I. Akt - Choral der fadenscheinig jammernden Lappen
In den Zeiten Abnehmender Wahlbeteiligungen singen sie wieder: Medien, Berufspolitik, deren Auguren, die Demoskopen. Singen ihren recht einstimmigen, gleichwohl schiefen Kanon von der „Politikverdrossenheit der Bürger“.
Dieser Einheits-Bocksgesang jener sogenannten Eliten (die man treffender und verständlicher wohl als „äußerst Privilegierte“ bezeichnen sollte) muss den Rest der Öffentlichkeit dahingehend täuschen, dass es - vereinfacht ausgedrückt - angesichts einer allumfassend verlautbarten und auch praktizierten T.I.N.A.-Politik* realiter leider-leider nichts zu wählen gibt. - Der Brave Bürger soll doch so aber wenigstens seine Stimme abgeben (sic!), auf dass das Bestehende, das Gute Alte (oder wenigstens die immer gleiche & immer falsche und immer noch ein bisschen schlechtere Variation dessen) legitimiert wird... usw.
II. Akt - Die Schwäbischen Weber
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Nicht Die Sieben Schwaben: Mitmachen Ohne Mitzuspielen - Sechse kommen durch die ganze Welt... (Foto: Petra Weiberg)
Mitmachen ohne Mitzuspielen nennt sich eine Initiative von Bürgerinnen und Bürgern, die aus dem Umfeld des Widerstands gegen das Projekt Stuttgart 21 hervorgegangen ist. Sie haben ihre Erlebnisse und Erfahrungen, ihre Ernüchterung vor allem nach der Baden-Württembergischen Landtagswahl 2011 (welche die fast 60-jährige CDU-Herrschaft im "Ländle" beendete und die erste Grün-Rote Landesregierung bundesweit ins Amt brachte) reflektiert und versucht, zu verarbeiten: Der Kurt Tucholsky zugeschriebene, sinnige Kalauer, dass Wahlen verboten wären, wenn sie etwas änderten, hat für sie inzwischen eine konkrete, höchst alarmierende Bedeutung.
Die hieraus zunächst gewachsene Idee ist einfach und bestechend: Aktiven Nichtwählern soll bei Wahlen eine sicht- und hörbare Stimme gegeben werden. Jenen also, die liebend gerne wählen würden, gäbe es denn aus ihrer Sicht eine echte, vulgo: demokratische Wahl jenseits der Möglichkeit zwischen den sprichwörtlichen „größeren und kleineren Übeln“.
Erklärtes Ziel ist, ein möglichst unübersehbares Zeichen zu setzen, dass diese Stimmen nicht ungültig im Sinne des gesellschaftlichen Diskurses sind, sondern diese Menschen sehr wohl etwas politisch äußerst Relevantes mitzuteilen haben: Hier werden nicht die Kandidaten (irgend)einer Wahl in Zweifel gezogen – das System selbst steht zur Disposition.
Und so haben die Initiatoren angesichts der in knapp zwei Wochen in Stuttgart statt findenden Oberbürgermeisterwahl** das Konzept der Gläsernen Urne entwickelt: Keinem, der in dieser hochpolitisierten Stadt gerne wählen, also „mitmachen“ möchte, soll dies verwehrt sein, nur weil er etwa keinen der Kandidaten für wählbar hält oder die Wirksamkeit von Wahlen insgesamt anzweifelt – man kann also mitmachen, ohne zwangsläufig im postdemokratischen Zirkus mitspielen zu müssen. Dazu werden von den Initiatoren am Wahltag transparente Wahlurnen in der Stadt aufgestellt, in die die nominellen Nichtwähler ihre (anonymisierten) Wahlbenachrichtigungen einwerfen können. Diese Stimmen werden im Anschluss von den Initiatoren ausgezählt und deren Zahl bekannt gegeben.
III. Akt - Furcht und Elend abseits der Schlachthöfe
Jedoch soll die Gläserne Urne anlässlich der Stuttgarter OB-Wahl erst der Anfang sein, denn: „[...]Stuttgart 21 ist der lokale „Auswuchs einer globalen Fehlentwicklung“ (Stéphane Hessel) wie es das ESM-Konzept auf europäischer Ebene oder die Bankenkrise weltweit ist. Dagegen müssen wir „von unten“ ankämpfen, da es „von oben“, auf der Ebene der Politiker, maximal zu kosmetischen Änderungen reicht.[...]“ So eine der Initiatorinnen von "Mitmachen ohne Mitzuspielen", die Stuttgarterin Ulrike Braun, die auch Autorin der von über 12.000 Menschen unterschriebenen Stuttgarter Erklärung ist.
"Die Bürger müssen die Opposition ersetzen – sonst ändert sich nichts." (Christoph Scheel, "Mitmachen ohne Mitzuspielen")
"[...]Die zunehmende Verflechtung von Lobbyinteressen und Politik pervertiert unser demokratisches System und verformt es bis zur Unkenntlichkeit. Die Folge sind falsche und schädliche politische Entscheidungen, die das Wohl vieler gefährden, um den Gewinn einiger weniger zu maximieren.[...]Wir wollen unsere Interessen selbst in die Hand nehmen. Wir Bürger müssen die Opposition zum etablierten Politikbetrieb sein, der ausschließlich von Partikularinteressen gesteuert wird. Wir werden so lange dagegenhalten und uns einmischen, bis die politischen Strukturen endlich eine Politik zugunsten des Gemeinwohls zulassen.[...]" (Webseite "Mitmachen ohne Mitzuspielen"***)
Anmerkungen/Ergänzungen:
- *T.I.N.A. engl. Abk. f.: There is no alternative. (dt.: Es gibt keine Alternative.) Hierzulande besser bekannt als Unwort des Jahres 2010: „alternativlos“
- **OB-Wahl Stuttgart: Das Amt des Stuttgarter OBs ist eines der mächtigsten, sakrosanktesten in dieser Republik – ein Stuttgarter OB könnte sich de jure jeden Monat ein Love-Parade-Desaster leisten, ohne je befürchten zu müssen, davon gejagt zu werden; auch wenn man das nicht glauben mag. (Details)
- ***Beispiel (ausführlich) für eine andere Art der Radio-Aktivität:
Kommentare 8
Prima Artikel, Danke!
Nur mit Stift und Lineal / gehen wir ins Wahllokal! - Das war der Slogan bei meiner letzten prä-demokratischen Wahl. Am dann verkündeten Wahlergebnis hat die signifikant hohe Anzahl der Befolger aber auch nichts geändert.
Ich persönlich fremdele nach wie vor mit Formulierungen wie 'unsere Demokratie' und das entsprechende 'wir'.
Gute Aktion zur Bewusstseinsbildung, die man ausbreiten sollte, ja.
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@goedzak:
>>Ich persönlich fremdele nach wie vor mit Formulierungen wie 'unsere Demokratie' und das entsprechende 'wir'.<<
"Wir" und "unsere Demokratie", von Lohnschreibern der Herrschenden geschrieben, müssen wir ja nicht ernstnehmen. Wie das gemeint wird, ist bekannt: "Was ist ist gut und alternativlos".Unsere Demokratie haben wir noch nicht. Wir können sie schaffen, nur geht das eben nicht anstrengungslos.
Sehr gute Initiative. Einziger Mangel: Die Beschränkung auf das eigene Dorf. Auch im Rhein-Main-Gebiet gibt es massenhaften Widerstand gegen den Ausbau des Frankfurter Flugplatzes und den dadurch enstehenden Lärmterror. Im Rheintal gibt es Protest gegen den Lärmterror der Bahn. In Berlin gibt es Protest gegen Fluglärm. Undsoweiterundsofort. Wann schließen sich all diese Bewegungen zu einem einheitlichen Widerstand zusammen? Wann wird endlich der Blick über den eigenen Tellerrand gewagt? Erst dann macht diese Kampagne Wahlen und Politiker zu boykotieren wirklich Sinn.
An die Zeit dieses Slogans erinnere ich mich noch gut ;-)
Das "Wir Ge-Unse" ist sicherlich eher der Versuch, so etwas wie die gemeinsamen Interessen zum Ausdruck bringen zu wollen, klingt aber, wenn es wie eine Monstranz vor sich hergetragen wird, immer ein bisschen wie ein vorauseilender, verordneter, vereinsmeiernder Konsens. Vielleicht sollte man mal versuchen diese gemeinsamen Interessen expliziter zu formulieren. Der (wünschenswerte) Rest diesbezüglich ergibt sich dann möglicherweise von selbst.
Gerne. -Das Klöppeln juristischer Spitzfindigkeiten wäre indes ein Indiz dafür, dass man im schier Unsichtbaren einen wunden Punkt getroffen hat.
Unsere Demokratie haben wir noch nicht.
Ja, so sehe ich das auch. - Außerdem aber: Das entsprechende 'wir' gibt es so auch noch nicht.
Vielleicht sollte man mal versuchen diese gemeinsamen Interessen expliziter zu formulieren.
So ist es. Bei dem Versuch wird man aber auch mglw. divergentes entdecken.
Bei dem Versuch wird man aber auch mglw. divergentes entdecken.
Eben. Und das muss man als Reichtum begreifen l e r n e n - statt immer gleich & aus haarsträubender Unkenntnis eine Spaltpilzvergiftung zu mutmaßen. Und anschließend die Leute in das GULAG zu schicken, wo der Pfeffer wächst.