesen Herren ungefähr soviel Standpunkte wie Köpfe; statt in irgend etwas Klarheit zu bringen, haben sie nur eine arge Konfusion angerichtet - glücklicherweise fast nur unter sich selbst. Solche Bildungselemente, deren erstes Prinzip ist, zu lehren, was sie nicht gelernt haben, kann die Partei gut entbehren.“

Zirkularbrief an Bebel, Liebknecht, Bracke u.a. Karl Marx/Friedrich Engels - Werke. (Karl) Dietz Verlag, Berlin. Band 19, 4. Auflage 1973, unveränderter Nachdruck der 1. Auflage 1962, Berlin/DDR. S. 150-166.

„Der Sozialismus der Bourgeoisie besteht eben in der Behauptung, daß die Bourgeois Bourgeois sind - im Interesse der arbeitenden Klasse.“

Manifest der Kommunistischen Partei. Karl Marx/Friedrich Engels - Werke. (Karl) Dietz Verlag, Berlin. Band 4, 6. Auflage 1972, unveränderter Nachdruck der 1. Auflage 1959, Berlin/DDR. S. 459-493.

Es gibt eine Reihe von Dogmen, die innerhalb der Linken als unumstößlich gelten und die man nicht allzu penetrant hinterfragen sollte. Dazu gehören u.a. Feminismus, Anti-Rassismus und offene Grenzen. Wer bspw. ernsthaft den subversiven Gehalt von Anti-Rassismus in Zweifel zu ziehen versucht, der macht sich – ungeachtet der Argumente – schnell Feinde unter Linken. Da hilft auch nicht, der Verweis darauf, dass sog. “Rassen” nicht existieren. Ebenso nutzlos ist der Verweis darauf, dass sich die Zentren der Macht dem anti-rassistischen Zeitgeist nur allzu gern anbiedern. Dabei, so heißt es, handle es sich jedoch nicht um „wahren“ Anti-Rassismus. Diese Art der Verteidigung kennt man, wenn man sich mit Linken über Frauen-Quoten für DAX-Vorstände unterhalten durfte. Auch diese seien nicht “wirklich” feministisch. Man wird damit vor eine Wahl gestellt: Entweder man akzeptiert, dass diese Konzepte einfach böswillig vom Kapital kooptiert, ihres subversiven Potenzials auf geniale Weise entleert wurden und dass die Linke ein ums andere Mal Opfer böser Mächte wurde. Man tut sodann Buße, indem man das Thema als erledigt betrachtet, es ruhen lässt und seine geistige Energie fortwährend anderen Themen widmet. Oder man gibt sich mit dieser Art Erklärung nicht zufrieden und fragt vielleicht kritisch nach, wie es sein kann, dass sich ein derart radikales Konzept denn so leicht kooptieren lassen könne. In diesem Fall sollte man allerdings mit Konsequenzen rechnen.

Am Beispiel Sahra Wagenknechts lassen sich diese Konsequenzen ablesen. In ihrem Buch „Die Selbstgerechten“ rechnet sie mit dem ab, was sie Lifestyle-Linke nennt: junge, urbane und kosmopolitische Akademiker, die sich mehr für Identitätspolitik interessieren, als für die heimischen Arbeiter, die sie nur allzu gerne als rassistisch, sexistisch oder sonst wie kulturell zurückgeblieben erachten. Es überrascht wohl kaum, dass diejenigen Textstellen aus dem Wagenknecht Buch, die für die größte Aufregung sorgen, im Grunde ausformulierte Binsenweisheiten sind: Etwa, dass Identitätspolitik sich auf die Bedürfnisse immer skurrilerer Minderheiten richtet – und nicht jener, der Mehrheit der Bevölkerung. Oder, dass viele der politischen Diskussionen – gerade innerhalb der Linken – an den Bedürfnissen von Arbeitern und Geringverdienern vorbei gehen und sich stattdessen nach den Belangen einer akademischen Mittelschicht richtet. Und dass offene Arbeitsmärkte für Druck in unteren Lohnsegmenten und verschärften Wettbewerb um knappe Ressourcen sorgen, ist für Anhänger materialistischer Analysen auch keine Neuigkeit. Man mag die Formulierungen für überspitzt halten, aber nichts daran ist neu oder kontrovers.

Kritik an Wagenknecht

Die Linke sieht das gewiss gänzlich anders. Niema Mossavat, MdB und im Vorstand der Linkspartei, fühlte sich zu einer Tirade auf Twitter genötigt, in der er empört Wagenknecht allerlei böse Sachen in den Mund legt. Für Mossavat ist es bereits schändlich, als Politikerin eine Idee von „Leitkultur“ zu haben. Parteigenossin Ulla Jelpke stört sich derweil insbesondere daran, dass Wagenknecht die Klasse von Aktivisten und die „wirklichen Bewegungen“ wie Fridays for Future, Seebrücke oder Unteilbar als aktivistische Petite Bourgeoisie kritisiert. Weil aber kein Wagenknecht-Buch ohne den Vorwurf der Nähe zur AfD komplett rezensiert wäre, lässt sich Tomasz Konicz für die Kontext nicht lange bitten und macht darauf aufmerksam, dass sehr problematische Figuren Wagenknecht zustimmen. Zudem sei ihr Buch eine Abkehr von „fortschrittlicher Politik“ und nicht mehr zeitgemäß. Und Peter Nowak zeigt sich erbost darüber, dass Wagenknecht den ehemaligen Parteivorsitzenden der Linken, Bernd Riexinger, indirekt als Lifestyle-Linken bezeichnet – Hochwürden war immerhin Gewerkschafter.

Stefan Reinecke von der taz fügt hinzu, Wagenknechts Kritik an der EU erinnere an „rechtskonservative EU-Skeptiker“ und befindet ihr Buch als „konservative Zerfallserzählung und Ungleichheitskritik“ – fast schon eine Beleidigung, da wo Reinecke arbeitet. Regelrecht unterhaltsam wird es aber erst, wenn Gewerkschaftsökonom und SPD-Mitglied Michael Wendl für den Oxi-Blog Wagenknecht den Abschied vom Marxismus attestiert, weil sie die Konsequenzen der EZB-Politik für die deutschen Sparer thematisiert und sich – im Gegensatz zu der „sozialistisch inspirierten Gewerkschaftsbewegung“ – gegen offene Arbeitsmärkte ausspricht. Der Tiefpunkt in der Wagenknecht-Debatte wird schließlich beim Lower Class Magazine erreicht. Dort stellt man sich die Frage, warum die Nachkriegszeit – immerhin eine einmalige Zeit des Gleichgewichts zwischen Kapital und Arbeit sowie Demokratie und Kapitalismus – für Wagenknecht und ihre Politik so sehr von Bedeutung ist:

Ihre große Vision ist die Rückkehr in die BRD der 50er und 60er Jahre, als die Löhne für alle noch hoch waren. Dazu muss die Linke um jeden Preis den Arbeiter für sich gewinnen. Warum und was das bringen soll, wird nicht erklärt.

Dies soll aber kein Text sein, der Wagenknecht vor unfairen Verkürzungen und Angriffen in Schutz nimmt. Das kann sie a) selber und b) haben die letzten knapp zehn Jahre gezeigt, dass solch ein Vorhaben ohnehin zum Scheitern verurteilt ist. Die Empörung und Hysterie rund um Wagenknechts Buch soll stattdessen als Anlass genommen werden, in einigen Zeilen zu ergründen woraus sich die Aufregung unter Linken über Wagenknecht speist.

Reaktionär, nicht radikal

Linke haben ein Bild von sich selbst als radikale Avantgarde, als Speerspitze einer diversen, multikulturellen Bewegung. Eine Allianz aller marginalisierten Gruppen á la Herr der Ringe soll die ersehnte sozial-ökologische Transformation herbeibringen. Die Empörung im rechten und konservativen Lager, die ihr angesichts ihrer utopischen Ambitionen entgegenschlägt, und die Vorwürfe, es handle sich hierbei um radikale Revoluzzer und Kulturmarxisten, genießen Linke geradezu, entsprechen solche Anschuldigungen doch exakt ihrem Selbstbild. Linke erachten sich selbst mit dem für sie so typischen, narzisstischem Hochmut als das politische Subjekt. Ihr obliegt die Aufgabe, den Faschismus zu besiegen, die Klimakrise abzuwenden und nebenbei die Marginalisierten der Welt ins gelobte Land zu führen. Der Zorn und der Spott etwa, den Jana aus Kassel auf sich zog, als sie auf einer Demo gegen die Coronapolitik verkündete, sie fühle sich wie Sophie Scholl, rührt vor allem daher, dass es als Anmaßung empfunden wurde, wähnt man sich doch selbst in der Rolle der Widerstandskämpferin. Aber nichts ist weiter entfernt von der Wahrheit.

Das lässt sich insbesondere am leidlichen Thema Identitätspolitik zeigen. Die typische 08/15 Verteidigung linker Kulturpolitik versucht verzweifelt zu betonen, Anerkennungspolitik und Umverteilungspolitik ständen in keinerlei Spannungsverhältnis zueinander, sondern würden einander bedingen und radikale Politik erst ermöglichen. Natürlich sei Identitätspolitik da, wo sie ad absurdum geführt wird, zu kritisieren, doch solle man nicht gleich das Kind mit dem Bade ausschütten. Man dürfe, so heißt es dann, nicht das eine gegen das andere ausspielen, wie es Wagenknecht tut. Linke, sog. »solidarische Kritik«, heißt es, »würde darauf reagieren, indem sie versucht die Widersprüche zwischen diesen zu vermitteln statt im Schielen auf Wahlergebnisse forcierte Entsolidarisierung zu betreiben«. Für den vorliegenden Text ist dabei insbesondere die Gegenüberstellung von Anerkennungs- und Umverteilungspolitik aufschlussreich. Es ist, als habe sog. Anerkennungspolitik keinerlei materielle Auswirkungen, etwa wenn staatliche Behörden Diversity Workshops für ihre Belegschaft buchen, Firmen entsprechende Quoten einführen und Diversity Manager einstellen. Die Wahrheit ist natürlich, dass es sich bei linker Kulturpolitik keineswegs um sog. postmaterielle Politik handelt. Genau das Gegenteil ist der Fall. Die Funktion dieser Art der Kulturpolitik ist es eine Nachfrage zu schaffen für die Dienstleistungen einer kleinen, abwärts mobilen Schicht von jungen Akademikern. Man ist daher gut beraten, nicht allzu viel auf die radikale Rhetorik geben: ACAB und Antikapitalismus sind kein Ballast, sondern bona fides für Karrieren in den Segmenten der Wissens- und Konsumgesellschaft.

Es ist wie bei dem Witz Žižeks über den Arbeiter in der Schubkarren-Fabrik: Ein Arbeiter wird verdächtigt zu stehlen, weshalb er jeden Abend nach Schichtende auf Diebesgut durchsucht wird, doch seine Schubkarre ist stets leer. Eines Tages dämmert es den Wächtern: er klaut die Schubkarren. Ähnlich verhält es sich bei Linken und den Diskussionen um Cancel Culture und Identitätspolitik. Trotz aller Bekundungen, wie wichtig Repräsentation, Symbolpolitik und Identität für sog. „radikale Politik“ sei: Es handelt sich hierbei mitnichten um radikale Politik, sondern um das genaue Gegenteil. Unter dem Deckmantel eines radikalen kulturellen Umerziehungsprogramm verstecken sich in Wahrheit zutiefst reaktionäre, materielle Interessen, von denen die Linke getrieben wird. Zur Logik hinter Identitätspolitik und dergleichen gehört natürlich auch, dass das große Ziel – das Ende von Rassismus, Sexismus und anderen Formen der Diskriminierung – niemals erreicht werden kann, denn damit entfiele auch die Existenzberechtigung tausender Arbeitsplätze im Bereich Antidiskriminierung, Demokratieförderung etc. Man muss den Beteiligten nicht einmal Zynismus vorwerfen, denn an die Sinnhaftigkeit dessen zu glauben, was einem die eigenen Rechnungen bezahlt, ist eine nur allzu menschliche Eigenschaft.

Wessen Interessen vertritt die Linke?

Ein Trend, den man in vielen westlichen Ländern beobachten kann ist der zunehmende Exodus der traditionellen Arbeiterklasse aus dem Wählertum der Linken. Auch in Deutschland wählen seit über zehn Jahren immer weniger Arbeiter und Arbeitslose links. Das DIW befand nach der Bundestagswahl 2017 z.B., dass sich die Wählerstruktur der Linkspartei immer mehr jener der Grünen anpasse. Das bedeutet: junge, urbane, studierte und gut ausgebildete Menschen. Diese Klasse von Lohnabhängigen verdient ihren Lebensunterhalt nicht mit körperlicher Arbeit und der Produktion von Waren, sondern vor allem mit sog. mentaler Arbeit, etwa der Manipulation von Information und dem Management von Arbeitsabläufen. Diese Klasse zeigt sich in Gestalt von Journalisten, Lehrern, Wissenschaftlern, Ingenieuren und Managern. Zudem ist sie zu einem beachtlichen Teil von staatlichen und privaten Transferleistungen, also Steuern und Spenden, abhängig. Ihre Entstehung ist eng verbunden mit dem Bedürfnis des Kapitals nach Effizienz- und Produktivitätssteigerungen und dementsprechend besserem Management. Ihre Expansion im 20. Jahrhundert lässt sich hingegen zurückführen auf die Entstehung und Expansion der Wissensgesellschaft seit den 70er Jahren, Deindustrialisierung, Finanzialisierung und Globalisierung, kurz: Neoliberalismus.

Der Begriff für diese Klasse von Managern, Ingenieuren, der sich im Englischen durchgesetzt hat, lautet: Professional Managerial Class (PMC). In ihrem Essay über die PMC aus dem Jahr 2013 nahmen John und Barbara Ehrenreich aufgrund der verheerenden Auswirkungen des Neoliberalismus gerade für die unteren Segmente der PMC an, ihre Überreste würden »in den kommenden Jahren […] zunehmend gemeinsame Sache mit den Überresten der traditionellen Arbeiterklasse machen, um – als Mindestes – im politischen Prozess repräsentiert zu sein.« In der Tat war dies das Projekt eines linken Populismus à la Jeremy Corbyn und Bernie Sanders, das inzwischen als eklatant gescheitert erachtet werden darf. Corbyn brachte Labour 2019 das schlechteste Wahlergebnis seit gut einem Jahrhundert ein und auch Bernie Sanders gelang es 2020 nicht sich gegen Joe Biden, der zombiehaften Personifizierung des US-amerikanischen Establishment durchzusetzen.

Nicht nur blieb die große Revolution hüben wie drüben aus, es kam noch schlimmer: Mit dem Protest gegen die Flüchtlingspolitik unter Merkel, dem Votum für den Brexit und der Wahl Donald Trumps hat sich eine Art Aufstand der Massen entwickelt, der nicht nur die Redaktionsstuben der westlichen Hemisphäre in Schrecken versetzte, sondern auch noch den jahrelangen Exodus der Arbeiterklasse aus der Linken zusätzlich befeuerte. Gerade in Deutschland war man sich anfangs noch uneins darüber, wie man damit umzugehen habe: Ob man etwa »mit Rechten reden« solle, ob man mit »denen« überhaupt reden könne und ob die überhaupt für die Faktenlage zugänglich seien; oder ob man nicht schneller zum Kern des Sache käme, würde man die sog. »besorgten Bürger« (die in Wahrheit natürlich gar nicht besorgt seien, sondern nur ihre Ressentiments ausleben) im Stile eines Anthropologen aus dem 19. Jahrhundert studieren, um zu ergründen was die Subalternen denn Seltsames denken und weshalb. Bald wurde allerdings deutlich, dass »Dunkeldeutschland« sich weder durch billige politische Zugeständnisse, noch durch das Gefühl »gehört zu werden« kaufen lassen würde. Auch die Linke zog daraus ihre Schlüsse. So heißt es bspw. bei Analyse & Kritik in Bezug auf die Corona-Demo vor dem Reichstag im August letzten Jahres: »Alles Nazis? Wohl nicht. Doch mit diesen Leuten ist keine solidarische Gesellschaft zu machen – das haben zum Glück die meisten Linken verstanden.« So formierte sich schließlich aufbauend auf einem Selbstbild als erleuchtete Elite bald breiter Widerstand von Oben im Kampf gegen Faschismus, Rassismus und Menschenfeindlichkeit.

In Deutschland umfasst diese Allianz angeführt von der »Nobilität der modernen Wissensgesellschaft« (Malcom Kyeyune) u.a. altehrwürdige antifaschistische Institutionen wie den Bundesverband der deutschen Industrie, die großen Gewerkschaften sowie den Verfassungsschutz. Sogar auf Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier, seines Zeichens geistiger Architekt der Agenda 2010, kann die Linke im Kampf gegen Rassismus zählen. Dass die »progressive« PMC nun gemeinsame Sache macht mit nahezu allen staatlichen und privaten Zentren der Macht, ist jedoch nicht verwunderlich, sondern viel mehr die logische Konsequenz des langsamen und qualvollen Todes des linken Populismus. Statt das Proletariat ins neue Jerusalem zu führen, führte man sie in die Arme der Tories und der Republikaner (und setzte genau das fort, was Blair und Schumer vorangetrieben haben). Ihres populären Rückhalts weitestgehend beraubt hatte die Linke keine andere Wahl als mit den Lehnsherren zu paktieren, um die eigenen Interessen zu verfolgen. Was ihr bleibt ist ihre Rolle als antifaschistischer Stoßtrupp im diskursiven Häuserkampf in den sozialen Medien und den Medienkonzernen – eine Rolle, die sie überaus ernst nimmt.

Dabei waren die revolutionären Ambitionen der PMC stets recht erbärmlich. Gelinde gesagt handelt es sich bei der PMC nicht gerade um den Inbegriff einer revolutionären Klasse, gerade weil ihre Fortexistenz und ihre Reproduktionsbedingungen als Klasse weitgehend von der Gnade ihrer privaten und staatlichen Finanziers abhängen. Und das, was sie sich unter einem »linken Gesellschaftsentwurf« und der »sozial-ökologischen Transformation« vorstellt, ist am besten umschrieben als liberale Utopie, eine Art Sozialdemokratie auf MMT-Steroiden, die in erster Linie den oberen 30% der Gesellschaft nützt. Grundlegender Imperativ ist dabei das Wohl der PMC zu gewährleisten, was im Grunde auf die Ausweitung staatlicher Tätigkeiten sowie die Schaffung neuer Arbeitsplätze im Bereich des Managements hinausläuft. Ein Paradebeispiel für diese Art Politik ist der Berliner Mietendeckel, der vor allem die Mieten der beliebten Berliner Bezirken senken ließ und damit die Hoffnung der kreativen Klasse Berlins barg, eines Tages nicht Tür an Tür mit dem Pöbel wohnen zu müssen.

Zwei Arten des Diskurses: Identifikation und Projektion

Natürlich können Linke aber nicht offen zugeben, schlichtweg eigene Interessen zu verfolgen, geschweige denn gänzlich andere Interessen zu haben als die arbeitende Klasse. Daher bedingt das gesamte linke Projekt die Vortäuschung falscher Tatsachen. Sie ist gezwungen ihre Interessen als universal, oder zumindest als jene der berühmt-berüchtigten „99 Prozent“ darzustellen. Um den Klassenwiderspruch in ihrem Innern zu übertünchen verfügt sie über zwei erfolgreiche Taktiken. Die eine besteht in dem Vorwurf moralischer Unzulänglichkeit. Unter Rückgriff auf Schmitt’sche Freund-Feind Unterscheidungen erscheint der Widersacher nicht mehr bloß als politischer Widersacher mit unterschiedlichen Interessen, sondern als Gegner der Menschheit, der Demokratie und westlicher Werte. Auf diese Weise lassen sich komplexe politökonomische Sachverhalte auf moralische Fragestellungen reduzieren: Das Austarieren unterschiedlicher politischer Interessen degeneriert zu einem Kampf von »Gut« gegen »Böse«. Carl Schmitt dazu:

Wenn ein Staat [oder Bewegung, Partei usw.] im Namen der Menschheit seinen politischen Feind bekämpft, so ist das kein Krieg der Menschheit, sondern ein Krieg, für den ein bestimmter Staat gegenüber seinem Kriegsgegner einen universalen Begriff zu okkupieren sucht, um sich (auf Kosten des Gegners) damit zu identifizieren, ähnlich wie man Frieden, Gerechtigkeit, Fortschritt, Zivilisation mißbrauchen kann, um sie für sich zu vindizieren und dem Feinde abzusprechen. „Menschheit" ist ein besonders brauchbares ideologisches Instrument imperialistischer Expansion und in ihrer ethisch-humanitären Form ein spezifisches Vehikel des ökonomischen Imperialismus. Hierfür gilt, mit einer naheliegenden Modifikation, ein von Proudhon geprägtes Wort: wer Menschheit sagt, will betrügen.

Mit dieser Art narzisstischer Identifikation mit dem »Guten« lässt sich Kritik an den Kernglaubenssätzen linker Politik anrüchig und damit praktisch unmöglich machen. Das Politische verschwindet damit vollends zugunsten eines vulgären Moralismus, der nur Freund und Feind der Menschheit kennt. Die EU – deren Synonym inzwischen »Europa« geworden ist – erscheint dann als supranationale Solidargemeinschaft und Wächterin europäischen Friedens und nicht als politisches und ökonomisches Gebilde, das sehr zuverlässig Gruppen von Gewinnern und Verlieren erzeugt. Gleiches gilt für den öffentlichen Rundfunk und die Arbeit von NGOs, die beide als sine qua non demokratischer Wehrhaftigkeit in Zeiten populistischer, wenn nicht faschistischer Gefahr verkauft werden – und nicht etwa als vom Steuerzahler subventionierte Arbeitsplätze für die akademische Mittelschicht. Es liegt somit in der Natur der Sache, dass die Linke existenziell auf die Gefahr des »Faschismus«, der »Klimakatastrophe« und dergleichen angewiesen ist, liegt doch gerade in dieser Gefahr ihr raison d’être.

Die zweite Option besteht darin zu insistieren, es handle sich bei dem, was als politischer Gegensatz in Erscheinung tritt, in Wahrheit nur um ein Missverständnis. Eine beliebte Version dieser Variante versucht den Anschein ernsthafter Kritik zu erwecken, indem etwa das eigene Scheitern mit diesem oder jenen strategischen Fauxpas, Personalfragen oder Nebensächlichem erklärt wird, ohne ernsthaft die Orthodoxie in Erklärungsnot zu bringen. Mit Begriffen wie „Ideologie“ lässt sich unterstellen, dass die Leute einem schrecklichen Schwindel zum Opfer fielen, der sie davon abhielt ihren »wahren« Interessen zu folgen. Hinter dem, was die Linke als »Ideologiekritik« zu vermarkten versucht, steckt aber nicht nur ein zutiefst elitäres Menschenbild, wonach sich die passiven Massen nur allzu leicht von boshaften Ideologen und Demagogen verführen lassen, sondern darüber hinaus eine gute Portion Projektion: So hieß es etwa im Kontext des Brexits, die Briten seien von einer Clique skrupelloser Demagogen hinters Licht geführt worden. Dabei ergaben Umfragen das Gegenteil, dass nämlich die meisten Brexit-Befürworter den politischen Personen sehr kritisch gegenüberstanden. Der größte Personenkult herrschte tatsächlich um den linken Remainer Jeremy Corbyn. Ein anderer Vorwurf lautete auf Angstmacherei in Fragen der Migration – ein lächerlicher Vorwurf angesichts der Tatsache, dass Großbritannien zu den tolerantesten Nationen Europas gehört. Für die Brexit-Befürworter war das Referendum tatsächlich eine Frage der Souveränität – die Furcht vor den ökonomischen Folgen des Brexits hingegen war im Lager der Remainer die größte Motivationsquelle.

Die politische Konsequenz dieser eher plumpen Art der Projektion ist ein riesiges Arbeitsbeschaffungsprogramm für die akademische Mittelklasse. Eine Armee von Journalisten, Sozialwissenschaftler, Autoren, Public Intellectuals, Podcaster und Faktenchecker stehen bereit, um ihre Aufklärungsarbeit und »Ideologiekritik« in den Dienste der Allgemeinheit zu stellen. Ziel ist ein »dialektischer Prozess« der »wechselseitigen Durchdringung von Intellektuellen und subalternen Klassen«, bei dem Letztere über ihre »wahren« Interessen und die tatsächliche Faktenlage von der linken Intelligenzija aufgeklärt werden mit der impliziten Aufforderung an die Untergebenen, in der jetzigen Gesellschaft stehenzubleiben, aber die gehässigen Vorstellungen von derselben abzustreifen. Ausgestattet mit einem trügerischen Gefühl intellektueller Überlegenheit und einer guten Portion missionarischen Eifer schreibt etwa Peter Nowak bei Telepolis, der Marxismus sei „angetreten, den Lohnabhängigen ihre falschen Vorstellungen von der Welt argumentativ auszutreiben“ (Darüber wie viele „Lohnabhängige“ – eine sehr krude Kategorie, umfasst sie doch Postboten wie Manager gleichermaßen – sich erfolgreich, geschweige denn freiwillig, dieser Art „marxistischen“ Exorzismus unterziehen durften, lässt sich nur mutmaßen).

Populismus ohne Populus

Das Potemkinsche Dorf der Linken ist jedoch auf Sand gebaut, denn ihre Ideologie hat außerhalb der Universitätsstädte und der Medienwelt kaum Rückhalt. Sie befindet sich heute in einer ähnlichen Situation wie sie Christopher Lasch 1986 für die amerikanische Linke beschrieb. Sie spricht nicht mehr für die einfachen Leute und kann ihre »sozial-ökologische Transformation« bestenfalls angesichts öffentlicher Indifferenz und schlimmstenfalls gegen populären Widerstand durchsetzen. Ihr bleibt im Grunde die Wahl zwischen zwei zwecklosen Optionen: Entweder sie wartet hoffnungsvoll auf das Telos der Geschichte, die glorreiche Revolution, während sie gegen »das System«, »den Kapitalismus«, »das Patriarchat« und dergleichen wettert, oder sie verzichtet auf den Aufbau einer umfassenden Wählerschaft und umgeht die öffentliche Meinung unter Rückgriff auf die Medien, Gerichte, NGOs und die administrativen Bürokratien von Staat und EU.

Für den langen Marsch durch die Institutionen an ist die Linke jedoch abhängig von der Gnade ihrer privaten und staatlichen Finanziers. Das »Demokratiefördergesetz«, das die finanzielle Förderung von NGO-Projekten durch den Staat längerfristig machen soll, ist ein unmissverständliches Zeichen dafür, dass ihr diese Gnade auch zukommen wird und dass die Zentren der Macht die Linke als Diskurspolizei zu schätzen wissen. Wie in den USA angesichts des Wahlsiegs der Demokratischen Partei kann man auch hierzulande erwarten, dass diese Art Allianz im Falle einer Regierungsbeteiligung der Grünen gestärkt und vertieft wird. Links scheint man sich dessen durchaus bewusst zu sein. Wenn sich etwa linke Influencer über ad absurdum geführte Identitätspolitik bei den Grünen lustig machen, bedienen sie mit dieser Art „Kritik“ die dringende gesellschaftliche Nachfrage nach einem glaubwürdigen Korrektiv gegen die sozialpolitisch korrumpierten Grünen und biedern sich als politischer Partner an, der all das ernst meint, was die Grünen nur vorgeben zu wollen.

Auch beim deutschen Ableger von Jacobin werden die Weichen gestellt auf »progressive Realpolitik«. Dort heißt es, die Grünen seien zwar nicht Lieblingspartner, aber ein notwendiges Übel für »progressive Politik«: »Zur Wahrheit gehört aber auch, dass die arbeitende Klasse nirgendwo in der westlichen Welt hinreichend gut organisiert ist, um eine transformative Politik derzeit aus eigener Kraft zu realisieren.« Sogenannte linke Gesellschaftsentwürfe, heißt es weiter, benötigen daher einen »zumindest zeitweisen Pakt mit dem progressiven Zentrum«. Für diesen »Pakt« mit der Partei der Agenda 2010, des Krieges und des gehobenen Managements werden viele Linke eine Wandlung erfahren, ihren pseudo-radikalen Habitus ablegen und in die Bresche springen für die Arbeiterklasse zur Realisierung ihres »linken Gesellschaftsentwurfs«. Wenn schon nicht im Sinne oder im Interesse der arbeitenden Klasse, dann doch wenigstens in ihrem Namen.

Die Revolte der Eliten

Unter dem oberflächlichen Anstrich sozialistischer Rhetorik erkennt man bei genauem Hinsehen klar und deutlich die Konturen einer kleinen Elite abstiegsgefährdeter Akademiker, die sich nichts sehnlicher wünscht, als dass die Arbeiterklasse ihr zur Hilfe eilt. In dem Maße aber, in dem die Subalternen ihr die Gefolgschaft verweigert, nimmt auch der »Aufstand der Eliten« an Intensität zu. Er richtet sich vor allem »Dunkeldeutschland«, den »basket of deplorables« all jener, die irrtümlicherweise annahmen, das politische System befinde sich ihnen gegenüber in einer Art Bringschuld, ihnen nicht nur materiellen Wohlstand, sondern auch ein Mindestmaß an Würde und Mitspracherecht zu garantieren. Darüber hinaus richtet er sich aber auch gegen die Demokratie selbst: Wenn Rassismus, Sexismus, Menschenfeindlichkeit und autoritäre Gelüste tatsächlich so tief in unserer Gesellschaft verwurzelt ist, wie es insbesondere unter Linken geglaubt wird und wenn die Menschen sich tatsächlich so leicht von bösen Demagogen und dunklen Ideologien beeinflussen lassen, wie es überall in den Medien proklamiert wird, dann lassen sich darauf aufbauend demokratische Prinzipien, oder gar direkte Demokratie, kaum noch rechtfertigen.

