Es reicht!

Nazi-Mist Wer fragt, wie es denn sein kann, dass NSU-Terroristen jahrelang unentdeckt Menschen killen können, sollte mal nach Stuttgart schauen -dort könnte er Antworten finden

Bei diesem Beitrag handelt es sich um ein Blog aus der Freitag-Community.
Ihre Freitag-Redaktion

In Berlin lässt sich ein parlamentarischer Untersuchungsausschuss zur Aufarbeitung der NSU-Verbrechen von den ihm unterstellten Behörden seit Monaten am Nasenring durch die Manege ziehen. Es wird zunehmend offensichtlich, dass deutsche Geheimdienste, die eigentlich für Recht, Ordnung, für Sicherheit sorgen, gar die Verfassung schützen sollen, wahrscheinlich selbst teilweise tief verstrickt sind in die Neonazi-Mördereien. „Why?“ -fragen wieder einmal alle, teils mit dramatischer Verve, teils sich die Augen reibend. Nicht sehr überzeugend.

Der wohlfeile Verweis darauf, dass die Nazi-Scheiße immer noch tief in der Mitte der Gesellschaft verankert ist, dort stillschweigend toleriert, gar zum Teil goutiert wird (Sarrazin) ist eben kein genetischer Schaden im deutschen Erbgut, sondern eine historische und offenbar politisch gewollte Kontinuität.

Wenn man also „Warum?“ fragt, sollte man heute nach Stuttgart schauen (bzw.: man müsste schon extrem wegschauen - auch so eine deutsche, gut geübte Übung! - um es nicht zu bemerken): Dass die Stuttgarter Staatsanwaltschaft gestern ein 10-jähriges Ermittlungsverfahren gegen in Deutschland noch lebende, mutmaßliche, in Italien jedoch vor sieben Jahren rechtskräftig verurteilte SS-Mörder eingestellt hat, ist keine Überraschung. Schließlich war hier in Baden-Württemberg auch ein bis zum bitteren Ende tödlicher Nazi-Marinerichter (Filbinger, CDU) lange Jahre Ministerpräsident. Einer seiner Nachfolger brachte es tatsächlich fertig (der heutige EU-Energiekommissar Oettinger, CDU), ihn posthum und vor gar nicht allzu langer Zeit zu einem antifaschistischen Widerstandskämpfer umzudeuten.

Oder, anderes Beispiel, die für kommendes Wochenende in Stuttgart anstehende OB-Wahl: Der CDU/FDP-Kandidat Sebastian Turner, Werbe-Profi, wirbt auf seinen Wahlplakaten für „Rommel'sche Weltoffenheit“. Unklar ist, ob er damit bei einem Teil seiner Wählerschaft eher Ansprüche auf Deutsch-Südwest und Sehnsüchte nach Nordafrikas deutschen Wüstenfüchsen evozieren möchte. Und es ist anzunehmen, dass genau dies auch unklar bleiben soll. Fakt ist, dass man in Deutschland 2012 mit solchen Unklarheiten politisch werben kann.

In Stuttgart werden derweil Krokodilstränen vergossen. Der derzeitige Baden-Württembergische Justizminister Rainer Stickelberger, SPD(!) zur Einstellung des Verfahrens: "Ich bin mir bewusst, dass dies besonders für die Angehörigen der Opfer dieses Kriegsverbrechens eine große Belastung ist." Und sein Vorgesetzter, der Baden-Württembergische Regierungschef Winfried Kretschmann (B90/Grüne!!), ein stillschweigender Kohl-Fan, sitzt das Ganze -schweigend- aus. Bislang.

Dabei sind beide Politiker, seit sie seit 2011 im Amt sind, dezidiert auf diese Machenschaften und Unterlassungen der Stuttgarter Staatsanwaltschaft hingewiesen worden. Als der Druck größer wurde, ließ JM Stickelberger zwar mal kontrollieren: die Staatsanwaltschaft sich selbst. Deren General, Klaus Pflieger (das ist der, der seinerzeit Michael Buback wegen Verena Becker und dessen Mordverdacht an seinem Vater Siegfried Buback über's Maul fuhr; siehe W. Kraußhaar „Verena Becker und der Verfassungsschutz“) meldete daraufhin, dass die Stuttgarter Staatsanwaltschaft super sei und astrein arbeite.