In diesem Kontext lohnt es sich erneut auf das Brexit-Referendum zurückzukommen, dessen Rezeption in dieser Hinsicht besonders entlarvend war. Für die liberale Linke hat das Votum verdeutlicht, dass Referenden bei Demagogen beliebt sind, weil solche Formen der demokratischen Partizipation besonders anfällig für Hasskampagnen seien. Und die radikalere Linke sieht in der Forderung nach mehr nationaler Souveränität nicht etwa den Versuch die Rechenschaftspflicht der politischen Elite gegenüber ihren Wählern zu stärken, sondern »das Plädoyer gegen Fremdherrschaft – und für eine Herrschaft durch die ‚eigenen Leute‘«, also im Grunde »nichts anderes als Nationalismus«. Dieses elitäre Welt- und Menschenbild liefert die perfekte Rechtfertigung für eine Klasse von Experten und Manager, der die Mächtigen besten Gewissens die Verantwortung für das Management ihrer Belange anvertrauen kann. Dies ist die Ideologie der Linken.

Nun wird ersichtlich, warum Sahra Wagenknecht nicht in den Reihen der Linken geduldet werden kann. Als Linke hat sie sich zwei der schlimmsten Fehltritte schuldig gemacht, die nur denkbar sind und mit politischer Exkommunikation geahndet werden. Der Erste liegt in ihrem Fokus auf die soziale Frage und ihrem Versuch, aufbauend auf gleichen materiellen Interessen einen gemeinsamen Nenner mit Andersdenkenden zu finden. Sie nimmt die Sorgen und Wünsche der Leute ernst und das macht sich durchaus bemerkbar: Wagenknecht hat 250.000 Abonnenten auf YouTube, 470.000 Follower auf Twitter und 570.000 auf Facebook – mehr als Annalena Baerbock und die AfD zusammen. Im Gegensatz zu manch anderem Politiker gründet sich die Stärke Wagenknechts weniger auf Rückhalt innerhalb der Parteibürokratie, als auf ihrer Popularität im Volk – ein Abstraktum, auf das die Linke nur unbewusst Angst und Wut projiziert. So heißt es bei der radikalen Linke, Wagenknecht müsse sich angesichts des Beifalls von Rechts die Frage stellen, »wieso man eine Kritik so formuliert, dass sie für Rechte überhaupt anschlussfähig ist«. Der Linken liegt offensichtlich nichts ferner als ein Verständnis von Demokratie und Politik, wonach demokratisch gewählte Politiker ausschließlich den Willen und die Interessen einer klar umrissenen Wählerschaft vertreten und nur ihr Rechenschaft schuldig sind. Darin sieht die taz etwa den gefährlichen Versuch, »dem Volk aufs Maul zu schauen und mit dumpfen Stammtischparolen verlorengegangenes Terrain zurückzugewinnen.«

Das zweite Vergehen liegt darin, dass Wagenknecht das Offensichtliche ausbuchstabiert, dass nämlich »Linke« und die berühmte Arbeiterklasse – wenn überhaupt – nur sehr überschaubare Überschneidungen in ihren Interessen haben. Die Linke würde gern glauben machen, sie befinde sich außerhalb der Matrix der Klassengesellschaft und handle ausschließlich aus altruistischen Motiven. Die Wahrheit aber ist, dass die Geschichte aller bisherigen Gesellschaft nicht die Geschichte guter Absichten, sondern von Klassenkämpfen ist – und diese sind geleitet von Klasseninteressen. Wenn sich eine politische Bewegung zum Großteil aus abstiegsgefährdeten Akademikern (und damit aufstrebenden Eliten) speist, dann kann man mit Sicherheit davon ausgehen, dass diese Bewegung von deren Klasseninteresse geleitet wird. Die gesamte linke Ideenwelt – Anti-Rassismus, Anti-Faschismus, Feminismus, die gesamte Palette linker »Gesellschaftsentwürfe« sowie die »sozial-ökologische Transformation« – ist ein Produkt der kleinbürgerlichen Ideenwelt »progressiver« Akademiker und somit Ausdruck ihrer Klasse. Daher die moralische Hysterie und die Wut, die in den zahlreichen Kritiken mitschwingt.

Wenn Wagenknecht Heuchelei vorgeworfen wird, weil sie selbst als promovierte Millionärin angeblich das »Feindbild Student« pflege, dann sollte der Vorwurf ernstgenommen werden, allerdings nicht auf einer semantischen Eben. Der Vorwurf, der erhoben wird, lautet auf Klassenverrat – und er ist berechtigt.

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