Diese Dinge führen direkt zur Abteilung I der Stuttgarter Staatsanwaltschaft für politisch motivierte Straftaten und deren Chef, Oberstaatsanwalt Bernhard Häußler. Zweifelhafte Bekanntheit über Stuttgart und B/W hinaus erlangte er bereits, als er 2006 dafür sorgte, dass ein Internethändler aus Winnenden bei Stuttgart dafür verknackt wurde, dass er durchgestrichene Hakenkreuze, ein bekanntes antifaschistisches Symbol, vertrieb. Auf Grund der teilweise faktischen, selbst auferlegten Nachrichtensperre der großen Medien rund um das Projekt Stuttgart 21 ist nicht ganz so bekannt, dass eben jener Staatsanwalt lange Zeit die Ermittlungen im EnBW-Skandal gegen den früheren CDU-Regierungschef Stefan Mappus behinderte. Und dass es auch eben jener Staatsanwalt war, der eine fundierte Betrugsanzeige zum Zustandekommen der Finanzierungsverträge von S21 im Sommer 2011 einfach als unbegründet vom Tisch wischte. Dass dieser OStA es sich nicht nehmen ließ, persönlich am 30.9. 2012 im Stuttgarter Schlossgarten vor Ort zu sein, als Wasserwerfer die Demonstranten von der Straße spritzten, er den dabei als „Prügelglatze“ bundesweit bekannt gewordenen Beamten juristisch deckte (und welcher -witziger- und zufälligerweise- der Böblinger Einheit der in Heilbronn ermordeten Polizistin Michèle Kiesewetter angehört - und vll. sogar dem Ku-Klux-Klan...) und gerne auch auf Gerichtsverhandlungen gegen S21-Kritiker, die wegen Bagatellen vor den Kadi gezerrt wurden, auftaucht, um notfalls dafür zu sorgen, dass diese drakonisch bestraft werden, nimmt da nicht weiter Wunder. Letzte Nummer aus dem Hause Häußler: Die skandalöse Durchsuchung der Privatwohnung eines S21-Kritikers und ehemaligen Richters am Landgericht Stuttgart im vergangenen Sommer.

Wer also heute angesichts des äußerst vitalen, vielfarbigen Nazi-Krams und angesichts von Mordopfern theatralisch „Why?“ kreischt, Zivilcourage einfordert und die Unkultur des Wegsehens geißelt, sollte mal den starren Blick von ostdeutschen Glatzen und von der Verfassungsschutzdependance NPD heben und nach Stuttgart lenken. Dieser braune Dreck mitten in der Gesellschaft hat historische Kontinuität, weil er politisch opportun ist, weil er System hat, System ist - zumindest duldet man ihn stillschweigend. Erschütternd, dass es dazu heute nicht einmal mehr der „üblichen Verdächtigen“, des sogenannten Schwarzen CDU-Filzes bedarf – Grün-Rot mit einem grünen Ministerpräsidenten Winfried Kretschmann setzt diese schauerliche Tradition nahtlos fort

  • Update 3. Oktober 2012:

"[...]Es ist eine Schande für Deutschland, dass nach so vielen Jahren immer noch Tatsachen unter den Teppich gekehrt werden, um ein Gerichtsverfahren gegen SS-Männer zu verhindern, die in Italien schon einmal wegen Mordes zu lebenslänglicher Haft verurteilt wurden. Ich fordere den Justizminister in Baden-Württemberg auf, durch Ausübung seines Weisungsrechts dafür zu sorgen, dass unsere Beschwerde umgehend bearbeitet wird, denn die Beschuldigten wie die Überlebenden werden nicht mehr sehr lange leben. Der damalige Kompanieführer Sommer beispielsweise, den mehrere Einheitsangehörige als den Befehlsgeber der Erschießungen erinnert haben, ist 91 Jahre alt. Es ist bekannt, dass er noch fit ist. Einer der beiden Maschinengewehrführer, der in Baden-Württemberg lebte, ist mittlerweile gestorben. Er hatte seine Tat gestanden und war eine wichtige Aussageperson – auch zur Rolle des Offiziers, der den Schießbefehl erteilt hat.[...]"

Gabriele Heinecke, Opferanwältin, gegenüber Kontext:Wochenzeitung

Rückblick:

SZ vom 16. Mai 2009 " 'Da müsste man hinterhechten' " (zu den schleppenden Stuttgarter Ermittlungen wg. SS-Verbrechen in Sant'Anna di Stazzema)

StZ vom 11. September 2011 "Keine Ermittlungen gegen die Bahn"

Focus vom 18. Dezember 2011 " Polizeiprügel bei Stuttgart-21-Protest: 'Angriff durch Herumstehen' "

Freitag vom 1. Oktober 2012 "Staatsanwaltschaft lässt SS-Mörder laufen"

Aktuell

Kontext:Wochenzeitung vom 3. Oktober 2012 "Reine Rache" (Interview mit Gabriele Heinecke, Opferanwältin)

Großen Dank auch an den unermüdlichen seriousguy47
Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden